Arno Geigers Buch über seinen alzheimerkranken Vater  heuer bei „EineStadt.EinBuch.“

Als 2011 Arno Geigers „Der alte König in seinem Exil“ über die Alzheimererkrankung seines Vaters erschien, war Demenz noch nicht wirklich als wichtiges Thema in der Gesellschaft angekommen. Sicher gab es Berichte über Prominente wie Ronald
Reagan, der seine Alzheimererkrankung schon in den 90er-Jahren öffentlich machte, aber die vielen Betroffenen und Angehörigen litten im Stillen. Literarische Bearbeitungen gab es kaum und so ist „Der alte König in seinem Exil“ so etwas wie ein Durchbruch bei diesem Thema. Zumal das Buch alles andere als ein trauriges Lamento darstellt. Arno Geiger erzählt in seinem Werk mit viel persönlicher Anteilnahme von seinem Vater, der nach dem Krieg aus der Gefangenschaft zu Fuß aus Russland zurückkehrte und ein bescheidenes Leben als Gemeindeschreiber in Wolfurt führte. Er verschweigt dabei keineswegs die Schwierigkeiten im Umgang mit dem Kranken, den er jahrelang betreute, aber es finden sich auch durchaus komische Szenen in dem Werk. Etwa wenn der Sohn dem Vater den Hut reicht und dieser sagt: „Das ist recht und gut. Aber wo ist mein Gehirn?“. Ein andermal erklärt der Vater: „Es geschehen keine Wunder, aber Zeichen.“

Präsentation. Das Buch macht nicht nur Betroffenen Mut. Immer wieder gibt es für den Sohn auch Augenblicke des Glücks bei der Betreuung des Vaters. Es ist das literarische Können des Autors, das aus dem Buch etwas Besonders macht. Für „Eine Stadt. Ein Buch.“ reiht sich „Der alte König in seinem Exil“ ein in Büchern, die besonders relevant für die Stadt sind. So wurde etwa Bernhard Schlinks „Der Vorleser“ auch deshalb ausgewählt, weil Analphabetismus – das Thema des Romans – ein drängendes Problem ist. „Der alte König in seinem Exil“ ist aber auf jeden Fall ein exquisites Stück Literatur, das zurecht zum Bestseller wurde. Auch weil es so herrlich zu lesen ist. „Eine Stadt. Ein Buch.“startet heuer am 19. Oktober mit einer Präsentation im Rathaus. Am 20. Oktober wird Arno Geiger bei der Wien Energie Spittelau aus dem Buch lesen.

Der österreichische Schriftsteller Arno Geiger wurde 1968 in Bregenz geboren und lebt in Wien und Wolfurt. Der Bestseller „Der alte König in seinem Exil“ des vielfach ausgezeichneten Autors wird ab 19. November 100.000mal in Wien gratis abgegeben. Das Cover des Aktionsbuchs zeigt „Die  große Welle“ von Hokusai. Foto: Bubu Dujmic

INFO: einestadteinbuch

2 Töchter und der Frieden in Nahost – Leon de Winters ungewöhnlicher Arzteroman „Stadt der Hunde“

Gleich vorweg – die Stadt der Hunde ist Tel Aviv, wo gutsituierte Menschen am schicken Rothschild Boulevard ihre Vierbeiner Gassi führen. Dort ist der holländische Star-Gehirnchirurg Jaap Hollander, der ungewollt in eine höchst geheime und delikate Mission verwickelt wird. Er soll nämlich die junge Tochter des saudischen Herrschers mit einer Operation heilen. Ein Unterfangen, das sämtliche Fachleute abgelehnt haben zumal sie fürchte dass sie nicht am Leben bleiben würden, wenn die Operation schief geht…. Aber Jaap ist nun einmal der beste – obwohl er schon im Ruhestand ist und Israel nur besucht, weil er das Andenken an seine eigene Tochter, die vor 10 Jahren in einem Krater der Negev-Wüste spurlos verschwunden ist. Dabei war seine Beziehung zu Lea vor ihrem Verschwinden nicht einmal besonders intensiv. Aber seit ihrem Verschwinden kommt er regelmäßig, um sie zu suchen. In der Nähe seines Hotels, wo Lea verschunden ist, taucht inzwischen immer wieder ein Hund auf, der Jaap wie ein Führer durch die Unterwelt erscheint – sozusagen der Höllenhund Zerberus aus der griechischen Mythologie.

„Die Stadt der Hunde“ ist ein bemerkenswert spannender Mystery-Thriller, der sicher auch gut zur Sommerlektüre geeignet ist. Politische Diagnose des Nahost-Konflikts inklusive.

Leon de Winter: Stadt der Hunde. Aus dem Niederländischen von Stefanie Schäfer. 264 Seiten, € 27,50

Discofieber in Mörbisch: Der Countdown für die Premiere läuft

Ein Musical mit Tiefgang und Zeitgeist

Mörbisch wird zum sommerlichen Hotspot für Musicalfans. Generalintendant Alfons Haider zeigt sich begeistert über die Wahl des Stücks: „Auch wenn das Original aus den 70er Jahren stammt, ist das Thema aktueller denn je.“ Im Mittelpunkt steht Tony Manero, der zwischen Disco-Glamour und dem Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben schwankt. Identitätssuche und Selbstverwirklichung stehen im Zentrum der Handlung – ein zeitloses Thema, das auch heutige Generationen anspricht.

Ein Bühnenbild mit Wow-Effekt

Das Bühnenbild von Walter Vogelweider ist fast vollständig fertiggestellt und verspricht einen spektakulären ersten Eindruck. „Schon beim Betreten des Zuschauerraums wird es ein erstes Staunen geben“, kündigt Haider an. Die Bühne wird zur glitzernden Discofläche, auf der das Ensemble – bestehend aus Künstlerinnen und Künstlern aus zwölf Nationen – eine energiegeladene Show abliefert.

Musikalische Dauerbrenner garantieren mitreißende Abende

Die Musik von Saturday Night Fever ist ein Garant für gute Stimmung: Songs wie Stayin’ AliveNight FeverHow Deep Is Your Love oder You Should Be Dancing sind weltbekannt und bringen das Discofieber zurück nach Mörbisch. „Spätestens nach dem dritten Hit wird niemand mehr ruhig sitzen können“, so Haider.

Musicalsommer in Mörbisch

Von 10. Juli bis 16. August 2025 heißt es auf der Seebühne Mörbisch: Bühne frei für Glitzer, Tanz und mitreißende Musik. Mit Saturday Night Fever – Das Musical erwartet das Publikum ein Sommerabend voller Emotion, Energie und Nostalgie – ganz unter dem Motto: Disco lebt!

Tickets und weitere Informationen unter: www.seefestspiele-moerbisch.at

„Wir feiern am 10. Juli mit ‚Saturday Night Fever‘ Premiere, worauf ich mich bereits wahnsinnig freue. Mit der Stückwahl, auch wenn das Original aus den 70iger Jahren stammt, sind wir am Puls der Zeit: Ein zentrales Thema des Musicals ist die Suche nach Identität und Selbstverwirklichung. Hauptcharakter Tony Manero steht vor der Entscheidung, ob er sich weiterhin in der Disco-Welt verliert oder den Mut fasst, sein Leben aktiv zu verändern. Das hochkarätige Leading Team hat für diese Produktion bereits Großartiges geleistet. Der Bühnenaufbau ist seit einigen Wochen im Gange und ich verspreche nicht zu viel, wenn ich sage, dass das von Walter Vogelweider erdachte Bühnenbild dem Publikum bereits beim Hineingehen das erste Ah entlocken wird. Mit dem Probenstart kommt unser Cast mit ins Spiel. Ich bin sehr froh, dass es uns gelungen ist, Kolleginnen und Kollegen aus der ganzen Welt ins Ensemble zu holen. Aus 12 unterschiedlichen Nationen wird sich das Ensemble in Mörbisch treffen, um mit und für unser Publikum Abend für Abend das Discofieber zu entfachen. Spätestens nach der dritten Hitnummer der Bee Gees wird es im Publikum niemanden mehr auf den Plätzen halten.

Alfons Haider

Generalintendant


Konzerthighlights 2025 auf der Seebühne Mörbisch

Neben der großen Musicalproduktion der Seefestspiele Mörbisch bietet die Seebühne als solche auch diesen Sommer wieder ein buntes wie hochkarätiges Konzertprogramm. Ganz nach dem Motto „Oben die Sterne, unten die Stars“ wird die einzigartige Open-Air-Bühne internationale und nationale Größen unterschiedlicher Genres, von Schlager über Rock bis hin zum Großevent für Blasmusik-Fans beherbergen.29. Juli: Bonnie Tyler & Nazareth5. August: Semino Rossi – Live in Concert23. August: Feuerwerk der Blasmusik

Konzerttermine 2025 auf der Seebühne Mörbisch auf einen Blick:

  • Starnacht am Neusiedler See: 06. und 07.06.2025 | seefestspiele-moerbisch.at
  • Die Schlagerparty: 14.07.2025 | oeticket.com
  • Roland Kaiser: 15.07.2025 | oeticket.com
  • Bonnie Tyler & Nazareth: 29.07.2025 | oeticket.com
  • Amore italiano – Die italienische Schlagernacht: 04.08.2025 | oeticket.com
  • Semino Rossi: 05.08.2025 | seefestspiele-moerbisch.at
  • Feuerwerk der Blasmusik: 23.08.2025 | seefestspiele-moerbisch.at

100 Jahre „Die Strudlhofstiege“ – der D-Day für Doderer als Matinee im Theater in der Josefstadt mit Franz Schuh und Martina Ebm am 21. September

Gleich im ersten Satz der Strudlhofstiege wird der Roman zeitlich festgelegt. Am 21. September 1925 wird Mary K von der Straßenbahn ein Bein abgefahren. Wie es dazu kommt, erfahren wir allerdings erst gegen Schluss. Man kann also die Strudlhofstiege als das Werk eines einzigen Tages bezeichnen – allerdings mit unzähligen Rückblenden und zahlreichen Metageschichten. Deshalb feiern wir seit 5 Jahren unseren D-Day für Doderer immer am 21. September. Und heuer eben mit dem Jubiläum 100 Jahre des Handlungstags der Strudlhofstiege. Am 21. September wird der bekannte Wiener Philosoph Franz Schuh mit wienlive-Herausgeber Helmut Schneider in den Sträuselsälen des Theaters in der Josefstadt über Doderer diskutieren. Die beliebte Josefstadt-Schauspielerin Martina Ebm wird einige Stellen aus der Strudlhofstiege lesen. Karten: josefstadt.org

Angeblich kannten die kleine Strudlhofstiege im Wien des Jahres 1951 – als der Roman erschien – nur die anwohnenden Alsergrunder. Der Verlag presste Doderer deshalb auch den Untertitel „Melzer und die Tiefe der Jahre“ ab, damit man das Buch verkaufen könne. Erst der Erfolg des Romans machte die 1910 eröffnete Fußverbindung im Stil des Jugendstils aus Mannersdorfer Kalkstein dann genauso berühmt wie ihren Verfasser. Wobei man sicher nicht falsch liegt, wenn man behauptet, dass sehr viele Heimito von Doderers „Die Strudlhofstiege“ nur dem Namen nach kennen. Die 900 Seiten, die der Wiener Schriftsteller seinen Lesern zumutet, haben es nämlich in sich. Wie bei vielen berühmten Werken der Literatur dürfte es zwei Lager geben, nämlich jene, die diesen Roman mit Innbrunst lieben und beim Lesen viel Spaß haben und jene, die ihn nach wenigen Seiten entnervt weglegen.

Das beginnt schon damit, dass sich der Inhalt des Romans kaum wiedergeben lässt, was den Autor sogar diebisch freute. „Ein Werk der Erzählungskunst ist es um so mehr, je weniger man durch eine Inhaltsangabe davon eine Vorstellung geben kann“, notierte er über seinen Roman. Dabei gehört es zum Faszinierendsten dieses Textes, dass „Die Strudlhofstiege“ auch sehr viele Ingredienzien von damaligen Kolportageromanen enthält – wir erleben eine Ehetragödie, die in Selbstmord endet, einen spektakulären Unfall, natürlich Liebesgeschichten & Sex, einen versuchten Schmuggel zwecks Zollbetrug, eine Frau, die es pikanterweise doppelt gibt und eine Bärenjagd.

Andererseits hat das Buch tatsächlich keine Hauptperson. Major Melzer, der im Untertitel genannt wird, ist über lange Strecken abwesend und Doderer verweigert ihm im Roman sogar einen Vornamen. Überhaupt scheint der Autor als Erzähler immer gegenwärtig und präsent. Er lässt uns quasi glauben, dass er die vielen Geschichten und Anekdoten von denen er berichtet, selbst von irgendwo erfahren hat und nur aufschreibt.

In fast kindischer Boshaftigkeit ist Doderer natürlich alles andere als politisch korrekt. Ja, er hält viele seiner Figuren – auch Melzer – für geradezu dumm oder zumindest unwissend. Nicht nur, aber gerade auch Frauen. Melzers spätere Frau Thea wird als Lämmchen beschrieben, das man auf die Weide stellen muss, wo sie dann ab und zu „Bäh“ machen darf. Andererseits finden gestandene Frauen gleich alle Männer als „dumm und umständlich“. Einmal regt der Erzähler gar Wörterbücher für Frauen und Wörterbücher für Männer an – samt Übersetzungshilfen, da die beiden Geschlechter ja pausenlos aneinander vorbeireden. Dann beschreibt Doderer wieder einen Mann als „Schlagetot … mit dem Mund eines Negers“. Fraglich, ob so ein Roman heute erscheinen könnte.

Doderer stößt schon auf der allerersten Seite des Buches etwas an, das er ganz am Ende auflöst, nämlich den Straßenbahnunfall der Mary K, bei der diese am 21. September 1925 ein Bein verliert und der zufällig vorbeikommende Melzer ihr durch im Krieg trainierte Schlagfertigkeit – er bindet ihr das Bein ab – das Leben rettet. Der ganze Roman ist auf dieses eine Ereignis hingeschrieben, wobei sich die Spannung aus der Frage ergibt, ob denn alles so zufällig geschehen ist. Denn Melzer hatte Mary K. vor 15 Jahren einen Heiratsantrag nicht gestellt. Ihrer beider Leben wäre dann – vermutlich ohne Unfall – anders verlaufen. Und just als Melzer 1925 Mary K. versorgt, ist seine spätere Frau Thea neben ihm und hilft. Doderer scheint in allen seinen Romanen vom Spannungsfeld zwischen Schicksal und Bestimmung geradezu besessen zu sein. Als Erzähler hält er die Fäden in der Hand, seine Figuren lässt er indes in Zufälligkeiten taumeln. Die Zwillingsschwestern werden zufällig von einer Frau entdeckt, die jemanden am Bahnhof abholt, ein Brief wird von der Falschen geöffnet und so weiter und so fort.

Seine Figuren gehören dem vermögendem Bürgertum sowie dem Kleinbürgertum an, Arbeiter, also Proletarier – 1925 sind wir immerhin mitten im „Roten Wien“ –  kommen in dem Roman keine vor. Und noch etwas ist bemerkenswert. Obwohl zwei Hauptakteure – Major Melzer als auch René von Stangeler – im 1. Weltkrieg an der vordersten Front waren, bleibt der Krieg seltsam ausgespart. Wir wissen nur, dass Melzers Lebensmensch – Major Laska, mit dem er auf Bärenjagd am Balkan war, – in den Armen Melzers stirbt. Auch die Wirtschaftskrise und die Inflation jener Zeit werden höchstens gestreift – nur einmal wird eine politische Mission zur Rettung der österreichischen Währung erwähnt. Alle beschriebenen Figuren scheinen von 1911 bis 1925 nur älter geworden zu sein, sonst hat sich in ihren Lebensumständen kaum etwas geändert. Dabei hat Doderer „Die Strudlhofstiege“ teilweise mitten im 2. Weltkrieg geschrieben, wo er als Reservist im Hinterland seinen Dienst ableistete und sogar zeitweise in Kriegsgefangenschaft geriet. Seine finanzielle Lage war ebenso prekär, als Schriftsteller als der er sich seit seiner russischen Gefangenschaft im 1. Weltkrieg sah, war er nahezu unbekannt und er war als 50jähriger noch von Zuwendungen seiner Mutter abhängig.

Wienroman oder Großstadtroman?

Doderers Roman ist voll mit genauen Ortsangaben, nicht nur die Strudlhofstiege als Schauplatz von teilweise dramatischen Szenen zieht sich durch das gesamte Werk, auch der Althanplatz (heute Julius-Tandler-Platz), wo sich der Unfall ereignet, die Porzellangasse, der Tennisplatz im Augarten, Graben und Kohlmarkt oder das damals noch biedermeierliche Lichtenthal-Viertel am Alsergrund werden immer wieder genannt. Und überall braust der Verkehr, namentlich die Straßenbahnen verbreiten gehörigen Lärm. Nun war Wien 1911 bekanntlich die sechstgrößte Stadt der Welt, aber spürt man das im Roman? Eher nicht, denn Menschenmassen lässt Doderer nicht zusammenkommen. Definiert man Großstadtroman als ein Werk, in dem die moderne Stadt sozusagen Mitspieler ist (genannt wird immer etwa Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“), wird man kaum fündig. Klar gibt es einen Genius Loci, nachgerade auf der Strudlhofstiege, und die Figuren haben unzweifelhaft etwas Wienerisches, was besonders deutlich wird, wenn Doderer etwa einen deutschen Major reden lässt. Sein Personal ist tief in der Kultur Wiens verwurzelt – seien sie nun ehemalige k.u.k.-Beamte oder sogar Angehörige der ungarischen Botschaft, weil sie eben einen Job brauchen und den zugehörigen Pass haben. Das Wien Doderers ist also nur in Ansätzen eine hektische Großstadt, man verbringt hier im Sommer – und „Die Strudlhofstiege“ spielt nur im Sommer, Wien „zerrinnt“ vor Hitze – die Tage gerne in den Bergen an der Rax oder an der Donau in Greifenstein und Kritzendorf.

Am 21. September, 11 Uhr, feiern wir im Theater in der Josefstadt Heimito von Doderer mit einem D-Day für Doderer.

Foto: (c) Heribert Corn / Zsolnay

Zwillingsgeschwister – Jente Posthumas Roman „Woran ich lieber nicht denke“ über einen Verlust

Zwillinge sind wohl eine eigene Spezies. Gleichalt aufwachsen, oft sich ähnlich sehend und doch verschieden, sofern es sich nicht um eineiige Zwillinge handelt. Die niederländische Autorin Jente Posthuma beschreibt ein solches Zwillingspaar aus der Sicht des Mädchens, das um ihren Zwillingsbruder trauert, der sich mit 35 Jahren das Leben genommen hat. Dass sie das nicht mit teigigem Trübsinn macht, verleiht dem Roman den nötigen Charme und die gebotene Ernsthaftigkeit. Die Schwester erzählt jeweils in kurzen Sequenzen, in denen sie in Zeit und Thema springt. Etwa indem sie von den Zwillingsexperimenten Josef Mengeles berichtet, vom Einsturz der Twin Towers oder vom Selbstmord Sylvia Plaths.

Der Bruder war nur 45 Minuten älter, nannte sich aber „Eins“ und die Schwester (wie selbstverständlich) „Zwei“. Er war anfangs der Robuste, immer Quirlige und die Schwester die Fragende. In der Schule wird er gemobbt, denn früh zeigt sich auch, dass er homosexuell ist. Die Schwester zieht sich zurück und verwendet Pullover als Ersatz-Kuscheltiere. 142 bunte Pullover umfasst ihre Sammlung, als sie konstatiert: „Es wurde Zeit, in Therapie zu gehen.“ Sie findet freilich einen verständnisvollen Partner, der ihr sogar nachsieht, dass sie nach dem Tod des Bruders nächtelang in dessen naher Wohnung schläft.

Der Roman wurde zurecht für den Booker-Preis nominiert. Ein sehr genaues Porträt einer Zwillingsbeziehung und eines Verlustes.

Jente Posthuma: Woran ich lieber nicht denke. Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke. Luchterhand, 256 Seiten, € 23,95

Kinderlesefest im Rathaus – Gratisbücher für Kinder

Am 27. Juni 2025 verwandelt sich der imposante Arkadenhof des Wiener Rathauses wieder in ein buntes Paradies für kleine Bücherwürmer: Das Wiener Kinderlesefest lädt ab 10 Uhr alle Kinder zwischen 6 und 14 Jahren herzlich ein, sich zum Auftakt der Sommerferien kostenlos mit spannender Sommerlektüre einzudecken – Open Air und ganz zentral im Herzen der Stadt! 

Bereits zum 14. Mal wird mit dieser beliebten Veranstaltung ein starkes Zeichen für Leseförderung mit Freude gesetzt: ohne erhobenen Zeigefinger, dafür mit jeder Menge Begeisterung, Kreativität und Lesespaß. In den vergangenen Jahren strömten zehntausende Kinder zum Fest – und auch heuer wartet wieder ein vielfältiges Programm. 

Neben dem persönlichen Gratis-Buch, das sich jedes Kind direkt vor Ort aussuchen darf (dank der Unterstützung zahlreicher Verlage), sorgt ein buntes Rahmenprogramm für Unterhaltung und Neugier: In der Vorlese-Ecke powered by vormagazin finden im Laufe des Tages spannende Lesungen statt.

Koreanerinnen in Berlin und Bremen – Ta-Som Helena Yuns Roman „Oh Sunny“

Die 1985 in Berlin geborene Ta-Som Helena Yun bringt in ihrem Debütroman die Zerrissenheit einer jungen Frau zwischen zwei Welten auf den Punkt. Dabei läuft für ihre Protagonistin Sunny auf den ersten Blick alles bestens. Das Jurastudium hat der 26-Jährigen wenig Mühe gemacht. Die aus Korea stammenden Eltern können ihre Tochter bei Bekannten aus der Community mit Stolz präsentieren. Doch in Wirklichkeit ist Sunny am Ende ihrer Kräfte. Sie glaubt noch immer, ihre Abtreibung mit 16 würde als Makel an ihr bis in alle Ewigkeiten kleben und ihre Beziehung zu einem angehenden Arzt ist zerbrochen. Nach einem Streit mit ihrer dominanten Mutter flüchtet Sunny aus Bremen nach Berlin zu der etwas älteren Ha, die mit Sunny in der Familie aufgewachsen war, weil sie die Verhältnisse in Korea nicht ertragen konnte. Ha leitet ein koreanisches Sport- und Kulturzentrum am Rande der Stadt. Und dort zieht Sunny kurzerhand ein. Das Periphere, Unsichere ihrer Existenz scheint ihr entgegenzukommen – sie startet nur halbherzig Versuche, Job und Wohnung zu finden. Monatelang lebt sie neben Turnmatten und Medizinbällen. Nach und nach begreifen wir ihre Situation, die ähnlich vieler Migranten scheint. Wobei natürlich die allermeisten weit weniger privilegiert sind. Denn Sunnys Eltern sind wohlhabend, der Vater war in Korea Führer der Opposition und ist in Deutschland Professor. Und Sunny ist perfekt zweisprachig.

Ha überträgt ihr schließlich ein Projekt. In Berlin wurde ein Denkmal für die sogenannten „Trostfrauen“ errichtet, das jetzt plötzlich im Viertel zu stören scheint. Unter diesem euphemistischen Begriff sind Frauen gemeint, die während der japanischen Besatzung Koreas den fremden Soldaten zu Diensten sein mussten. Nach dem Weltkrieg wurden diese oft von ihren eigenen Angehörigen abermals gedemütigt und gemieden.

 Ta-Som Helena Yun beschreibt aber auch andere Koreanerinnen in Berlin. Und so besteht das Bild einer eigenen Gemeinschaft mit Ha im Mittelpunkt. Doch Ha ist weit weniger stark als Sunny anfangs vermutet.

Ta-Som Helena Yun wirft einen interessanten Blick auf eine spezielle Community, das Buch liest sich sehr unterhaltsam – obwohl die Hauptperson ja über lange Strecken antriebslos ist und die Konfliktszenen – etwa mit Sunnys Mutter – nicht groß ausgeschlachtet werden. Gehört auch einmal gewürdigt: Der Leykam Verlag macht ausnehmend sorgfältig und originell gestaltete Bücher.  

Ta-Som Helena Yun: Oh Sunny, Leykam Verlag, 272 Seiten, € 24,50

Endlosschleife Patriachat – „Kitty“ von Satoko Ichihara bei den Wiener Festwochen

Ein Theaterabend wie eine Gehirnwäsche: Schon die fast andauernd laufende Teletubbies-Musik macht betrunken, aber das Gezeigte setzt da noch einen drauf. Ein Mädchen taumelt durch den Familienalltag, die harmlose Kindchen-Erzählerstimme kommt aus dem Off, Papa und Mama haben groteske Katzenmasken auf und benehmen sich stereotyp. Denn Papa will dauern Fleisch essen, Mama ekelt davor. Der Patriarch schreckt auch vor Vergewaltigung nicht zurück, um sein Recht durchzusetzen. In der Küche blinkt und surrt es wie in einem Casino.  

Die japanische Theatermacherin Satoko Ichihara schickt in „Kitty“ – nach der besonders bei Kindern beliebte Comicfigur „Hello Kitty“ – ihre Protagonistin durch alle Höllen, in denen Frauen ausgebeutet und geknechtet werden. Die Protagonistin ist als einzige ohne Maske, ihr begegnen als Empfangsdame, Pornodarstellerin und Prostituierte andauernd Männer in absurd-niedlichen Kostümen – eine Horrorshow des Patriachats. Ihre Devise: immer nur freundlich lächeln, die japanische Tugend, die wohl nur für Frauen gilt. Im Rahmen der Geschichte verliert sie ihr geliebtes Kätzchen Charmy, formt sie einen „Fleisch-Mensch“ und bricht gar ins Weltall auf. Nur vier Darstellerinnen schaffen die Comic-Handlung – Sung Soo-yeon, Yurie Nagayama, Birdy Wong Ching Yan, und Yuka Hanamoto –, eine wahrlich gigantische Leistung, die vom interessierten Publikum auch mit viel Applaus belohnt wird. Am Ende sieht man sie alle maskenlos – da bieten sie in Werbefernsehmanier Schlüsselanhänger von allen im Stück aufgetretenen Figuren an.

www.festwochen.atFoto: Toshiaki Nakatani

25 Jahre Haus der Musik – Am 14./15. Juni wird bei freiem Eintritt gefeiert

Seit dem Jahr 2000 hat sich das Haus der Musik in der Seilerstätte zu einem interaktiven Hotspot für Musikvermittlung und kulturellen Austausch entwickelt. Es ermöglicht Besucherinnen und Besuchern, Musik nicht nur zu hören, sondern aktiv zu erleben. Mehr als 5,5 Millionen Besucher*innen haben die Institution bereits besucht. Das Haus der Musik, ist ein Museum der Wien Holding.

Das Haus der Musik feiert nun sein 25-jähriges Bestehen und lädt am Samstag, 14. und Sonntag, 15. Juni zu einem großen Jubiläumswochenende bei freiem Eintritt in die
Seilerstätte 30, 1010 Wien – mit musikalischen Gratulationen der Wiener Philharmoniker.

Denn die Wiener Philharmoniker sind seit Anbeginn eng mit dem Haus der Musik verbunden. In der ersten Etage des Museums befinden sich:

das Museum der Wiener Philharmoniker,

das offizielle Orchesterarchiv,

sowie der historische Gründungsort des Orchesters im Jahr 1842 durch Otto Nicolai, der im ehemaligen Palais Erzherzog Karl – dem heutigen Haus der Musik – lebte.

Das Haus der Musik steht unter der Ehrenpräsidentschaft von Maestro Zubin Mehta, einem der bedeutendsten Dirigenten der Gegenwart. Seine langjährige Verbundenheit mit dem Museum und den Wiener Philharmonikern unterstreicht die internationale Bedeutung des Hauses als Botschafter Wiener Klangkultur.

Höhepunkte des Jubiläumsprogramms im Haus der Musik:

Samstag, 14. Juni 2025 | 11:00 Uhr
Gernot Kranner: „Der Zauberer von Oz“
Ein fantasievolles Mitsing-Musical für Kinder und Familien
Freier Eintritt – Zählkarten erforderlich

Sonntag, 15. Juni 2025 | 11:00 Uhr
Matinee mit dem Ensemble Wien
Mitglieder der Wiener Philharmoniker spielen live im überdachten Innenhof

www.wienholding.at www.hdm.at

Aufbruch & Untergang der DDR – Christoph Heins Monumentalroman „Das Narrenschiff“

752 Seiten über ein Staatsgebilde, das es seit 1989 nicht mehr gibt. Soll man sich das antun? Ja, unbedingt! Denn zum einen unterhält Christoph Hein trotzt mancher Längen und trotz eines sehr nüchternen Stils durchaus mit interessanten Romanfiguren. Und zum anderen ist die DDR natürlich Geschichte, aber an den Verwerfungen dieser Zeit kauen nicht nur die Deutschen noch immer, wie überhaupt fast alle ehemaligen Staaten der Sowjetunion an Russland eine dicke Rechnung stellen müssten. Und: Die DDR war eine Diktatur, eine Staatsordnung, die leider wieder Konjunktur zu haben scheint.

Hein konzentriert sich dabei auf 6 Menschen, deren Leben er mit der DDR-Geschichte – vom Aufstand in der Stalinallee 1953, der geheimen Rede Chruschtschows nach Stalins Tod über dessen Terror, dem Ungarn-Aufstand 1956, dem Mauerbau, dem Prager Frühling bis zu den Montags-Demos und dem Mauerfall – spiegelt.

Und zwar: Johannes Goretzka, der vom glühenden Nazi zum Stalinisten mutiert, Kartsen Emser, Professor und Politbüro-Mitglied, deren beider Frauen, die ebenfalls Karriere im Regime machen, sowie Benaja Kuckuck, ein exzellenter Shakespeare-Kenner, der sich Hoffnungen auf eine Professur macht dann aber in der Kulturverwaltung arbeiten muss. Alle Männer kommen aus dem Exil und repräsentieren den Willen, einen wirklich gerechten sozialistischen Staat zu schaffen. Goretzkas Frau Yvonne bringt ihre Tochter Kathinka in die Ehe mit – deren Vater war ein Jude, dem die Flucht aus Nazi-Deutschland nicht gelungen ist. Im Freundeskreis werden die jeweiligen politischen Ereignisse diskutiert, man hilft sich auch gegenseitig im sicheren Wissen, dass man gegen die Partei niemals im Recht sein kann. Wer aufbegehrt, verliert die Mitgliedschaft und darf – wenn er Glück hat – nach einem Jahr an der Parteischule wieder einen Antrag stellen. Und natürlich war der Staat, wie die Ökonomen bald schon wissen, wirtschaftlich eine Fehlkonstruktion wie überhaupt der Kommunismus wegen fehlender Anreize zum Wettbewerb niemals funktionieren konnte. Am Ende wird der Ausverkauf des DDR-Vermögens geschildert, viele verlieren Heim und Hof, denn findige Juristen verhelfen den Erben ehemaliger Eigentümer wieder zu ihren Rechten.

Klingt alles recht trocken, aber Hein bringt auch private Schicksale – Banaja ist homosexuell und muss das zunächst auch in der DDR verbergen, Yvonne hat Affairen, da ihr Mann nicht nur invalide, sondern auch völlig lieblos zu ihr ist. Kathinka versucht einen Weg abseits der Parteilinie und wird Teil der Montags-Demos. „Das Narrenschiff“ wirkt schon wegen des konsequent auktorialen und chronologischen Erzählens wie aus der Zeit gefallen. Aber es zahlt sich aus, einen Staat beim Werden und Untergehen zu verfolgen.

Christoph Hein: Das Narrenschiff. Suhrkamp Verlag, 752 Seiten, € 28,80