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Bereits zum dritten Mal erinnerte eine jährliche Literaturveranstaltung des echo medienhauses an den Wiener Dichter Heimito von Doderer.

Das war der D-Day für Doderer im Justizpalast

Bild: ©Sabine Kehl-Baierle

Bereits zum dritten Mal erinnerte eine jährliche Literaturveranstaltung des echo medienhauses an den Wiener Dichter Heimito von Doderer.

Die Veranstaltung fand auf historischem Boden statt, nämlich dort, wo es vor bald 100 Jahren brannte – in einem Original-Verhandlungssaal im Justizpalast. Mehr als 50 Teilnehmer:innen ließen sich die Gelegenheit nicht entgehen, das der Öffentlichkeit normalerweise nicht zugängliche beeindruckende Ambiente zu besuchen.

Der Justizpalastbrand im Mammutroman „Die Dämonen“

Heuer widmete sich der D-Day für Doderer der Darstellung des Justizpalastbrands am 15. Juli 1927 im großen Finale des 1400-Seiten-Romans „Die Dämonen“, nach der Chronik des Sektionsrates Geyrenhoff. Nach dessen Erscheinung war Doderer 1956 am Höhepunkt seines Ruhms, der SPIEGEL hob ihn aufs Cover, in Stockholm dachte man an die Verleihung des Literaturnobelpreises an ihn. Doderers 100-seitige Schilderung des Brandes ist einerseits sehr genau, andererseits erlaubt sich der Autor auch dichterische Freiheiten. Im Kontrast zu der Katastrophe lösen sich gleichzeitig die Probleme der einzelnen Menschen, sie finden zueinander, heiraten, bekommen die fast verpasste Erbschaft doch noch, versöhnen sich, und der Mörder kommt im Wiener Kanalsystem um.

Der Historiker Alfred Pfoser, ehemaliger Leiter der Büchereien Wien, analysierte gemeinsam mit echo Chefredakteurin Ursula Scheidl Zusammenhänge und historische Hintergründe sowie das umfangreiche Personal von Doderers Dämonen.

Der Brand begann als Unmutsäußerung gegen ein als skandalös empfundenes Urteil eines Geschworenengerichts zu den Ereignissen im burgenländischen Schattendorf und endete mit Polizeischüssen in die demonstrierende und den Justizpalast angreifende Menge. Es gab 84 Todesopfer unter den Demonstranten und fünf auf Seiten der Polizei, dazu hunderte Verletzte auf beiden Seiten. Es war ein „Ereignis von europäischer Dimension“ wie Alfred Pfoser erläuterte. Doderer, selbst sein Leben lang „ein Zerrissener“, wirft in seinem Wien-Epos einen verzweigten, tiefgehenden, aber auch humorvollen Blick auf das Personal, wovon sich das begeisterte Publikum auch live überzeugen konnte: Schauspielerin, Autorin und Regisseurin Chris Pichler las gewohnt mitreißend ausgewählte Stellen aus dem Roman. Am Ende des Abends waren sich alle einig: Trotz oder gerade wegen der Widersprüchlichkeit Heimito von Doderers, es lohnt sich immer wieder, in sein Werk einzutauchen.

Danke an die Buchhandlung analog in der Otto-Bauer-Gasse, die einen gut bestückten Büchertisch betreute.

Der D-Day für Doderer bedankt sich bei der Stadt Wien Marketing und beim Justizpalast für die Unterstützung. Der nächste D-Day findet am 21. September 2024 statt.

Heimito von Doderers berühmtestes Werk, „Die Strudlhofstiege“, spielt genau genommen nur an einem Tag, nämlich am 21. September 1925, an dem Mary K ein Bein von der Straßenbahn abgefahren wird. Allerdings besteht das Werk aus unzähligen Rückblenden. Grund genug aber für das echo medienhaus, um jedes Jahr am 21. September Doderers umfangreiches Werk mit einer Veranstaltung zu feiern – ähnlich dem Bloomsday mit dem alljährlich James Joyce gedacht wird.

Constanze Scheib schreibt erfolgreich Krimis um eine unternehmungslustige „Gnä’ Frau“ samt Dienstmädchen in den 70er-Jahren in Wien. Zur Kriminacht am 10. Oktober erscheint ihr neuester Fall.

Constanze Scheib liest bei der Kriminacht 2023

Bild: ©Arman Rastegar

Constanze Scheib schreibt erfolgreich Krimis um eine unternehmungslustige „Gnä’ Frau“ samt Dienstmädchen in den 70er-Jahren in Wien. Zur Kriminacht am 10. Oktober erscheint ihr neuester Fall.

Constanze Scheib wollte schon immer schreiben – schließlich war auch ihre Mutter Schriftstellerin, doch nach der Matura zog es sie erstmals auf die Bühne. Nach einer Ausbildung als Schauspielerin spielte sie unter anderem im Gloria Theater und bei der Komödie am Kai. Doch spätestens nach der zweiten Geburt mit Zwillingen konnte sie ihre Zeit nicht mehr so einteilen, wie sie wollte. Und so kam sie wieder auf ihre erste Leidenschaft – das Schreiben – zurück. Sie schrieb zum Teil unter Pseudonym Grusel- und Horrorgeschichten und immer lieber auch phantastische Krimis. So ließ sie etwa ein von einem Dämon besessenes Meerschweinchen im Chicago der 1930er-Jahre Wienerisch reden.

Vor fünf Jahren erfand sie dann ein ganz besonderes Ermittlerduo, nämlich eine reiche Dame aus Hietzing – die „Gnä’ Frau“ Ehrenstein und ihr Dienstmädchen Marie und siedelte das im – noch etwas trüben – Wien der 1970er-Jahre an.

wienlive: Sie haben immer schon geschrieben?

Constanze Scheib: Ja, meine Mutter hat ja ihren Lebensunterhalt als Autorin verdient. Das Schreiben war also etwas Natürliches, fast Alltägliches für mich. Ich hab immer Kurzgeschichten geschrieben und als Schauspielerin sogar kurze Theaterstücke oder Monologe für mich selbst. Als die Zwillinge da waren, bin ich es dann ernsthafter angegangen, habe Texte bei Verlagen eingereicht und für Anthologien geschrieben.

Zuerst aber Horror und Science Fiction, oder?

Ja, ich mag diese Genres immer noch gerne, die haben etwas sehr Spezielles für mich. Horror, Fantasy, Science Fiction – das ist so eine Ecke, die ich auch jetzt so nebenbei gerne bediene. Aber der Krimi war immer schon meine Leidenschaft. Die erste Erinnerung an Bücher waren die rotschwarzen Agatha-Christie-Bände meiner Mutter – alle schön aufgereiht neben ihrem Bett. Sobald ich lesen konnte, hab ich die dann verschlungen. Mein erster Kontakt zur Buchwelt waren also Krimis.

Was reizt Sie an diesem Genre?

Ein ganzes Paket – das Erste ist natürlich das Rätsellösen, ein Puzzle zusammenzusetzen. Das macht mir ungemein Spaß. Als Autorin besteht die Herausforderung, dieses Puzzle als Ganzes zu haben und dann in kleine Teile zu zerteilen und immer genug zu verraten, dass der Leser sich nicht langweilt – aber eben auch nicht zu viel zu verraten, denn man soll ja rätseln.

Sie haben die gesamte Geschichte schon im Kopf, wenn Sie mit dem Schreiben beginnen?

Ja, meistens ist es bei mir so, dass ich mich schon länger darauf vorbereitet habe. Ich überlege mir: wo soll es spielen, worum soll es gehen, welche Figuren hätte ich gerne dabei, die auch mir beim Schreiben Spaß machen – und schließlich, welche Art von Verbrechen es sein soll.

Mit der „Gnä’ Frau“ ist Ihnen eine besondere Figur gelungen. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, eine reiche Hietzingerin samt Dienstmädchen ermitteln zu lassen?

Da ist vieles zusammengekommen. Ich wollte etwas schreiben, das mir besonders Spaß macht. Und das sind einmal die Wiener als sehr spezielle Art Mensch mit ihrem Schmäh, Grant und ihren Ausdrücken – und die Art, wie sie sich verhalten. Dann wollte ich noch Musik, Filme und Whiskey reinverpacken. Und schließlich finde ich die 70er-Jahre als spannendes Jahrzehnt – weil sie auf der einen Seite sehr modern waren mit den Hippies und der Musik, und auf der anderen Seite gab es noch sehr viele traditionsbewusste, ältere Menschen, die von ihren Einstellungen her noch am Anfang des 20. Jahrhunderts verblieben sind. Dieses Aufeinanderprallen in den 70er-Jahren fand ich total spannend.

Sie sind 1979 geboren, haben die 70er-Jahre ja gar nicht erlebt, wie haben Sie sich da herangetastet?

Am liebsten recherchiere ich, indem ich mit Menschen rede, die das damals erlebt haben. Da bekomme ich immer auch viele Geschichten. Aber natürlich habe ich auch Bücher darüber gelesen und Videos angeschaut. Es gibt ein paar Dokus über einzelne Stadtteile. Was ich auch liebe: Ich kaufe Originalmagazine aus dieser Zeit, für die „Gnä’ Frau“ nehme ich da etwa alle Frauenzeitschriften – da erfahre ich, welche Stars und Musiker damals gefragt waren. Gerade weil ich es nicht erlebt habe, kann ich das alles neu entdecken.

Ich nehme auch nicht an, dass Sie mit Dienstmädchen aufgewachsen sind, oder?

Nein, das war vielleicht ein bisschen eine Wunschvorstellung – es wäre ja schön in einer riesigen Villa in Hietzing zu leben mit Personal, das sich um mich kümmert. Andererseits ist das auch meiner Liebe zu den britischen Krimis geschuldet. Dort war ganz selbstverständlich immer ein Butler oder ein Hausmädchen dabei.

Wie wichtig war Ihnen, dass Frauen ermitteln?

Das war definitiv etwas, über das ich gerne schreiben wollte. Außerdem wollte ich eine Frauenfreundschaft zeigen, die ganz speziell ist. Eine Freundschaft, die man nicht erwarten würde – denn es ist ja die Dienstherrin und das Dienstmädchen –, aber sie sind nicht so weit vom Alter her entfernt, die „Gnä’ Frau“ ist 32 und das Mädchen 22. Sie begegnen einander mit Respekt und unterstützen sich gegenseitig. Das war mir sehr wichtig, eine weibliche Ermittlerin, die dazulernt, und eine Freundin, die sie dabei unterstützt.

Humor kommt auch nicht zu kurz in dieser Reihe …

Ja, dieser Wiener Schmäh und die ungewöhnlichen Satzstellungen des Wienerischen. Ich habe ja einen Schweizer Verlag und eine deutsche Lektorin. Die Lektorin hat da öfters nachgefragt, ob denn das wirklich so sein soll … Und ich habe erklärt: Ja, das ist die Art, wie die Wiener reden. Beim ersten Buch hatten wir noch kein Glossar und da kam die Reaktion einiger Leser, dass sie es zwar verstanden haben, aber manche Wörter gerne erklärt hätten. Und so erscheinen die „Gnä’ Frau“-Krimis immer mit Glossar.

Sie waren schon mehrmals bei der Kriminacht. Was ist das Besondere für Sie?

Das ist so toll, ich war ja schon vorher sehr oft als Besucherin bei der Kriminacht. Als ich dann mit meiner ersten „Gnä’ Frau“ lesen durfte, ist da wirklich ein Traum für mich in Erfüllung gegangen. Meine zwei Lesungen bisher waren ein Erlebnis, denn im Kaffeehaus die „Gnä’ Frau“ zu lesen, mit den vielen Wienerischen Ausdrücken, war etwas ganz Besonderes. Die Zuschauer leben da richtig mit, denn die Stimmung ist einfach gelöster als anderswo – die Gäste trinken ihre Melange oder ihren Prosecco, das ergibt eine ganz spezielle Atmosphäre.

Constanze Scheib wird ihren neuen Krimi (siehe oben) bei der Kriminacht am 10. Oktober erstmals präsentieren. Und zwar in der Hauptbücherei Wien am Gürtel. „Mord im Dreivierteltakt“ beginnt mit dem Besuch der Gnä’ Frau und ihres Mannes am noblen Philharmonikerball 1973 und spielt in der Theaterwelt, wo eine Diva erpresst wird.

Alle Infos zur Kriminacht in den Kaffeehäusern: kriminacht.at

Weil Hitler Mussolini brauchte, verriet er die deutschsprachigen Südtiroler – obschon er überall sonst in Europa Deutschsprachige „heim ins Reich“ holte. In Italien sollte fortan nur noch italienisch gesprochen werden, wer wollte, konnte das Angebot der Nazis annehmen und sich im deutschen Reich ansiedeln.

Mit den Augen eines Kindes – Sepp Malls Geschichte einer südtiroler Familie „Ein Hund kam in die Küche“

Weil Hitler Mussolini brauchte, verriet er die deutschsprachigen Südtiroler – obschon er überall sonst in Europa Deutschsprachige „heim ins Reich“ holte. In Italien sollte fortan nur noch italienisch gesprochen werden, wer wollte, konnte das Angebot der Nazis annehmen und sich im deutschen Reich ansiedeln.

In Sepp Malls Roman „Ein Hund kam in die Küche“ verlässt eine südtiroler Familie ihren Heimatort und wird zunächst in Oberösterreich angesiedelt. Vater muss sowieso bald einrücken, aber es gibt noch ein weiteres Problem. Der jüngere Sohn Hanno ist aufgrund Komplikationen bei der Geburt behindert, er kann nur schwer gehen und sprechen. Unter dem Vorwand, ihn besser fördern zu können, muss er beim Eintritt ins Reich in ein Heim bei Innsbruck zurückgelassen werden. Beim Lesen wird schnell klar, dass es sich um ein Euthanasie-Heim handelt. Mall erzählt die tragische Geschichte aus der Sicht des zuerst 11jährigen zweiten Sohns, der zu seinem Bruder eine besondere Liebe entwickelt hat. Und er schafft immer wieder Bilder, die sich ins Gedächtnis brennen: Ein verendeter Hirsch im Wald wird zur Metapher des Leides.

Der jugendliche Ich-Erzähler findet überall, wo die Familie in ihrer Odyssee landet, einen Freund, eine Freundin. Und immer wieder besucht ihn auch sein inzwischen als an einer „Lungenentzündung“ verstorben gemeldeter Bruder Hanno. Sozusagen als Geist. Wer da nicht gerührt ist, hat kein Herz, gerade weil der Autor eben nicht klischeehaft oder auf Gefühle hinzielend schreibt. Dadurch entwickelt der Text eine ungeheure Wucht, der man sich kaum entziehen kann.

Nach Ende des Krieges kehren die Mutter und der jetzt 14jährige Erzähler wieder nach Südtirol zurück – sie passieren illegal die Grenze. Natürlich ist dort alles anders und als der Vater gebrochen aus dem Krieg kommt und zu trinken beginnt, ist es schwer, sich für die Familie eine bessere Zukunft vorzustellen. Der Roman ist zurecht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises.


In „Ein Hund kam in die Küche“ verlässt eine südtiroler Familie ihre Heimat während der Zeit von Mussolini um sich in Österreich anzusiedeln.

Sepp Mall: Ein Hund kam in die Küche
Leykam
192 Seiten
€ 25,50

Am 21. September findet wieder der D-Day für Doderer statt – heuer im Wiener Justizpalast.

Die Dämonen der Republik – D-Day für Doderer im Justizpalst

Bild: ©Helmut Schneider

Am 21. September findet wieder der D-Day für Doderer statt – heuer im Wiener Justizpalast.

Am 15. Juli 1927, also vor fast schon 100 Jahren, fand in Wien ein Ereignis statt, das die 1. Republik heftig erschütterte und Österreich an den Rand eines Bürgerkrieges brachte. Die Gegensätze zwischen dem Roten Wien und fast dem konservativ-klerikalen Rest der Republik versuchten die Christlichsozialen bekanntlich später mit der Errichtung einer Diktatur und der Ausschaltung des Parlaments zu lösen und leiteten damit den Untergang Österreichs im Nationalsozialismus ein. 

Die Vorgeschichte

Am Abend des 14. Juli wurde das Urteil im Prozess gegen die Mitglieder der Freikämpfervereinigung Deutsch-Österreich bekannt. Ein Geschworenengericht hatte die drei Täter, die im burgenländischen Schattendorf ein 6jähriges Kind und einen Kriegsinvaliden bei einem Zusammenstoß mit Sozialdemokraten von hinten erschossen hatten, freigesprochen.

Am 15. Juli 1927 schalteten die Arbeiter in den städtischen Elektrizitätswerken den Strom ab, der öffentliche Verkehr kam zum Erliegen. Demonstranten zogen über den Ring und wollten sogar in die Universität eindringen. Ein Polizeiwachzimmer und die Redaktion einer Zeitung wurde verwüstet, ehe die Menge vor dem Justizpalast aufmarschierte. Mehrere sozialdemokratische Führer versuchten inzwischen mäßigend auf die Demonstranten einzuwirken. Der spätere Bundespräsident Renner half Justizbeamten mittels eines Tricks – sie wurden als Verwundete getarnt – zur Flucht aus dem Justizpalast. Der Justizpalast brannte schließlich. Polizeipräsident Johann Schober wollte das Militär einsetzen – er scheiterte aber am Veto des Bürgermeisters Karl Seitz und sogar des christlichsozialen Heeresministers. Allerdings verschaffte sich Schober Gewehre aus Bundesheerbeständen, mit denen er die Polizisten ausrüstete. Die schreckliche Bilanz: 84 tote Demonstranten, 5 tote Polizeibeamte, hunderte Verletzte. Karl Kraus sprach vom größten „Verbrechen aller zivilisierten Zeiten“ und startete eine Kampagne gegen Johann Schober mit Plakaten und Texten (Schoberlied).

Der Justizpalastbrand in Doderers „Die Dämonen“

Wie für seine Kollegen Elias Canetti („Masse und Macht“) und Manès Sperber („Wie eine Träne im Ozean“) bedeutete für Heimito von Doderer das Massaker beim Justizpalast der Anfang vom Ende der Ersten Republik. In seinem Mammutwerk „Die Dämonen“ lässt Doderer seine Hauptpersonen den 15. Juli 1927 erleben. Das „Cannae der österreichischen Freiheit“ (Doderer im Roman) bildet den Höhepunkt des 1400-Seiten-Buches.

René Stangeler, den wir schon aus der Strudlhofstiege kennen, macht sich auf den Weg ins Hotel Ambassador am Neuen Markt, um einem amerikanischen Historiker ungarischer Herkunft seine Entdeckung – eine Handschrift über einen skurrilen Hexenprozess aus dem Spätmittelalter – zu zeigen. Wie Quapp – Charlotte von Schlaggenberg, die Schwester eines der drei Chronisten Kajetan von Schlaggenberg – wundert ihn zunächst nur, dass die Straßenbahnen nicht fahren. Der ehemalige Fabriksarbeiter Kakabsa ist bereits Bibliothekar und verhindert bei seinem Besuch in der Universität, dass diese gestürmt wird.  Am nächsten kommt dem Justizpalast der schon im Titel des Romans genannte Chronist Georg von Geyrenhoff, der just an diesem Tag zum Frühstück bei seinem ehemaligen Chef eingeladen ist und von dessen Wohnung am  Schmerlingplatz den Justizpalast sehen kann. Er beobachtet, dass eine alte Frau erschossen wird – ihr Blut vermischt sich mit der Mich aus den zerbrochenen Milchflaschen, die sie geholt hatte. Und er sieht auch wie ein ungarischer Hochstapler und ehemalige Freund, der erst eine Rede hält und dann auf die Polizei schießt, ums Leben kommt.

Die dramatischen Ereignisse holt Doderer freilich immer wieder auf die Ebene seiner Figuren. Frau Mayrinker will im 9. Bezirk Obst einkochen und setzt dabei ihre Küche in Brand. Durch ihr beherztes Eingreifen kann sie das Feuer löschen – ganz im Gegensatz zum inzwischen bereits brennenden Justizpalast. Von oben, am Cobenzl, sieht Quapp und ihr neuer Verlobter das Feuer in der Stadt „wie ein Wimmerl“.

Doderers Darstellung der Kämpfe ist geradezu großkoalitionär – die Polizei wollte am Beginn gar nichts Böses und die Schutzbündler tragen sogar verwundete Polizisten ins Spital. Schuld an dem Chaos sind die Gauner aus dem Prater oder – wie es im Roman heißt – „der Ruass“. Man sieht keine Arbeiter mehr, sondern nur noch Krawallmacher und Berufsverbrecher.

Dass nicht alles den Tatsachen entspricht, darüber wird am 21. September, 18.30 Uhr, im historischen Verhandlungssaal (oben) im Justizpalast wienlive-Herausgeber Helmut Schneider mit dem Historiker Alfred Pfoser, dem ehemaligen Leiter der Büchereien Wien, sprechen. Die Schauspielerin und Autorin Chris Pichler wird Stellen aus den „Dämonen“ lesen. Die Buchhandlung analog aus der Otto-Bauer-Gasse (buchhandlunganalog.at) wird einen Büchertisch anbieten. Der Eintritt ist frei, Gäste müssen allerdings durch einen Sicherheitscheck, da der Justizpalast ja ein Gerichtsgebäude ist. Freie Platzwahl.


21. September 2023
18.30 Uhr
Historischer Verhandlungssaal im Justizpalast
Schmerlingplatz 10-11, 1010 Wien

Kinder alleingelassen – Der Erzählungsband „Mann im Mond“ von Lana Bastašić

Kinder alleingelassen – Der Erzählungsband „Mann im Mond“ von Lana Bastašić

Ein Sportlehrer verhöhnt eine Schülerin, weil sie zwar gut in Mathematik ist, aber beim Laufen nicht mit den anderen mithalten kann. Immer wieder lässt er sie im Kreis laufen, während die Mitschülerinnen längst wieder in ihren Klassen sitzen. Da bekommt er plötzlich keine Luft mehr und das Mädchen muss sich entscheiden, ob sie ihm zu Hilfe kommen soll. Eine alte Erbtante präsentiert in einem skurrilen alten Haus ihre Nichte ihren nackten Busen und lässt ihn von ihr anfassen. Ein Bub wird von seinem Vater zum Schwimmunterricht genötigt. Da erscheint ihm sein Idol Spiderman und reicht ihm nicht nur die fehlende Klopapierrolle auf der Toilette, sondern verschafft ihm auch den Mut, sich gegen Papa zu wehren. Die in Zagreb geborene und in Bosnien aufgewachsene Schriftstellerin Lana Bastašić, die inzwischen vor allem in Barcelona lebt, zeigt uns in ihren Erzählungen Kinder, die mit ihren Sorgen alleingelassen werden. Sie müssen Alkohol aus dem Laden holen oder auf ihrem Instrument üben, obwohl sie kein Talent haben. Die Autorin schafft es, die existenziellen Nöte dieser Kinder direkt in Sprache zu verwandeln. Ein verstörendes Buch.


Lana Bastašić: Mann im Mond
Erzählungen
Aus dem Bosnischen von Rebekka Zeinzinger
S.Fischer
206 Seiten
€ 25,50 

Wolf Haas erinnert in einem berührenden Buch an seine Mutter.

Wolf Haas erinnert in einem berührenden Buch an seine Mutter

Am Land ist das halt so. Man muss in einem eigenen Haus wohnen, denn zur Miete leben nur die Versager. Der vor allem als Krimischriftsteller erfolgreiche Wolf Haas hat die Geschichte seiner Mutter aufgeschrieben und herausgekommen ist ein Stück Heimatliteratur der anderen Art. Als er seine Mutter, die nur noch wenige Stunden von ihrem Tod entfernt ist, besucht, geht es ihr zum ersten Mal gut – was den Sohn ziemlich überrascht, hatte sie doch ihr Leben lang nur geklagt. Und zweifelsohne gab es auch viel zu klagen. Ihre Vorfahren, kleine Bauern in Salzburg, verloren durch den Wunsch, sich zu vergrößern, alles und immer, wenn sie genug für eine Anzahlung auf einen Grund gespart hatten, betrug die Anzahlung bereits das Doppelte. Die Mutter arbeitet nach dem Krieg in der Schweiz und erhält mit ihrem geringen Verdienst als „Servierschwester“ die Familie. Zurückgekommen wird sie im Haus, das sie selbst mitfinanziert hatte, nur geduldet und erkämpft sich eine Wohnung von der Gemeinde. Das große Ziel ihres Lebens wird ihr quasi erst mit dem Grab erfüllt – die paar Meter auf dem Friedhof nimmt sie mit dem Begräbnis in Besitz. Das erinnert an das berühmte Gedicht von Bertolt Brecht (Mein Bruder war ein Flieger): „Der Raum, den mein Bruder eroberte/Liegt im Guadarramamassiv/Er ist lang einen Meter achtzig/Und einen Meter fünfzig tief”.

Haas schildert das sparsame Leben seiner Mutter respektvoll, aber genau. Wie die Inflation das Geld vernichtete, wie sie als Übersetzerin für die Amerikaner arbeitete und im Krieg fern der Heimat Arbeitsdienst verrichten musste. Er nimmt aber auch immer wieder Details in die Erzählung. Etwa wie der Totengräber – die Gemeindewohnung lag direkt am Friedhof –  seiner schweren Arbeit nachging. Frag etwa, warum beim Begräbnis von Männern immer die Blechbläser spielen und bei jenen der Frauen nur der Chor singt. Zwischendurch blitzt natürlich auch der Humor von Wolf Haas auf: „Genervt von der tausendfach gestellten Frage ,Kann man vom Schreiben leben?‘ wäre ich auf den Titel gekommen ,Kann man vom Leben schreiben?‘“. Und während seine Mutter begraben wird, denkt der Erzähler darüber nach, ob er das gerade Erlebte und Gedachte für eine Poetik-Vorlesung verwenden, oder seinen Auftritt lieber absagen soll. Ein wunderbares kleines Buch zu einem großen Thema.


Wolf Haas erinnert in seinem neuen, berührenden Buch „Eigentum“ an seine Mutter. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.

Wolf Haas: Eigentum
Hanser
160 Seiten
€ 23,50

Schräg, schön, abgründig - das neue Sachbuch "Bibliothek des Wahnsinns " (Knesebeck Verlag) beherbergt seltsame Bücher, skurrile Manuskripte und literarische Kuriositäten aus aller Welt.

Skurrile Bücher in „Bibliothek des Wahnsinns“

Schräg, schön, abgründig – das neue Sachbuch „Bibliothek des Wahnsinns “ (Knesebeck Verlag) beherbergt seltsame Bücher, skurrile Manuskripte und literarische Kuriositäten aus aller Welt. Von den meisten dieser Bücher dürften die Leser noch nie etwas gehört haben.

Bestseller-Autor Edward Brooke-Hitching nimmt die Leserschaft in seinem neuen Werk mit auf eine Reise durch die Literaturgeschichte und taucht ein in ihre dunkelsten Gefilde und bizarrsten Momente. Er spürt die außergewöhnlichsten Bücher auf und erzählt die Geschichten ihrer Entstehung. Vom Koran, der mit dem Blut von Saddam Hussein geschrieben wurde, über in Menschenhaut gebundene Bücher oder eine Bibel, die eine Pistole versteckt, bis hin zu Unterhaltungen mit Marsmenschen, Diktaten aus dem Jenseits oder Bücher, so groß, dass man einen Motor zum Umblättern braucht.

Exzentrische Schriftstücke

Die „Bibliothek des Wahnsinns“ ist bestückt mit einer Vielzahl an exzentrischen Schriftstücken aus aller Welt, von denen viele völlig in Vergessenheit geraten sind. Darunter winzige Bücher, Bücher, die mit Blut geschrieben wurden, und Bücher, die töten, Bücher des Wahnsinns und Bücher, die die Welt in die Irre führten, Bücher, die für das bloße Auge unsichtbar sind, und Bücher voller Codes und Chiffren.


Ein indischer Thriller – Der Aufsteigerroman „Zeit der Schuld“ von Deepti Kapoor

Ein indischer Thriller – Der Aufsteigerroman „Zeit der Schuld“ von Deepti Kapoor

Ajay ist ein Kind als plötzlich die Hausziege im Garten eines Nachbarn Gemüse frisst und der sich furchtbar rächt. Der Vater wird erschlagen, Ajay und seine Schwester getrennt gefangen und verkauft. In der Gegend um den Himalaya muss er bei einem Bauern arbeiten, man erzählt ihm, sein Lohn werde an seine Mutter geschickt. Eine Lüge, denn Ajay ist nur ein Leibeigener – und als sein Herr stirbt, hat er nicht einmal eine Bleibe. Im Café, in dem er arbeitet lernt er Sunny kennen, den Sohn eines Reichen und Mächtigen, der ihn schließlich zu seinem persönlichen Diener macht. Ajay gewinnt Ansehen, denn Sunny ist der einzige Sohn aus dem Wadia-Clans – sein Vater Bunty ist ebenso korrupt wie gefürchtet, er macht mit dem Ministerpräsidenten gemeinsame Sache. Doch dann gerät Sunny durch Drogen und Fehlplanungen auf die schiefe Bahn. Ajay muss ihn decken und geht sogar für ihn ins Gefängnis.

Die 1980 in Maradabad geborene Deepti Kapoor arbeitete zunächst als Journalistin ehe sie als Autorin bekannt wurde. „Zeit der Schuld“ ist das erste Buch von ihr, das auf Deutsch erscheint. Der Roman entwickelt von Beginn an einen ungeheuren Sog. Man ist fasziniert vom noch immer herrschenden Clan-System in Indien, wo sich niemand daran stößt, dass Korruption herrscht – das ist eben so und wer reich ist, wird geachtet. Kapoor erzählt geschickt und baut in ihren Roman gleich mehrere Höhepunkte ein. Eine Liebesgeschichte gibt es auch, denn Sunny verliebt sich ausgerechnet in eine junge Journalistin, die sogar von ihm schwanger wird und vom Patriachenvater nach London zum Studieren abgeschoben wird. Es ist wie eine spannungsgeladene Netflix-Serie mit vielen Höhepunkten, unerwarteten Wendungen und Stoff zum Grübeln – und „Zeit der Schuld“ soll auch bereits verfilmt werden. Ein trotz des Umfangs von fast 700 Seiten ein ungemein kurzweiliges Buck.


Deepti Kapoor: Zeit der Schuld
Aus dem Indischen von Astrid Finke
Blessing Verlag
688 Seiten
€ 29,50

Am 10. Oktober wird schon die 19. Ausgabe des beliebten Krimi-Festivals gefeiert. Mit vielen heimischen Stars.

19. Wiener Kriminacht mit vielen heimischen Stars

Am 10. Oktober wird schon die 19. Ausgabe des beliebten Krimi-Festivals gefeiert. Mit vielen heimischen Stars.

Alle Autorinnen und Autoren, die einmal bei der Kriminacht in den Wiener Kaffeehäusern waren, schwärmen von der ganz speziellen Stimmung bei diesem Festival, das heuer am 10. Oktober in etwa 30 Locations über die Bühne gehen wird. Denn anders als bei den meisten anderen Lesungen sind die Gäste bei Kaffee oder Spritzer entspannt. Und nachher kommen viele Lesenden mit -ihren Fans ins Gespräch.

Da die heimischen Krimischreiber*innen sehr fleißig sind, können sie fast jedes Jahr einen neuen Thriller vorstellen. So etwa Eva Rossmann, die gleichzeitig auch in Buchingers „Gasthaus zur alten Schule“ als Köchin arbeitet, wann immer sie Zeit hat. Ihr neuer Thriller „Fine Dying“ spielt auch in einem Restaurant. Zur Tradition der Kriminacht gehört es mittlerweile, dass alle Nominierten für den Leo-Perutz-Preis – der beim Kriminacht-Auftakt im Hotel Imperial vergeben wird – bei der Kriminacht lesen. Heuer sind das Markus Deisenberger mit „Winter in Wien“, Peter Lorath mit „Fluch der Venus – Wiener Abgründe“, Beate Maly mit „Aurelia und die letzte Fahrt“, Günther Mayr mit „Herr Kuranaga“ und Kurt Palm mit „Der Hai im System“. Mit dabei sind auch Publikumslieblinge wie Max Gruber, Stefan Slupetzky, Beate Maly, Sabina Naber oder Edith Kneifl. Freier Eintritt bei allen Lesungen.

kriminacht.at

„Der Grenzwald“ – Anmerkungen zu Heimito von Doderers Romanfragment zur Einstimmung auf den D-Day am 21. September

Nach dem Riesenerfolg des 1400-Seiten starken Romans „Die Dämonen“ 1956 plante Heimito von Doderer ein noch größeres Werk, das vier Teile umfassen sollte. Fast hätte Doderer ja schon den Nobelpreis errungen, in der deutschsprachigen Literatur machte ihm den Meistertitel niemand streitig. Er war jetzt 60 Jahre alt und hatte noch viel vor. Seinen Romankomplex nannte er im Tagebuch Roman No 7, in Anlehnung an den verehrten Ludwig van Beethoven und seine 7. Symphonie. Den ersten Teil stellte Doderer noch fertig – 1963 erschien mit „Die Wasserfälle von Slunj“ der „Kopfsatz“. Der zweite Satz „Der Grenzwald“ sollte aber unvollendet bleiben, den Doderer starb 1966 an einem zu spät erkannten Darmkrebs.

„Der Grenzwald“ erschien 1967 als Fragment und unterscheidet sich in vielfacher Hinsicht von Doderers bisherigem Werk. Der zweite Satz einer Symphonie ist für gewöhnlich ein langsamer. Wir erfahren von einigen jungen Männern, die bald schon in den Kriegsdienst einrücken müssen und bald auch schon in russische Gefangenschaft geraten. Sie landen in einem Lager im tiefsten Sibirien. Da sie aber allesamt Offiziere sind, geht es ihnen in der Gefangenschaft erstaunlich gut. Sie lernen Fremdsprachen – vor allem Russisch, können musizieren und sich mit Büchern oder mitgefangenen Gelehrten auch weiterbilden. Sogar ein Ausgang ist möglich und nach und nach übernehmen die Gefangenen auch viele Arbeiten im Lager aber auch im nahen Städtchen. Einer von ihnen – Heinrich Zienhammer aus einem (erfundenen) niederösterreichischen Dorf – wird sogar Verantwortlicher für die Holzbesorgung, denn aufgrund des Bürgerkriegs nach der Revolution liegt es mit der Organisation auch der notwendigen Infrastruktur schlimm im Argen. Im Lager gibt es aber natürlich die verschiedenen Nationalitäten der k.u.k. Monarchie, von der man freilich bereits hört, dass sie zerfallen ist. Und so wird Zienhammer Zeuge eines Massakers der Tschechen an den Ungarn, ja er soll diese sogar verraten haben. Aus den Tagebucheintragungen wissen wir, dass Zienhammer nach der Befreiung in Wien Angst hat, vor Gericht gestellt zu werden und einen Mitwisser umbringt. Der vorliegende Text des Romans behandelt freilich nur das Lagerleben und einen missglückten Versuch, mit der Eisenbahn wieder nach Deutschland oder Österreich zu kommen.

Was auffällt ist, dass Doderer im „Grenzwald“ einen für ihn ungewöhnlichen einfache Stil schreibt. Er setzt kurze Sätze ein, manche lässt er sogar bewusst unfertig. Es wirkt vielfach wie stenografiert. Natürlich arbeitet Doderer im „Grenzwald“ seine eigene Kriegsgefangenschaft in Sibirien auf – er war ja nicht weniger als 4 Jahre lang unfrei. Was man noch an dem 240-Seiten-Fragment auffällt: Doderer geht es immer mehr um Atmosphäre, um den Raum und weniger um die Personen. Zienhammer ist kein Verbrecher, sondern ein unscheinbarer Mitläufer, der aufgrund der Ereignisse schuldig wird. Im Tagebuch schreibt Doderer noch 1966: „Zienhammer ist ein wahrer Repräsentant unserer Zeit: ein Mann der routinehaften, impotenten Wurstigkeit, unansprechbar aber auch unangreifbar: es ist daher ganz selbstverständlich, daß er siegt, daß er vernichtet, was ihm in den Weg gerät.“

Und: „Das Tempo Null bleibt der Kern erzählender Prosa…“ Doderer war und ist vielleicht moderner, als viele nur oberflächliche Leser vermuten würden.

Am 21. September feiern wir wieder den D-Day für Doderer – und zwar um 18.30 Uhr im Justizpalast, denn es geht diesmal mit dem Historiker Alfred Pfoser und der Schauspielerin Chris Pichler um den Brand des Justizpalasts in den „Dämonen“. Eintritt frei, keine Anmeldung möglich.