Kleo auf Netflix – Spaß muss sein, auch in der Geschichte. Serientipp von Helmut Schneider.

Spaß muss sein, auch in der Geschichte

Kleo auf Netflix – Spaß muss sein, auch in der Geschichte. Serientipp von Helmut Schneider.

Umbruchszeiten sind etwas ganz Besonderes in der Geschichte und der Zusammenbruch des Ostblocks war zweifelsohne die größte der letzten Jahrzehnte. An den Folgen, den vielen Fehlern (etwa den Oligarchenwahnsinn, um nur einen zu nennen), leiden wir leider noch immer. Und sogar dort, wo der Umbruch im Vergleich noch relativ gesittet stattfand wie bei der deutschen Wiedervereinigung sind die Wunden längst noch nicht verheilt.

Die neue Netflix-Serie KLEO spielt sozusagen im Auge des Orkans der deutschen Umbruchszeit, nämlich in Berlin als nach dem Fall der Mauer alles möglich schien. Während die deutschen Industriebonzen großspurig erklärten, sie würden die DDR in ein paar Monaten auf Vordermann bringen können, glaubten einige Ost-Bürger noch, sie könnten aus der alten DDR einen linken, liberalere Vorzeigestaat machen. In diesem Gemenge spielt die neue Serie.

Die ziemlich harmlos ausschauende Titelfigur Kleo (herrlich gespielt von Jella Haase) ist eine ehemalige Killerin des DDR-Apparats in einer Einheit, die es offiziell natürlich gar nicht gibt. Denn ihr Operationsfeld war der Westen. Dort räumte sie feindliche Spione und Überläufer aus dem Weg – in der ersten Szene gleich mit präpariertem Koks. Ihre Karriere nimmt allerdings noch vor dem Mauerfall ein jähes Ende als sie ohne zu wissen warum verhaftet und zu lebenslanger Haft verurteilt wird. Dabei ist sie doch das Enkelkind eines Stasi-Obersten. Als dann die DDR den Geist aufgibt, kommt sie aus dem Gefängnis und beginnt einen Rachefeldzug gegen alle, die für ihren jähen Absturz – im Gefängnis verliert sie auch noch ihr Kind – verantwortlich sind. Wobei das Problem besteht, dass sie bis zum Schluss im Dunkeln tappt. Damit aber nicht genug kommt ihr ein eher tollpatschiger westdeutscher Polizist auf die Spur. Ein Kampf jeder gegen jeden beginnt. Doch bei Kleo handelt es sich eben nicht um eine Action-Serie wie es sie zuhauf gibt, sondern um eine Komödie, bei der man auch auf historische Fakten wenig Rücksicht nimmt. So killt Kleo etwa den Stasi-Minister Erich Mielke obwohl der in Wahrheit viel später im Altenheim gestorben ist.  Im Vorspann wird freilich eingeblendet: „Dies ist eine wahre Geschichte, nichts davon ist wirklich passiert.“

Den Machern der deutschen Serie (Hanno Hackfort, Richard Kropf und Bob Konrad) ging es einfach um den Spaß. Und den hat man schon deshalb, weil man sich an dem nachgebauten 80er/90er-Jahre-Ambiente nicht satt schauen kann und weil dauernd neue – oft absurde – Wendungen in der Story auftauchen. Am lustigsten ist Thilo (Julius Feldmeier), ein verstrahlter, verkiffter Raver mit Topfschnitt, der in Kleos Abwesenheit in ihre alte Wohnung zieht. Hausbesetzung war ja das Ding der Stunde. Und Vincent Redetzki spielt einen schwer an Quentin Tarantino erinnernden Ex-Kollegen und Psychopathen, der mit schief sitzender Brille die Kränkung des kapitalistischen Siegs mit Laibach-Songs verwinden will.

Der Mann, der den perfekten Roman schrieb – Charles J. Shields, „Der Mann, der den perfekten Roman schrieb“

Der Mann, der den perfekten Roman schrieb – Charles J. Shields, „Der Mann, der den perfekten Roman schrieb“

Der Mann, der den perfekten Roman schrieb – zum 100. Geburtstag von John Williams am 29. August

Als der US-Amerikaner John Williams 1994 mit 71 Jahren starb, gab es nur wenige Nachrufe und seine Romane waren kaum erhältlich. Heute gilt er als Musterbeispiel dafür, dass sich literarische Qualität doch durchsetzt. Nur leider nicht immer zu Lebzeiten der Verfasser. John Williams Leben bestand aus vielen kleinen Erfolgen und ebenso vielen Niederlagen. Als bitterarmer Texasjunge aus bäuerlichem Umfeld wurde er immerhin – nach Jahren als Radioreporter und dem Kriegsdienst als Funker auf Militärtransportflugzeugen am Himalaja – Professor für englische Literatur und mit seinem Briefroman „Augustus“ (halber) Gewinner des National Book Awards. Gekauft haben seine wenigen Romane nicht viele Zeitgenossen. Erst über eine Neuauflage seines College-Romans „Stoner“ in der Classic-Reihe der „New York Review of Books“ wurde er nach 2000 wieder bekannter. Allerdings stellte sich der große Erfolg auch wieder erst über Europa ein. Die französische Schriftstellerin Anna Gavalda war von „Stoner“ so begeistert, dass sie ihn übersetzte. Es folgten Ausgaben in Niederländisch, Spanisch, Italienisch und Deutsch. John Williams, der nur 4 Romane veröffentlicht hat – neben den beiden erwähnten auch den Roman „Butcher’s Crossing“ über eine Büffeljagd im 19. Jahrhundert und einen schwer lesbaren Erstling – wurde zum Kultautor.

Charles J. Shields hat Williams Biografie den Titel „Der Mann, der den perfekten Roman schrieb“ gegeben, denn „Stoner“ wurde 2007 in der „New York Times“ tatsächlich als „perfekter Roman“ beschrieben. Dabei ist „Stoner“ in der Nacherzählung wahrscheinlich einer der langweiligsten Romane überhaupt, denn es passiert nichts Spektakuläres. Aber es ist die hohe Kunst Williams, die aus einem durchschnittlichen Leben als Englischprofessor an einer unbedeutenden Universität eine Parabel für den Wert und die Würde eines Menschenlebens gemacht zu haben. In dem Roman – aber auch im Briefroman „Augustus“ – sind Sätze zu lesen, die so gut sind, dass man weinen könnte. In der klugen und ausführlichen Bio, die trotzdem nicht allzu akademisch daherkommt, wird Williams Leben mit dem seiner Romane gegengerechnet. Außerdem erfährt man viel über das Leben von Schriftstellern in den USA nach dem 2. Weltkrieg. Man war viel unter sich, traf sich etwa bei Sommerschreibkursen, wo man gut verdiente, die Alkoholikerquote war geradezu selbstzerstörerisch hoch, viele schwankten zwischen einem sichereren Leben als Lehrer und dem Druck als freier Autor mit der Sorge ständig Kurzgeschichten für Zeitschriften liefern zu müssen.  

Williams hatte sich schon früh damit abgefunden, seinen Lebensunterhalt als Hochschullehrer und Herausgeber einer Universitätszeitschrift zu verdienen, während es sein Schwager, der ebenfalls schrieb, es mit dem billigen Leben in Mexiko – dort kam man mit 100 Dollar im Monat gut über die Runden – versuchte. Alkoholiker und Kettenraucher waren sie natürlich beide. Wichtig bei Williams auch sein Provinzstatus, denn die sogenannte Ostküste sah hochmütig über alles hinweg, was nicht in New York oder Boston geschah – und Williams, geboren in Texas, war die meiste Zeit seines Lebens Professor in Denver, Colorado. Gesundheitlich angeschlagen kaufte er sich ein Haus in Key West in Florida als dort noch nicht gar so viele Touristen waren – allerdings hat ihm das schwüle Klima im Sommer dann doch nicht ganz behagt.

Der 100. Geburtstag sollte zum Anlass genommen werden, die 3 Romane Williams – so noch nicht geschehen – zu lesen. Ich muss gestehen, dass ich alle neuen Leser um diese Premiere beneide.


Charles Shields: „Der Mann, der den perfekten Roman schrieb“
Stoner‘ und das Leben des John Williams
Biografie
Aus dem amerikanischen Englisch von Jochen Stremmel
dtv
384 Seiten
26 €

Der Erfinder des Wutbürgers – Heimito von Doderer, Die Merowinger oder die totale Familie

Als 1962 die „Merowinger“ erschienen, war Heimito von Doderer der bekannteste lebende österreichische Schriftsteller, 1957 sogar eines SPIEGEL-Covers für wichtig befunden. Dabei war der Dichter bis zu seinem 50. Lebensjahr finanziell von seiner Mutter abhängig und erst 1951 mit der Veröffentlichung der „Strudlhofstiege“ einem größeren Leserkreis bekannt geworden.

„Die Merowinger oder Die totale Familie“ ist wahrscheinlich sein ungewöhnlichster Roman, für Doderer-Anfänger eignet er sich sicher nicht. Denn allzu oft scheint es, als ob Doderers Leidenschaften – für Geschichte, für Grobiane und für merkwürdige Zweierbeziehungen – mit ihm durchgegangen wären. Am Ende bekennt „Doctor Döblinger“, der sich im Roman als Verfasser desselben offenbart, einem Bekannten, der meint, das alles sei ein „Mordsblödsinn“: „Ja freilich, freilich Blödsinn!…Wie denn anders?! Und was denn sonst als Blödsinn?! Alles Unsinn –“

Vielleicht liest man die „Merowinger“ also weniger als Roman, denn als Spaß, den sich der Dichter einmal gönnen wollte. Und einige Szenen sind auch wirklich witzig und köstlich zu lesen, während er an anderen Stellen seine Leserschaft mit schlecht gereimten Versen und seitenweise Beschreibungen von Schlachten, Scharmützeln und Erbstreitigkeiten auf die Probe stellt.

Im Zentrum steht Childerich von Bartenbruch, ein mittelfränkischer Baron, der durch eine konsequente Heiratspolitik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – er heiratet sowohl die Witwe seines Vaters als auch die seines Großvaters – sehr reich wird, wobei er sich als Ahnherr des berühmten Geschlechts der Merowinger sieht. Dabei ist der kleine Mann, von Doderer als hässlich wie ein „trauriges Beutelchen“ beschrieben, nur in einer Sache top, nämlich in seiner Zeugungskraft. Nach dem Erlangen des Erbes setzt Childerich alles daran, eine totale Familie zu gründen. Childerich schafft es mittels Heirat und Adoptionen, sein eigener Vater und Großvater zu werden, sondern er wird auch, nach Abschluß der vierten Ehe, sein eigener Schwiegervater und sein eigener Schwiegersohn, der Vater seiner Geschwister, der Großvater seiner Kinder und der Onkel seiner Enkel.

Aber der erfolgreiche Erbe leidet leider an geradezu chronischen Wutanfällen, die er bei dem Psychiater Dr. Horn gegen üppiges Honorar zu kurieren gedenkt. Die gleich am Beginn des Buches beschriebene Therapie bei dem eine Nasenzange, lederbezogene Holzhämmer und ein Wutmarsch eine Rolle spielen und die im Zerschlagen von Porzellan endet, gehört zu den gelungensten Szenen des Romans. Der geschäftstüchtige Psychiater erfindet später noch ein Wuthäuschen, das es ihm ermöglichen soll, ohne viel Aufwand gleich mehrere Patienten zu empfangen.

Wer so viele Verwandte vor den Kopf stößt wie Childerich bekommt natürlich auch viele Feinde, die ihn am Ende mithilfe eines ausgerechnet Pippin – die historischen Merowinger wurden ja von den Karolinger unter Pippin entmachtet – heißenden Majordomus am Ende seiner Manneskraft berauben. Das alles wird, wie beschrieben, sehr barock erzählt. Interessant, dass ja seit einigen Jahren der sogenannte Wutbürger zum Phänomen wurde. Nun solche hat Doderer – wie man sieht – schon Anfang der 60er-Jahre beschrieben, auch wenn Childerich eigentlich ein Wutadeliger ist. Doch das Geschäft mit der Wut betreiben im Roman nicht nur Psychiater, auch andere Hausbewohner von Dr. Horn kommen auf die Idee, Wutbehandlungen anzubieten und sogar ein hoher Beamter zieht eine lukrative Nebenbeschäftigung auf, indem er Wutleidende Lederbeutel stechen lässt. Wutbürger gab es also längst vor der Erfindung der sozialen Medien wie wir bei Doderer lernen.

Am 21. September wird Chris Pichler im Café Landtmann beim D-Day für Doderer (19 Uhr) auch eine Szene aus den „Merowingern“ lesen.

Warten auf die Tochter – Keviny Barry, Nachtfähre nach Tanger

Warten auf die Tochter – Kevin Barry, Nachtfähre nach Tanger

Die besten Verbrechergeschichten sind eigentlich Familiengeschichten. Man nehme etwa nur die legendäre TV-Serie „Die Sopranos“, in der wir eine typische italienischstämmige Durchschnittsfamilie in New Jersey erleben, die sich nur durch den speziellen Job Tonys von anderen Familien unterscheidet.

In „Nachtfähre nach Tanger“ erleben wir zwei alt gewordene irische Drogenschmuggler und Dealer Maurice und Charles in einem heruntergekommenen spanischen Küstenort, wo sie auf die Herumtreiberin Dilly warten – die Tochter einer der beiden Gauner. Warum das nicht so ganz sicher ist, wer der Vater ist, wird von Kevin Barry auf 200 Seiten dicht und poetisch erzählt. Die beiden erinnern sich an ihre Anfangszeit als Dealer, an die gemeinsame Kindheit, ihre Erfolge und Niederlage und ihre Liebe zu Cynthia. Maurice, der mit Cynthia verheiratet war, hatte seinen Freund ein Messer ins Knie gerammt als er erfuhr, dass Charles ihr Liebhaber war. Aber das ist längst verziehen und Cynthia einem Krebsleiden erlegen. Dazwischen liegen Jahre in Drogenabhängigkeit und in dem verzweifelten Versuch, sich eine bürgerliche Existenz als Hausvermieter aufzubauen. Ob sie die erhoffte Dilly tatsächlich treffen, sei hier nicht verraten – ein bisschen Spannung muss sein.

Der in Limerick geborene Kevin Barry beschreibt abwechselnd das Warten der alten Herren und ihre Lebensgeschichte. Seine Sprache ist dabei – wie die Übersetzung von Thomas Überhoff gut wiedergibt, hart und direkt. Der Autor macht da keine Gefangenen, schließlich stecken wir im Verbrechermilieu fest – Gefängnisaufenthalte inklusive. Ein exquisites, literarisches Lesevergnügen.


Warten auf die Tochter – Keviny Barry, Nachtfähre nach Tanger

Kevin Barry: Nachtfähre nach Tanger
Aus dem Englischen von Thomas Überhoff
Rowohlt Verlag
206 Seiten
€ 22,70

Wie in den 80er-Jahren alles begann – Jörg Fausers Romanfragment „Die Tournee“ aus dem Nachlass. Ein Buchtipp Von Helmut Schneider.

Wie in den 80er-Jahren alles begann – Jörg Fauser, Die Tournee

Wie in den 80er-Jahren alles begann – Jörg Fausers Romanfragment „Die Tournee“ aus dem Nachlass. Ein Buchtipp Von Helmut Schneider.

So richtig bekannt wurde Jörg Fauser leider erst nach seinem tragischen Tod 1987 mit 43 Jahren als Fußgänger nachts auf einer Münchner Autobahn. Ein großes Publikum erreichte er aber nie. Legendär wurde sein Auftritt beim Bachmann-Wettlesen in Klagenfurt 1984, wo die damals schon alten Großkritiker Marcel Reich-Ranicki und Walter Jens über ihn herzogen, während er – völlig stoisch bleibend die Kritik an sich abprallen ließ.

Dabei verfügte der 1944 geborene Schriftsteller und Journalist von Beginn an über einen literarischen Stil, der auch jetzt noch Bewunderung hervorruft. Mit scheinbar leichter Hand schaffte er Stimmungen und Personen, seine Dialoge lesen sich nie gekünstelt und in seinen Texten entsteht unmittelbar die Atmosphäre der geschilderten Zeit. Der Diogenes Verlag bringt seit einigen Jahren regelmäßig seine Werke wie die Romane „Rohstoff“, „Der Schneemann“ oder seine Reportagen – „Der Klub, in dem wir alle spielen“ – heraus.

Jetzt erschien mit „Die Tournee“ das letzte Werk, an dem Fauser bis zu seinem Tod arbeitete. Fertig wurde nur der erste Teil von insgesamt drei Teilen des Romans, in dem es um eine alternde Diva, die aus Geldmangel in einem Boulevardstück durch die deutsche Provinz ziehen muss, einen geplatzten Drogendeal in der Münchner Kunst-Szene, einen zwielichtigen Gauner, der aus Asien nach Deutschland flüchten musste und einen alten SPD-Funktionär mit Osterfahrung, der das Ende seiner nie stattgefundenen Karriere erleben muss, geht. Warum man das lesen sollte, obwohl die Geschichte abbricht noch ehe sie richtig angefangen hat? Weil Fauser mit diesem Fragment sozusagen die Stimmung der 80er-Jahre – die Schikimicki-Tage in München und den nicht nur politischen Stillstand in Berlin vor der Wende eingefangen hat. Was sind das auch für Figuren, die Fauser da entwirft. Etwa den durch die Trennung zu seiner Frau zum Galeristen gewordenen Guido Franck, der für seine abgesandelte Kunsthandlung ausgerechnet mittels Heroinhandel Geld beschaffen will. Durch seine Jahre in Istanbul in der einschlägigen Szene glaubt Guido, ein Auskenner zu sein. Die Jahre in Istanbul verbinden Franck auch mit seinem Autor. Fauser lebte selbst einige Zeit am Bosporus und war jahrelang drogenabhängig bis er 1972 den Ausstieg schaffte.

Im Anhang des Buches finden sich interessante Details zur Entstehung des Romans. Fauser war Redakteur beim legendären, von Enzensberger gegründeten, Magazin „Transatlantik“ und schrieb dort etwa eine Reportage über eine Theatertournee als er schon wusste, dass er den Stoff für seinen Roman brauchen würde. Belegt ist auch, dass Fauser sehr gut recherchierte – was ihn von vielen seiner Kollegen auch heute noch unterscheidet. Um die Szene beim Kirchentag in Frankfurt zu beschreiben, wo der Gauner als Pfarrer untertauchen muss, stieg er im Hotel ab, das er dann im Buch beschrieb. Die im Band abgedruckte Reportage über die Theatertournee zeigt auch ganz deutlich seine journalistischen Vorbilder – nämlich Gay Telese, der etwa mit seiner berühmten Story „Frank Sinatra ist erkältet“ einen neuen subjektiven, erzählenden Journalismus begründete. Schön auch das Zitat von Heinrich Heine, das Fauser seinem Roman voranstellt:

„Das ist schön bei uns Deutschen;

keiner ist so verrückt, dass er nicht

Noch einen Verrückteren fände,

der ihn versteht.“ (Harzreise)


Wie in den 80er-Jahren alles begann – Jörg Fausers Romanfragment „Die Tournee“ aus dem Nachlass. Ein Buchtipp Von Helmut Schneider.

Jörg Fauser: Die Tournee
Roman aus dem Nachlass
Diogenes
290 Seiten
€ 24,70

Weg mit den Lügen! – In der TV-Serie „The Sandman“ (Netflix) wird das zur Katastrophe

Weg mit den Lügen – Serientipp

Weg mit den Lügen! – In der TV-Serie „The Sandman“ (Netflix) wird das zur Katastrophe
Foto: Netflix

Die Comic-Verfilmung von „The Sandman“ soll eine der teuersten Produktionen von Netflix sein. Nun, die 2000-Seiten-Vorlage von Neil Gaiman gilt ja auch als sehr komplex. In den ersten Folgen der Staffel stellt sich freilich nicht wirklich ein Aha-Moment ein. Sicher, die Schauspieler sind exzellent und die Tricks auf dem neuesten Stand, einiges – wie die Szene mit dem Brüderpaar Kain und Abel – auch recht witzig, aber doch denkt man bald: alles schon gesehen. Aber dann kommt eben doch eine Folge, die einen umhaut, obwohl gar keine special effects aufgefahren werden, sondern „bloß“ höchste Schauspielkunst, eine grandiose Kameraführung und beste Regie. Vierzig Minuten in einem Diner werden zur Hölle.

John Dee, der Sohn des Mannes, der den Sandmann Jahre gefangen hielt, ist gerade im Besitz jenes magischen Rubins, der zu den Tributen des Traumkönigs gehört. Und dieser kann Wünsche erfüllen. Dee, gespielt von David Dewlis, der schon in der dritten Folge von Fargo höchst eindrucksvoll den Widerling gab, hat einen – auf den ersten Blick – sehr simplen Wunsch, nämlich die Menschen sollten nur noch die Wahrheit sagen dürfen, also das, was sie wirklich denken. Und das hat dann im Diner, wo Dee das ausprobiert, ganz fürchterliche Folgen. Wir sehen zuerst wie sich die Figuren – die Kellnerin, die eigentlich Romane schreiben will, der Koch mit dem sie liiert ist, obwohl sie beide damit nur gegen ihre Einsamkeit ankämpfen, und der junge Mann, der sich bei der CEO, die gerade mit ihrem jungen Ehemann im Diner ist, bewerben will – sehr zivilisiert unterhalten. Durch die Macht des Rubins tun sich aber schnell menschliche Abgründe auf – die Szene endet in einem Massaker und Dee kann sich nur trösten, indem er aus einem riesigen Kübel Eis löffelt. Wer hätte gedacht, dass die Wahrheit eine so destruktive Kraft entfalten kann?

Nun, in der Literatur ist das natürlich ein altes und großes Thema. Nur ein Beispiel: Javier Marias‘ Meisterroman „Mein Herz so weiß“ beginnt mit dem Satz: „Ich wollte es nicht wissen, aber ich habe erfahren…“. Aber wer nicht lesen will, dem bietet die Diner-Szene in „The Sandman“ grandiose Anschauung.


INFO

netflix.at

Schubert Mengen – Kolumne von Otto Brusatti

Schubert Mengen – von Otto Brusatti

Schubert Mengen – Kolumne von Otto Brusatti
Illustration: Berenice Darrer

Die Frage hat man schon so oft gestellt und sie quasi verzeihend-lächelnd zurückgenommen. Allein – wie schafften das die Großmeister überhaupt? Jene Komponisten, die nun Riesenbüsten in Konzertsälen haben oder starre Steinabbilder in Parks, die Straßennamen oder Festspielzyklen gewidmet bekamen! Schubert ist einer davon. Aber Vorsicht. Ein Nachrechnen, vor allem bei ihm, ebenso wie beim Händel oder Telemann, beim Haydn, Mozart, Beethoven oder Schumann wird nicht nur verblüffen, sondern gar verstören.

Werkverzeichnisse, also die Großabstraktion, täuschen auch. So verbergen sich etwa im Bach- oder im Köchelverzeichnis viele tausend Minuten an oft vielstimmigster Musik in Hinweisen, zusammenfassend und faktentreu, auf Millionen von Takten oder Noten.

Rund herausgesagt. Es ist nicht nachvollziehbar, wie dieser Franz Schubert seine rund 1.000 Kompositionen in etwa 18 Jahren geschrieben hat, selbst wenn im Genialen konzipiert. Unter diesen sind zudem Sammlungen oder Zyklen, sind mehr als ein Dutzend an Opernarbeiten, manche (obwohl kaum zu prägenden Hauptwerken geworden) beinahe im Umfang wie beim frühen Wagner. Aber – über 600 Lieder, Kammermusik, Sonaten, Symphonien, Messen, Chöre …

Allein um heute sein Werk bloß zu kopieren (vom Skizzieren, das er sowieso vergleichsweise geringhielt, nicht zu reden), bräuchte ein Notenprofi Jahre. Und es gibt bei Schubert fast keinen einzigen Schreibfehler. Aber er formulierte die Vokalmusik neu und gültig bis heute, er war perfekt in den Formen. Tja, er schloss schon mit 31 Jahren das Komponieren todesbedingt ab. Beethoven war zu dieser Lebenszeit erst am Durchbruch, selbst Mozart hatte in dem Alter noch ein Drittel seines Hauptwerkes vor sich.

Ein Exemplum bloß für den Kompositionsfuror, welchen dieser gern als gemütliches Schwammerl Tradierte aus sich herausließ; in Wien, in Untermiete, mit wenigen sozialen Kontakten lebend; aus den letzten Monaten, nur aufgezählt in Hauptwerken, die zum Größten der Kunst auf dieser Welt überhaupt zählen. Letztes Schaffensjahr: mehrere Riesensonaten, die Symphonie in C, Winterreise, ein Dutzend an Klaviergroßmusiken, Geistliches, das Streichquintett … (allein aus solchen Werken zusammengezählt, die Weltkulturerbe wurden: beinahe 17.000 Takte). Verstörend beinahe.


David Mitchells „Utopia Avenue“ über die Beatles- und Stones-Area. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.

Die Band, die es leider nie gab – David Mitchell, Utopia Avenue

David Mitchells „Utopia Avenue“ über die Beatles- und Stones-Area. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.

Kann es sein, dass man zum Fan einer Band werden soll, die es nie gegeben hat? Der Brite David Mitchell – seit seinem von Tom Tykwer verfilmten Bestseller „Der Wolkenatlas“ in der Liga der Autoren, die weltweit beachtet werden – entwirft in seinem neuen 750-Seiten-Wälzer eine alternative Pop-Historie mit ebendiesem Ziel. Denn natürlich will man spätestens am Ende gerne die Songs der vier sympathischen Mitglieder seiner fiktiven Londoner Band „Utopia Avenue“ tatsächlich hören. Dass Mitchell seine Band nach nur zwei Alben unter dramatischen Umständen wieder auflöst, ist da nur ein schwacher Trost. Viel zu viel Emotion hat man als Leser da bereits in die Folk-Sängerin Elf, den Blues-Bassisten Dean, den Jazz-Drummer Griff und den Gitarrengott Jasper investiert als dass man nicht zumindest nach Musik-Alternativen im Netz (eine jazzige Rockband mit einer Folksängerin?) suchen würde. Das ist gleichzeitig die Stärke und die Schwäche dieses Romans, der freilich zumindest auf jeder Seite zu unterhalten vermag.

Das liegt vor allem daran, dass Mitchell jedem seiner Hauptpersonen genügend Raum für Entwicklung gibt. Da ist etwa der unter schwierigen sozialen Verhältnissen bei seinem Alkoholiker-Vater aufgewachsene Bassist Dean, der als einziger der Band anfällig für den Lohn des Erfolgs ist und vor allem weiblichen Versuchungen nicht widerstehen kann. Da ist die an die Ideale der Zeit glaubende Elf, die auch dann nicht an das Böse im Menschen glauben will als sie mit einem Bösen liiert ist und da ist vor allem der Niederländer Jasper de Zoet, der als illegitimer Sohn einer reichen Familie an schweren psychischen Problemen leidet. Denn in Jasper lebt sozusagen ein anderer, der sich mit Klopfzeichen bemerkbar macht und ihn in den Wahnsinn zu treiben versucht. Mitchell spielt dabei mit seinen Fans, denn zur Auflösung dieser Geschichte verweist er auf seinen früheren Japan-Roman „Die tausend Herbste des Jacob de Zoet“, in dem ein vampirhafter Mönch sein blutiges Unwesen treibt. Es ist nicht die einzige Reverenz des 1969 in Southport geborenen und inzwischen in Irland lebenden Autors an frühere Werke, Mitchell schafft sich einen eigenen selbstreferenziellen Hintergrund – glücklicherweise muss man als Leser aber nicht all das kennen, um „Utopia Avenue“ zu verstehen.

Was Mitchell in diesem Roman auch gut hinbekommt ist popkulturelles Namedropping. Die Band und ihr schwuler kanadischer Manager treffen so gut wie alle umstrittenen Helden der 60er-Jahre – von John Lennon, Jimmie Hendrix, Leonard Cohen und David Bowie bis zu Joan Baez, Francis Bacon und den später erst entlarvten Vergewaltiger und einflussreichen DJ Jimmy Savile. Und natürlich gibt es auch gut recherchierte Szenen aus dem damaligen noch voll analogen Alltag. Mit Dean erleben wir gleich am Anfang das harte Los von Musikern, die noch ihre Gitarre abstottern müssen, während sie in miesen Zimmern wohnen, in denen die Vermieterin ausdrücklich Iren und Schwarze nicht reinlässt. Und die durchaus nicht ungefährlichen Auftritte in der englischen Provinz – als die Band noch völlig unbekannt ist –bleiben auch im Gedächtnis.

Nun, wer die Sixties mag, wird in „Utopia Avenue“ wirklich gut bedient – von den Partys der Reichen und Schönen über das Chelsea Hotel bis zu Kalifornien kommt wirklich ein Gutteil aller Ikonen vor. Doch die Frage, warum mir der Autor dies alles erzählt, kann ich nicht befriedigend beantworten. Die utopische Geschichte von Jaspers Psychose ist dafür zu schwach und zu wenig ausgeführt. Immerhin gibt es am Ende zur Draufgabe auch noch eine tragisch-komische Überraschung in San Francisco.


David Mitchells „Utopia Avenue“ über die Beatles- und Stones-Area. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.

David Mitchell: Utopia Avenue
Aus dem Englischen von Volker Oldenburg
Rowohlt Verlag
752 Seiten
€ 26,95

Nachbarschaft einmal anders – Dominik Barta, Tür an Tür

Dominik Bartas Wien-Roman „Tür an Tür“. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.

Als der Erzähler Kurt die Genossenschaftswohnung seiner Tante in der Laimgrubengasse übernimmt, nachdem diese wieder ins Burgenland ziehen wollte, ahn er noch nicht, dass aus seiner Nachbarschaft eine Gemeinschaft werden sollte. Er leidet bloß unter der Husterei seines älteren Nachbarn Drechsler. Hat er mit diesem aber erst einmal geplaudert, geht es Schlag auf Schlag. Er lernt die Biologin Regina kennen und bald schon zieht sein Jugendfreund nach Differenzen mit seiner Freundin bei ihm ein. Kurt ist Lehrer und schwul – und so verliebt er sich ausgerechnet in einen kurdischen Schüler und die politischen Verwicklungen nehmen seinen Lauf.

Was Dominik Barta da in seinem zweiten Roman erzählt ist nicht unspannend, wenngleich vieles etwas konstruiert wirkt. Dazu kommen sprachliche Schwächen – es sind mehr Monologe als Dialoge, die er seinen Leserinnen und Lesern vorsetzt. Die Probleme eines schwulen Lehrers, der sich zwar längst geoutet hat, aber gleichzeitig vor sexuellen Begegnungen davonzulaufen scheint, werden etwas zu breit ausgewalzt. Dass Reginas Forschungsfeld ausgerechnet die Biologie des sexuellen Begehrens umfasst, wird vom Autor dann freilich nicht für seine Geschichte genützt. Und so liest sich „Tür an Tür“ ganz amüsant, warum der 1982 in Oberösterreich geborene Dominik Barta uns das alles erzählen muss, ist mir am Ende aber nicht wirklich klar.


Dominik Barta: Tür an Tür
Zsolnay
208 Seiten
€ 23,70

Erinnerung an eine Begegnung in New York – Zum Tod des Künstlers Claes Oldenburg

Am Dienstag wurde bekannt, dass der weltberühmte Pop-Art-Künstler Claes Oldenburg im 93. Lebensjahr verstorben ist. Mit seinen riesigen Skulpturen von Alltagsgegenständen wie Telefone, Werkzeuge oder Krawatten, die oft in der Landschaft aufgestellt wurden, veränderte er unseren Blick auf die Kunst und unsere Welt.
Bild: ©Claes Oldenburg

2011 lud das mumok zur Vorbereitung ihrer großen Oldenburg-Schau „The Sixties“ Journalistinnen und Journalisten zu einem Besuch bei Oldenburg in seinem Haus in New York ein. Wir erlebten einen sehr entspannten und sympathischen Künstler ohne Starallüren, der uns geduldig sein Atelier und seine große Sammlung an kleinen Gegenständen – sein never ending project Mouse Museum – zeigte. Zur Eröffnung seiner Ausstellung kam Oldenburg dann 2012 auch nach Wien. Zur Erinnerung an einen ganz Großen der Kunstwelt können Sie hier den wienlive-Artikel im Jänner 2012 lesen:

Die US-Kunstikone Claes Oldenburg kommt für seine sensationelle Schau im Mumok („The Sixties“) nach Wien. Wien live besuchte ihn in seinem Atelier in Soho, New York

Am Anfang war die Maus. Claes Oldenburg (Claes spricht man übrigens wie Class, wie etwa in First Class, aus), Jahrgang 1929, geborener Schwede, hat tausende von ihnen gemacht. Große und kleine, gezeichnete und dreidimensionale. Denn, was der hauptsächlich in Chicago („Ich verkaufte dort sogar Süßigkeiten am Bahnhof …“) aufgewachsene Sohn eines Diplomaten machen wollte, ließ sich am besten durch den Disney-Klassiker demonstrieren. Oldenburgs Idee in den frühen 60er-Jahren war es nämlich, Dinge unserer Alltagswelt in eine andere Form, in einen anderen Zustand zu transformieren. Da werden ein Telefon, ein Mixer oder eine Klomuschel plötzlich riesengroß und scheinbar weich. Und ein gigantisches Tortenstück wirkt hart und ungenießbar. Oldenburgs Mäuse sind auch keine Comic-Variationen, sondern differenzierte Interpretationen des Künstlers. Sozusagen das Substrat der Maus, eine „intellektuelle Maus“, wie der Künstler erklärt. Die Menschen reagieren darauf mit Beunruhigung. Auch heute noch.

Am Anfang der Ausstellung war freilich Oldenburgs Mouse-Museum. Denn dieses begehbare Mini-Museum in einer von der Mickey Mouse inspirierten geometrischen Form, gefüllt mit vom Künstler gesammelten witzigen kleinen Dingen, ist im Besitz des Wiener Mumok. Und aus diesem glücklichen Umstand – das Sammlerehepaar Ludwig hatte das Objekt sehr früh erworben – entwickelte Mumok-Kurator Achim Hochdörfer mit viel Geduld und Gespür in Wien eine Ausstellung, die nach der Premiere im Mumok in die Mekkas der internationalen Kunstwelt weiterreisen wird. Eine Sensation, denn sonst ist Wien ja zugegebenermaßen nicht der Nabel der modernen Kunst, und man ist froh, wenn man von internationalen Großausstellungen noch einen Zipfel erwischt.

Hochdörfer ist zigmal nach New York geflogen, um den Künstler zu überzeugen und jedes Detail der Schau, jede Abbildung im Katalog, zu besprechen. Oldenburg ist – auch wenn er im persönlichen Gespräch so bescheiden wirkt – ein Superstar, einer der wenigen noch lebenden Künstler jener Epoche, die man unter dem sicher etwas ungenauen Titel Pop Art zusammenfasst.

Ein Haus in Soho.

Das Atelier von Claes Oldenburg in Soho wirkt in seiner Nüchternheit eher wie das Atelier eines Architekten als das eines Künstlers. Die Mäuse und andere kleinere Kunstobjekte sind in wohldesignten Regalen untergebracht. Oldenburg: „Ich versuche meine Arbeiten wie in einem Warenhaus zu ordnen. Wenn man älter wird, ist das hilfreich und ein gutes Gedächtnistraining.“ Der Künstler erstand das schmale Haus, das früher eine Fabrik war, 1971, als sich die Gegend noch heruntergekommen und billig präsentierte und es per Gesetz verboten war, dass Künstler in ihren Ateliers wohnten. Deshalb hatten alle Klappbetten an den Wänden. Inzwischen gehört das Viertel zu den teuersten der Stadt, Künstler haben Nobelboutiquen Platz gemacht. Sogar das Guggenheim-Museum hat seine Dependance an Prada verkauft.

Geld hat Oldenburg aber nie groß interessiert. Schon früh tüftelte er an Modellen, seine „Geometric Mouse“ aus Papier durch hohe Auflagen für viele leistbarer zu machen. Und am liebsten hätte er es, wenn die Käufer seine Objekte nicht in eine Sammlung stellten, sondern mit ihnen lebten – Abnützungserscheinungen mit eingeschlossen. Auch seine Pappmäuse lassen sich immer wieder neu arrangieren und verändern.

Nach seinen großen Erfolgen in den sechziger Jahren verfertigte Oldenburg schließlich viele Riesenobjekte für öffentliche Plätze, wie etwa seinen berühmten Lippenstift auf Caterpilar-Rädern. Oldenburg wollte die Grenzen des Museums sprengen, und auf Galerien hatte er sowieso schon früh keinen Wert gelegt. Das rächte sich später. Während andere seiner Generation zu den jeweils geschicktesten Galeristen wechselten, kümmerte sich Oldenburg wenig um den Verkauf. Und der Kunstmarkt ist spätestens seit den 80er-Jahren fest in der Hand bestimmter New Yorker Galerien. Zwar ist es zu keiner Zeit still um Claes Oldenburg geworden, der bereits 1969 mit einer Werkschau im berühmtesten Museum für zeitgenössische Kunst, dem Moma New York, geehrt wurde, doch die Preise seiner Werke sind noch nicht in den schwindelerregenden Höhen etwa eines Andy Warhol. Ungefähr fünf Millionen kosten seine größeren Objekte, jene von Warhol hingegen bis zu 40 Millionen Dollar. Das wird sich allerdings nach der in den nächsten Jahren herumreisenden Ausstellung über die für Oldenburgs künstlerische Entwicklung wichtige Phase der sechziger Jahre, „The Sixties“, mit großer Wahrscheinlichkeit ändern.

Wie alles begann.

Das Frühwerk von Claes Oldenburg ist noch stark vom Abstrakten Expressionismus geprägt, doch 1956 zog er nach New York und machte dort die Bekanntschaft mit Happening-Künstlern wie Allan Kaprow. 1961 eröffnete er in seinem Atelier in New Yorks Lower East Side dann einen Laden, den er simpel „The Store“ nannte. Für viele ist das die Geburtsstunde der Pop-Art. Denn in diesem Laden gab es die ganze Palette von Alltagsgegenständen wie Nahrungsmittel, Kleider oder Schuhe zu kaufen. Allerdings hatte Oldenburg diese Objekte mit Farbe und Gips verfremdet.

Oldenburg: „In den sechziger Jahren folgte ich einfach meiner Intuition. Ich wollte weiche Skulpturen herstellen, also habe ich sie gemacht. Das war eine sehr offene Zeit, und die Künstler haben sich gegenseitig noch geholfen. Es herrschte so etwas wie ein Gruppengefühl, das es heute nicht mehr gibt, denn viele meiner damaligen Kollegen sind ja inzwischen gestorben. Die Idee der aktuellen Ausstellung ist es, vom Mouse Museum aus zurückzuschauen auf diese fruchtbare Periode.“

Im Mouse Museum, dem Zentrum der Schau,  finden sich hunderte Kleinobjekte, Kitschprodukte wie Lollys aus Plastik oder Zahnpastatuben und Eistüten. Oldenburg hat freilich niemals zu sammeln aufgehört. Mittels eines sehenswerten Lastenaufzugs kommt man in seinem Atelier in den Keller des Gebäudes – der eigentlichen Werkstatt. Und dort präsentiert der Künstler gerne auch Neuerwerbungen wie Spielzeug-Stichsägen, Popeyfiguren oder einen sprechenden Plastikkürbis. Die Party der sechziger Jahre endete für Oldenburg gefühlsmäßig mit den Morden der Manson-Kommune. Der Traum einer neuen Gesellschaft zerplatzte.

Oldenburg ging im Anschluss viel auf Reisen, auch nach Europa, und viele Menschen, die er in den sechziger Jahren regelmäßig getroffen hatte, kamen ihm aus den Augen, erzählt er im Atelier. Scheint also logisch, dass die Wiener Ausstellung das Werk Oldenburgs als abgeschlossenes Projekt präsentiert.

Wie eine Ausstellung entsteht.

Was ist nun das Besondere an Oldenburg?, will ich von dem Mann wissen, der sich seit mehreren Jahren intensiv mit diesem amerikanischen Künstler beschäftigt. „Oldenburg ist für mich einer der wenigen Künstler, die große enzyklopädische Projekte realisiert haben“, erklärt Mumok-Kurator Achim Hochdörfer. Er hat sich nach dem Ende der von ihm organisierten Cy Twombly-Schau im Mumok sofort auf Oldenburg „geworfen“: „Oldenburgs Werke sind schon lange nicht gezeigt worden, auch, weil er nach seiner Personale im Moma 1969 begonnen hat, Objekte für öffentliche Plätze – ,Large-Scale Projects‘ – zu machen. Ich hatte das Glück, dass Oldenburg von Beginn an die Idee zu der Ausstellung gefallen hat.“

Anfangs war die Schau auch gar nicht so groß geplant gewesen. Aber bald schon stieg das Interesse von Museen, die unbedingt dabei sein wollten. „Wir hätten sehr leicht 10 Stationen planen können. Aber fünf internationale Häuser sind das Maximum, was wir arbeitsmäßig leisten können.“ Wenn im Jänner 2014 im Walker Art Center in Minneapolis die Rollbalken für die Show heruntergehen, wird sich Hochdörfer fünf Jahre lang fast ausschließlich mit Oldenburg beschäftigt haben. Denn jede Station – auch jene im Moma New York – betreut Hochdörfer höchstpersönlich. Ein faszinierendes Projekt und natürlich auch ein Höhepunkt in der Karriere des geborenen Augsburgers, der in Wien studierte und noch während des Studiums vom Mumok engagiert wurde. Wie muss man sich nun das Machen einer solchen Ausstellung vorstellen? Geht man da praktisch mit einem Wunschzettel in den internationalen Sammlungen einkaufen? Hochdörfer lacht: „Das sind in der Regel knallharte Verhandlungen. Auf Anfragen für Leihgaben erhält man quasi immer Absagen. Nur im Tausch bekommt man mit etwas Glück das Gewünschte. Als Vorteil hat sich aber herausgestellt, dass Oldenburg voll hinter der Ausstellung steht. So mancher Direktor hat sich mit einem ,Der Künstler hätte es aber gerne‘ dann doch erweichen lassen.“

Der Künstler als Unternehmer.

Auch aus einem anderen Grund sieht Hochdörfer Oldenburg als Pionier. „Als er seinen berühmten ,Store‘ aufmachte, war er der Erste, der seine Kunst selbst verkauft hat. Das war damals ein Tabubruch, denn Kunst wurde ausschließlich von Galeristen vertrieben. Oldenburg schlüpfte damit in die Rolle des Unternehmers.“ Ein Gedanke, der heutigen Künstlern längst in Fleisch und Blut übergegangen ist. 

Zur Eröffnung der Schau wird Oldenburg, der im Januar seinen 83. Geburtstag nicht feierte („Ich habe noch nie eine große Geburtstagsfeier gemacht“) in Wien sein und sich anschließend auch Zeit nehmen, die Stadt zu erkunden. Erstmals besuchte er Wien in den frühen neunziger Jahren mit seiner inzwischen verstorbenen Frau, der Autorin und Historikerin Coosje van Bruggen, mit der er auch viele Projekte gemeinsam realisiert hat: „Coosje war sehr an der Geschichte der Familie Freud interessiert, und wir besuchten unseren Freund Hans Hollein. Coosje fehlt mir sehr, sie hatte nicht nur viele Ideen, sondern hat auch viel Papierkram für mich erledigt. Jetzt kann ich mich mit niemandem mehr wirklich besprechen, ob etwas gut oder schlecht ist. Aber durch die lange Zeit unserer Ehe weiß ich ziemlich genau, was sie sagen würde. Meine Arbeit für Philadelphia etwa, ich denke, sie hätte ihr gefallen.“


claes oldenburg – the sixties
„4. Februar bis 28. Mai 2012“
Mumok, 7., Museumsplatz 1