Die deutsche Schriftstellerin Ingrid Noll wurde heuer 90 Jahre alt. Und erfreulicherweise sind sowohl ihre Produktivität als auch die Qualität ihrer schriftstellerischen Arbeit weiterhin auf höchstem Niveau. Ihr neuer Roman „Nachteule“ ist sogar besonders gut gelungen. Dabei erzählt die Autorin aus der Sicht einer 15jährigen Außenseiterin, die sich von einem Kriminellen manipulieren lässt. Luisa wurde aus Südamerika adoptiert und sieht etwas anders als ihre Klassenkameradinnen in der deutschen Provinz aus, dazu fällt ihr Lernen leicht, sie wird als Streberin gemobbt. Und sie hat ein verborgenes Talent, sie kann nämlich im Dunklen sehen, was sie freilich verbirgt, um nicht als Freak noch mehr ins Abseits zu geraten.
Als sie im Wald auf einen Obdachlosen stößt, versorgt sie ihn mit dem Nötigsten, will sie doch vielleicht einmal Sozialarbeiterin werden. Was folgt ist ein bisschen wie „Biedermann und die Brandstifter“, der Bedürftige stellt sich als veritabler krimineller Erpresser heraus, der in der Nachbarschaft wütet und sogar mordet – aber Luisa glaubt immer noch an das Gute im Menschen und setzt ihre „Superkraft“ bei ihren nächtlichen Streifzügen ein.
Noll beschreibt dabei geschickt die Gefühlswelt eines pubertierenden Mädchens, das sich noch nie verliebt hat und deren Eltern zudem mit eigenen Ehe-Problemen abgelenkt sind. Spannend bis zum ungewöhnlichen Schluss!
Ingrid Noll als Krimischreiberin abzutun, wäre genauso falsch wie Patricia Highsmith auf ihre Ripley-Romane zu reduzieren. Sicher: die Sprache heutiger Teenager trifft Noll vielleicht nicht wirklich, aber „Nachteule“ ist ein packender Roman über die Implikationen caritativer Handlungen und das Leben in der Provinz.
Ingrid Noll: Nachteule. Diogenes, 304 Seiten, € 27,95
