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Wien verdankt dem Regisseur und Autor Markus Kupferblum viele ungewöhnliche Opern- und Theaterproduktionen. Nun lebt er mit seiner Familie in Boston und gerade ist sein Bühnenkünstler-Credo als Buch erschienen.

Für den Zauber der Bühne

„Theater muss die Wahrheit des Augenblicks feiern. Denn auch wenn morgen dasselbe Stück gespielt wird, ist es immer wieder neu und anders.” – Markus Kupferblum. | ©Stefan Diesner

Text: Helmut Schneider

Wien verdankt dem Regisseur und Autor Markus Kupferblum viele ungewöhnliche Opern- und Theaterproduktionen. Nun lebt er mit seiner Familie in Boston und gerade ist sein Bühnenkünstler-Credo als Buch erschienen.

Hier in Wien macht der Regisseur, der schon an sehr vielen Orten der Welt inszeniert, gefilmt, gespielt und unterrichtet hat, nur noch eine Gesprächsreihe im Porgy & Bess mit bekannten Kulturschaffenden wie zuletzt mit Robert Schindel. Nicht nur weil seine Frau in Harvard ihren PhD macht, seine Kinder dort zur Schule gehen und er selbst in Harvard unterrichtet. In Wien wurde es für ihn, der schon 1992 beim hoch angesehenen Festival von Avignon ausgezeichnet wurde und der 2007 einen Nestroypreis erhielt, immer schwieriger, seine Inszenierungen zu finanzieren. Der in Wien Geborene ist ausgebildeter Clown, hat auch als Schauspieler viel gespielt und unterrichtete etwa in Wien, Tel Aviv, Teheran, Frankfurt, Michigan, Louisiana, Boston, New York und Bolivien.

wienlive: Wie verlief Ihr künstlerischer Werdegang?

Markus Kupferblum: Ich habe meine künstlerische Sozialisation in Paris erfahren und war bei Peter Brooks englischer Version der „Mahabharata“ dabei – der war schon damals mein Idol und ich war erst 20. Seine Konzentration auf die Menschen – die Schauspieler – hat mich sehr geprägt – denn sie sind es schließlich, die uns die Geschichten erzählen. Das hatte ich nicht gekannt, denn ich bin ja in Wien mit der Theatertradition des Burgtheaters aufgewachsen. Brook wurde später von Peymann gefragt, ob er fürs Burgtheater arbeiten möchte, und hat glatt abgelehnt. Ich hab ihn nach dem Grund gefragt und er hat geantwortet: Ich brauche Zeit! Das hat mich sehr fasziniert. 

Mit 22 habe ich bereits meine erste freie Operngruppe gegründet, weil ich den Betrieb an der Staatsoper ungeheuer aufgeblasen gefunden habe. 

Worum geht es im neuen Buch? 

Meine Helena in „Die Schönheit der Helena“ ist jene aus dem Sommernachtstraum. Ihr Monolog ist für mich schon lange die beste Gelegenheit, jungen Schauspielerinnen und Schauspielern zu zeigen, wie man an eine Rolle herangeht. Mein Buch ist sozusagen ein Manifest für ein sinnliches Theater. Ich finde das noch immer vorherrschende postdramatische, zerstörerische Theater inzwischen sehr altbacken. Es hatte etwa in Berlin nach dem Fall der Mauer eine wichtige Funktion, aber es ist für mich nicht mehr befriedigend, so an Literatur heranzugehen. Als „Brookianer“ fehlt mir die einmalige Chance, Theater als Labor zu erleben, in dem die großen Konflikte der Menschheit abgehandelt werden. Deswegen hat Brook ja so viel Zeit für seine Inszenierungen gebraucht – er probte eineinhalb Jahre! Das hat mich als Junger fast wahnsinnig gemacht: Ich habe bei ihm Proben erlebt, die perfekt waren – und dann hat er gemeint: so, jetzt können wir das streichen. Er war der Meinung, dass man sich nie an etwas klammern dürfe und dass man durch die Streichung Gelegenheit für etwas Neues bekomme. 

Markus Kupferblum wurde 1964 in Wien geboren und studierte u. a. in Paris bei Philippe Gaulier und Monika Pagneux und an der New York University. – ©Stefan Diesner
Markus Kupferblum wurde 1964 in Wien geboren und studierte u. a. in Paris bei Philippe Gaulier und Monika Pagneux und an der New York University. – ©Stefan Diesner

Das Theater heute will ja inzwischen überkorrekt sein, wie sehen Sie das?

Political Correctness hat sicher seine Berechtigung, aber wenn man das ganz genau nimmt, heißt es doch, dass man kein Stück von Shakespeare mehr spielen dürfte. Bei „Romeo und Julia“ gibt es Sex mit Minderjährigen, beim „Kaufmann von Venedig“ den Antisemitismus, bei „Othello“ begeht ein Afrikaner einen Mord. Wenn Menschen etwa in einer Komödie über Menschen lachen, ist es ja das Ziel, dass sie erkennen, dass sie über sich selbst lachen. Diese Großzügigkeit, über sich selbst lachen zu können, ist doch eine der wunderbarsten menschlichen Qualitäten! Das wissen wir seit Aristoteles. Mit Political Correctness wird es sehr, sehr ernst auf unserer Welt.

Ist das vielleicht auch ein Grund, warum immer weniger Menschen ins Theater gehen?

Ich kann mir vorstellen, dass es da einen Zusammenhang gibt. Wenn sich das Theater nicht mehr darauf konzentriert, was es kann und was es besser kann als ein Netflix-Abo mit Millionen Filmen, dann wir niemand mehr ins Theater gehen. Denn es kostet viel Geld, man kann nicht in Hausschuhen Popcorn essen, nicht auf Stopp oder Fast Forward drücken, kann sich nicht zwischendurch ein Bier holen. Es geht um das Erlebnis, dass ein echter Mensch im selben Raum vor dir steht und du diesen Raum mit vielen anderen Menschen teilst, die dieselbe Empathie zu entwickeln imstande sind. Theater muss die Wahrheit des Augenblicks feiern. Denn auch wenn morgen dasselbe Stück gespielt wird, ist es immer wieder neu und anders.

Am schwierigsten ist es, die Jugend zum Theater zu verführen, oder sehen Sie das anders?

Ich bin da nicht so sicher. Wir Theatermacher müssen auf jeden Fall lernen zuzuhören und herauszufinden, was für Bedürfnisse die Jugendlichen haben. Eigentlich habe ich nur gute Erfahrungen mit ihnen gemacht – und dies auch immer gerne. In Litauen kurz nach der Wende habe ich mit arbeitslosen russischen Jugendlichen, die sich zu Recht völlig ausgeschlossen gefühlt haben – es durfte ja nicht einmal mehr Russisch gesprochen werden –, Straßentheater geprobt. Wir haben dann am Hauptplatz von Vilnius eine Show aufgeführt. Und diese Kinder waren so glücklich, weil ihnen zum ersten Mal von Menschen applaudiert wurde. 


Die Nobelpreisträgerin Toni Morrison schrieb „Rezitativ“ das von zwei Waisenmädchen handelt. – ©Bert Andrews

10 Bücher, die ich gerne gelesen habe – Helmut Schneiders Buchtipps

Die Nobelpreisträgerin Toni Morrison schrieb „Rezitativ“ das von zwei Waisenmädchen handelt. – ©Bert Andrews

Ende des Jahres gibt es ja überall Bestenlisten. Sowas kann ich nicht anbieten, denn mehr als ein Buch pro Woche ist – so man sonst noch einen Job hat – kaum zu schaffen, denn die umfangreichen Bücher schlucken den Zeitgewinn, den man mit den schmäleren aufbaut. Jedes Jahr gibt es logischerweise sehr viele Bücher, die ich gerne gelesen hätte. Zudem weiß ich natürlich, dass jeder/jede einen ganz speziellen Buchgeschmack hat. Deshalb tue ich mir extrem schwer, wenn ich Menschen, die ich nicht gut kenne, etwas empfehlen soll.

Die unten angeführten Titel waren für mich jedenfalls ein großer Gewinn und mögen vielleicht für Menschen, die gerne lesen, eine Empfehlung für die Feiertage darstellen.


Steffen Kopetzky: Damenopfer
Hanser
444 Seiten
€ 27,50

Die ansprechend erzählte Geschichte einer klugen Revolutionärin des russischen Bürgerkriegs inmitten der implodierenden Weltpolitik. Ist sogar spannend.


Barbi Marković: Minihorror
Residenz Verlag
192 Seiten
€ 25,-

Skurrile Skizzen aus dem Leben eines Paares in Wien – samt Monstern plus Zeichnungen. Macht süchtig.


Sepp Mall: Ein Hund kam in die Küche
Leykam
192 Seiten
€ 25,50

Das vergessene Kapitel der von Hitler verratenen deutschsprachigen Südtiroler erzählt durch die Augen eines Kindes. Der Autor findet eindrucksvolle Bilder.


Wolf Haas: Eigentum
Hanser
160 Seiten
€ 23,50

Die Geschichte einer einfachen, arbeitssamen Frau – der Mutter des Autors – vor dem Hintergrund des um sie herum anwachsenden Wohlstandes.


Deepti Kapoor: Zeit der Schuld
Blessing Verlag
688 Seiten
€ 29,50

Eine Art indischer Mafia-Thriller, der allerdings viel über den Zustand des Landes offenbart. Spannender als Netflix-Schauen.


Susanne Gregor: Wir werden fliegen
Frankfurter Verlagsanstalt
254 Seiten
€ 25,50

Ein tschechoslowakisches Geschwisterpaar will aus dem Kommunismus heraus und hat dann andere Schwierigkeiten, als es die Grenzen nicht mehr gibt.


T. C. Boyle: Blue Skies
Hanser
400 Seiten
€ 29,50

Auch die Klimakatastrophe kann mit Galgenhumor betrachtet werden – und niemand macht das so ansprechend wie der Kalifornier.


Joshua Cohen: Die Netanjahus
Schöffling & Co.
288 Seiten
€ 26,50

Ein urkomischer Collegeroman, in der die berühmte israelische Familie wie ein Heuschreckenschwarm in einen kleinen Campus einfällt.


Eva Viežnaviec: Was suchst du, Wolf?
Zsolnay
141 Seiten
€ 23,50

Ein ungemein kraftvoller Roman über eine Familie in Belarus im Spiegel der wechselvollen und immer grausamen Geschichte.


Toni Morrison: Rezitativ
Rowohlt
96 Seiten
€ 21,50

Die einzige Erzählung der 2019 verstorbenen Nobelpreisträgerin über zwei Mädchen in einem Waisenhaus – eine ist weiß, die andere schwarz und die Autorin verrät nicht, welche welche ist.


Muttertier wird zum Mutterwolf – Rachel Yoders Roman einer Metamorphose „Nightbitch“.

Muttertier wird zum Mutterwolf – Rachel Yoders Roman einer Metamorphose „Nightbitch“.

Werwolf heißt etymologisch aufgeschlüsselt ja Mannwolf. Die Verwandlung eines Mannes in einen Wolf gehört nach wie vor zu den beliebtesten Genres, es gibt unzählige Filme, in denen vor allem Teenager zu Bestien mutieren. Die in Iowa lebende Schriftstellerin Rachel Yoder zeichnet freilich die Verwandlung einer Mutter in einen Hund nach. Die Erzählerin nennt sich nach einer ersten Nacht, in der sie in der Kleinstadt nackt herumstreift, auf den Rasen des unsympathischen Nachbarn scheißt und kleine Säugetiere reißt, selbst „Nightbitch“ oder Wermutter. Vorangegangen ist dieser Metamorphose die Erkenntnis, dass sie sich als Nur-Mutter eines 2-jährigen Knaben auf einem gesellschaftlichen Abstellgleis befindet und absolut keine Zeit mehr für sich selbst hat.

Ihre Karriere als Künstlerin und Galeristin hat sie aufgegeben, zumal ihr sie durchaus liebender Mann die meiste Zeit auf Dienstreise ist und sie mit ihren Elternpflichten allein lassen muss. Das zählt auch zu den Stärken dieses feministischen Romans – die Autorin kommt ohne plumpe Feindbilder aus, denn Nightbitch liebt ihren Mann und ihr Kind, weiß aber keinen Ausweg aus der Öde zwischen Kinderspielplatz und den endlosen Ritualen, bevor ihr Sohn endlich einschläft. Zwar kann sie die anderen Mütter, die sie in der Bücherei und am Spielplatz trifft, nicht ausstehen, aber sie ist klug genug, sie als Spiegelungen ihrer selbst zu erkennen.

Aber eines Tages wachsen ihr eben Haare am Körper und am Steiß bekommt sie etwas, das einem Schwanz ähnelt. In den Schilderungen von Frauengesellschaften, denen plötzlich Flügeln wachsen oder eben Wölfe werden von einer geheimnisvollen Autorin namens Wanda White erkennt sie sich wieder. Und außerdem hat ihr Sohn viel Freude daran, wenn sie mit ihm Hund spielen kann. Er trägt gerne ein Hundehalsband und schläft endlich problemlos im Hundekörbchen.

Der Roman endet mit einer spektakulären „künstlerischen“ Performance vor den Müttern der Kleinstadt, in der Frauen oft die bessere Ausbildung, aber die Jobs die Männer haben. Rachel Yoder ist ein verstörender Roman über die Rolle der Mutter in unserer Gesellschaft gelungen, der aufzeigt, dass hier dringend Änderungsbedarf besteht. Sicher nicht nur in amerikanischen Kleinstädten.


Rachel Yoder: Nightbitch
Aus dem Englischen von Eva Bonné
Klett-Cotta
300 Seiten
€ 25,50

Letzte Jahre in Paris. Lea Singers Roman über Joseph Roths Geliebte Andrea Manga Bell ist Helmut Schneiders Buchtipp.

Letzte Jahre in Paris – Lea Singers Roman über Joseph Roths Geliebte Andrea Manga Bell 

Über Joseph Roths Ende im Mai 1939 als mittelloser Alkoholiker in Paris mit nur 44 Jahren gibt es viele Anekdoten und Legenden. Fast zehn Jahre war Roth, der zeitweise zu den bestbezahlten Autoren Europas gehörte, dem sein Geld allerdings aufgrund großzügiger Trinkgelder, exquisiter Hotels und natürlich wegen seines unfassbaren Schnapskonsums zwischen den Fingern zerrann, mit Andrea Manga Bell zusammen, die für ihn diverse Anstellungen als Journalistin und Grafikerin aufgab, seine Romane tippte und redigierte. Die Deutsche, deren Vater ein berühmter kubanischer Pianist und die mit dem Prinzen von Kamerun verheiratet war, der sie allerdings mit 2 Kindern sitzen ließ, soll neben Roths Ehefrau, die in diversen Nervenheilanstalten untergebracht war, Roths einzige Liebe gewesen sein.

Lea Singer hat dieser Frau jetzt mit ihrem Roman „Die Heilige des Trinkers“ ein literarisches Denkmal gesetzt. Das Buch beginnt und endet am Pariser Friedhof, auf dem Joseph Roth seine letzte Ruhestätte fand. Andrea Manga Bell erzählt aus ihrer Perspektive, sie kürzt sich bescheiden mit A. ab. Am Anfang steht das Begräbnis, wo sie von den meisten Freunden Roths geschnitten wird und am Ende A.s letzter Besuch am Friedhof im Frieden – denn 1941 ziehen die Deutschen unter Getöse in Paris ein. Dazwischen erleben wir – sehr dicht und sehr anschaulich geschildert – die Aufopferung einer Frau im Dienste eines von ihr verehrten Genies. A. ist permanent für Roth da, vernachlässigt ihre Kinder, erduldet rassistische Schmähungen und protestiert nicht, dass er überall herumerzählt, er kümmere sich um A.s Kinder – obwohl doch das meiste Geld von A.s Bruder kommt. Selbst Ausdrücke wie N*hure hält die dunkelhäutige Andrea Manga Bell, die man oft auch mit Josephine Baker verwechselt aus – wird doch gerade eine andere Gruppe von Menschen – Juden – ähnlich behandelt. Mit Entsetzen verfolgt das Paar die Ausschreitungen in Deutschland.

Roth war politisch hellsichtig, er flüchtete nach Hitlers Machtergreifung sofort nach Paris, auch in Österreich fühlte er sich als Jude schon vor dem Anschluss nicht mehr sicher, die Kapitulation Österreichs sah er voraus.

„Die Heilige des Trinkers“ – der Titel ist wohl eine Anspielung auf Roths Novelle „Die Legende vom heiligen Trinker“ – ist ein wunderbarer Roman, in dem man viel über die Widersprüche im Leben eines der größten deutschsprachigen Dichters erfährt und eine interessante Frau kennenlernt, die mutmaßlich keine Heilige aber sicher mehr als nur eine Helferin war.


Letzte Jahre in Paris. Lea Singers Roman über Joseph Roths Geliebte Andrea Manga Bell ist Helmut Schneiders Buchtipp.

Lea Singer: Die Heilige des Trinkers
Kampa Verlag
300 Seiten
€ 25,50

Zwischen Wien und New York – Dirk Stermann erzählt in Gesprächen das erstaunliche Leben der Erika Freeman.

Zwischen Wien und New York – Dirk Stermann erzählt in Gesprächen das erstaunliche Leben der Erika Freeman

Bevor sie sich um 10.30 zum Frühstück mit Dirk Stermann im Imperial trifft, behandelt sie immer noch via Skype ihre Patienten in New York und dabei ist es ihr gleich, dass es dort mitten in der Nacht ist. Erika Freeman ist jetzt 96, aber steht mitten im Leben – ein Triumph über die Nazis, die ihr in Wien nach dem Leben trachteten und alle schon tot sind.

1927 als Tochter eines jüdischen Arztes und einer Lehrerin in Wien geborenen musste sie mit 12 Jahren in die USA fliehen, wo sie zu einer weltberühmten Psychoanalytikerin wurde – angeblich lagen Stars wie Marlon Brando, Paul Newman, Marilyn Monroe oder Woody Allen auf ihrer Couch. Wenn diese es selbst nicht öffentlich machten, schweigt Freeman bis heute darüber. Außerdem war sie Gast vieler TV-Shows – auch die Sendungsmacher hatten ihr unglaubliches Talent für pointierte, witzige Sprüche erkannt.

Der Buchtitel „Mir geht’s gut, wenn nicht heute, dann morgen“ ist natürlich ein Zitat von ihr, die die Gabe hat, auch Schreckliches wie den Tod ihrer Mutter 1945 bei der Bombardierung des Philipphofs mit der Weisheit einer Frau, die viel erlebt hat, zu erzählen. Aus den vielen Frühstückstreffen hat Stermann jetzt ihr mit vielen Anekdoten gewürztes Leben erzählt. Oft schickt sie ihm später auch noch Sinnsprüche via SMA nach: „Wenn eine Frau auf Sex verzichten will, dann muss sie ihn heiraten.“

Freeman, deren Mutter als Vorbild für Isaac Beshevis Singers mit Barbra Streisand verfilmte Kurzgeschichte „Yentl“ gilt, hat zweifelsohne viel zu erzählen, von Flucht und Verfolgung, von Karriere und Prominenten, von Analysen und Analytikern. Dass Freeman jetzt im Imperial wohnt, hängt mit der Pandemie zusammen. Sie ist quasi nach einer Herzoperation in Wien gestrandet und war zeitweise der einzige Gast im Hotel. Inzwischen hat sie auch wieder die österreichische Staatsbürgerschaft.

Bei einer Gala in New York hatte sie ihrer Freundin Hilary Clinton ihr Österreichisches Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst gezeigt und erklärt: „They tried to kill me, now they decorate me.“
„Mir geht’s gut, wenn nicht heute, dann morgen“ ist ein Buch, das man sehr gerne liest, weil es so leicht und anekdotisch daherkommt – als Wiener freilich immer mit einem ambivalenten Gefühl. Schließlich hatten unsere Vorfahren sie ja tatsächlich zur Vernichtung vorgesehen.


Ein seltsames Leben – Monika Helfer erzählt in „Die Jungfrau“ von einer reichen, schönen Freundin.

Ein seltsames Leben – Monika Helfer erzählt in „Die Jungfrau“ von einer reichen, schönen Freundin

Ein Buch, das ich problemlos an einem Tag im Bad lesen konnte und das trotzdem einen großen Eindruck zurücklässt. Die Vorarlbergerin Monika Helfer, die mit ihren autobiografischen Romanen „Die Bagage“ (2020), „Vati“ (2021) und „Löwenherz“ (2022) spät, aber verdientermaßen, zum Literaturstar wurde, beschreibt in ihrem neuen Buch die Jugendfreundschaft mit der gleichaltrigen Gloria, die all das besitzt, was sie selbst – Moni – nicht hat: Ein Haus, Bedienstete, Geld und Schönheit. Doch zwischen den Fallstricken des Lebens scheint sich die glänzende Gloria geradewegs zu verlieren.

Die Aufnahmeprüfung im Reinhardt-Seminar schafft sie mit Bravour, doch als sie sich in einen verheirateten Lehrenden verliebt, wird es nichts mehr mit der Karriere. Hochdramatisch legt sie sich vor die Schwelle seiner Wohnung, die Ehefrau steigt nur darüber und nimmt es sogar hin, dass ihr Mann bei Gloria einzieht. Zu Sex soll es allerdings niemals kommen – Moni ist nicht ganz sicher, ob sie ihrer Freundin glauben soll. Zum 70. Geburtstag kommt ein Brief von Gloria – man hatte sich längst aus den Augen verloren – und Moni besucht die Freundin, die noch immer im Elternhaus wohnt, wo ihre halbverrückte Mutter mutmaßlich Unsummen an Geld versteckt hat, was die Tochter nicht interessiert.

Helfer ist eine ebenso genaue wie reflektierte Erzählerin. Nie gibt sie etwas als gewiss aus, stets hinterfragt sie sich, wie es gewesen sein könnte und was das für sie damals bedeutete. Sie selbst wohnte damals ja in einer beengten Wohnung, Geld war immer knapp und trotzdem nicht so wichtig. Moni heiratet früh – eine der einprägsamsten Stellen im Buch ist die Szene, in der sie von ihrem Schwager bei der Hochzeit entführt wird – ein alter Brauch – und dann vom Bräutigam nicht gefunden wird, obwohl sie genau dort sind, wo es am wahrscheinlichsten gewesen ist. Ein kluges Buch über die Möglichkeiten einer Biografie und die Zeit des Wirtschaftswunders in Österreich.


Ein seltsames Leben – Monika Helfer erzählt in „Die Jungfrau“ von einer reichen, schönen Freundin.

Monika Helfer: Die Jungfrau
Hanser Verlag
150 Seiten
23,50

Bürgermeister Michael Ludwig mit Autor Bernhard Schlink. – ©Stefan Burghart

GROSSER ANDRANG BEI DER 22. AUSGABE VON „EINE STADT. EIN BUCH“ MIT BERNHARD SCHLIN

Bürgermeister Michael Ludwig mit Autor Bernhard Schlink. – ©Stefan Burghart

100.000 Exemplare des 1995 erschienenen Romans „Der Vorleser“ werden in Wien in Buchhandlungen, Volkshochschulen, Büchereien und bei fast 500 Partnern verteilt.

Das Interesse war riesengroß, ist doch „Der Vorleser“ das erfolgreichste deutschsprachige Buch seit Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ vor bald schon 100 Jahren. Kate Winslet gewann in der Verfilmung 2008 einen Oscar in der Rolle der Analphabetin Hanna Schmitz.

Eröffnung

Bei der Eröffnung in der Hauptbücherei verteilte Bürgermeister Michael Ludwig gemeinsam mit Bernhard Schlink die ersten Exemplare. Ludwig: „Leider gibt es noch immer viele Menschen, die nicht sinnerfassend lesen können. Trotz Schulpflicht und trotz den Anstrengungen von Bildungsinstitutionen. Deshalb halte ich den heurigen Roman für besonders wichtig“.

Der Autor

Bernhard Schlink, 1944 im heutigen Bielefeld geboren, war auch nach seinem globalen Bestseller Professor für Recht und unterrichtete zuletzt an der Humboldt Universität in Berlin. Bei der Gala zu seinen Ehren im Festsaal des Wiener Rathauses las er auch selbst aus dem Vorleser. Moderatorin Chris Pichler antwortete er auf die Frage nach der Idee zu seinen Büchern: „Ich suche nie nach einem Thema. Die Geschichten kommen zu mir und ich schreibe sie dann auf.“

100.000 Exemplare von „Der Vorleser“ wurden in Wien in Buchhandlungen, Volkshochschulen, Büchereien und bei fast 500 Partnern verteilt.
Vorsitzender der Geschäftsführung Wien Energie DI Mag. Michael Strebl, Autor Bernhard Schlink, Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler und Bildungsminister Martin Polaschek bei der Gala. – ©Stefan Burghart

Gala

Mehr als 700 Menschen nahmen an der Gala teil. Unter den Gästen: Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler, Unterrichtsminister Martin Polaschek und der Vertreter des Hauptsponsors Wien Energie Michael Strebl, Chris Lohner, Michael Schottenberg und zahlreiche Autorinnen und Autoren wie Arno Geiger. Überraschungsgast war die 96jährige weltbekannte Wien-Heimkehrerin und Analytikerin Erika Freeman. Sie erzählte über ihre Begegnungen mit Frederic Morton – dem ersten Autor der Buchaktion „EineSTADT.EinBUCH“.

Autorengespräch

Das Wiener Stadtkino ermöglichte am Tag darauf 200 Wiener Schülerinnen und Schülern gemeinsam mit Bernhard Schlink den Film „Der Vorleser“ anzusehen und im Anschluss Fragen an den Autor zu stellen.

Und bei der Diskussion mit Bernhard Schlink im Dachsaal der Urania mit Blick über Wien sprach Wien live Chefredakteur Helmut Schneider vor einem interessierten Publikum mit Bernhard Schlink auch über den Zustand unserer Demokratien, Rechtsextremismus, KI und das Lesen. In den Wiener Volkshochschulen werden kostenfreie Kurse für Menschen mit Leseschwächen angeboten. Das Vorlesen ist – wie Bernhard Schlinks Roman eindrucksvoll zeigt – ein wichtiger erster Schritt zum Erlernen des Lesens.

Partner

Ein Projekt wie „Eine STADT. Ein BUCH.“ wäre ohne finanzielle Unterstützung nicht möglich. Mehr als 15 zahlende Sponsoren finanzieren diese Buchaktion – allen voran und von Beginn an, also seit 22 Jahren, Wien Energie und die Wiener Städtische Versicherung. Der Dank gilt aber selbstverständlich allen Förderern!


INFO
einestadteinbuch.at

Deutschland und Russland vereinen – Ein historischer Roman über eine außergewöhnliche Bolschewikin.

Deutschland und Russland vereinen – Ein historischer Roman über eine außergewöhnliche Bolschewikin

Im Schachspiel gibt es den raffinierten Spielzug des Damenopfers, bei dem die wertvollste Figur dem Gegner zum Fraß vorgeworfen wird und – so dieser anbeißt – in wenigen Zügen mattgesetzt werden kann. Steffen Kopetzky lässt in seinem neuen Roman seine Protagonistin Larissa Reissner eben jenen Schachzug machen, um einem Großmaul ebendieses zu stopfen. Die ruhmreiche Kämpferin der Roten Armee und Journalistin Larissa Michailowna Reissner ist freilich eine historische Figur. Obwohl sie bereits mit 30 Jahren an Typhus starb, wurde sie wegen ihrer Schönheit und ihres furchtlosen Einsatzes gegen die monarchistische Weiße Armee zur Legende – zumal sie auch als Spionin agierte.

Kopetzky, 1971 in Oberbayern geboren, ist ein gewiefter Erzähler. In seinem Bestseller „Monschau“ verarbeitete er etwa einen realen Pockenausbruch in den 60er-Jahren zu einem packenden deutschen Wirtschaftskrimi. Im neuen Roman faszinierte ihn ganz offensichtlich eine mögliche Annäherung des wirtschaftlich am Boden liegenden Deutschland nach dem 1. Weltkrieg und der sich mit vielen Schwierigkeit sich entwickelnden Sowjetunion noch unter Lenin. Larissa verbringt die Jahre nach dem Bürgerkrieg mit ihrem Mann, einen verdienten General der Roten Armee, in Afghanistan und findet dort den versteckten Plan eines deutschen Offiziers zum Angriff auf die britische Kolonie Indien von Kabul aus.

Larissa gelingt es – sie ist ja deutscher Herkunft, Deutsch ist ihre zweite Muttersprache – den deutschen Offizier ausfindig zu machen. Gleichzeitig versucht sie als inoffizielle Vertreterin des Politbüros und vor allem Trotzkis die Revolution in Deutschland zu befördern. Gelingt das – so ist nicht nur sie überzeugt – würde das einen Flächenbrand in Europa und sogar in den USA auslösen. Als Geliebte einiger wichtiger Männer bewegt sie sich sowohl in Moskau als auch Berlin zunächst recht frei. Doch Lenin hat seine Nachfolge nicht geregelt, er macht nichts, um Stalin zu verhindern, den er für einen skrupellosen Hitzkopf hält. Und der wesentlich intelligentere Trotzki steht sich bekanntlich selbst im Wege.

In „Damenopfer“ erfahren wir viel über die Stimmung in Deutschland und Russland nach dem Krieg. Zwar überfordert Kopetzky manchmal durch allzu viele Figuren seine Leser, doch in Summe ist dieser Roman ein intellektueller Genuss.


Deutschland und Russland vereinen – Ein historischer Roman über eine außergewöhnliche Bolschewikin.

Steffen Kopetzky: Damenopfer
Hanser
444 Seiten
€ 26,80

©Peter Rigaud

Bernhard Schlink – Diskussion über DER VORLESER in der Urania

Bild: ©Peter Rigaud

Im 22. Jahr der Gratisbuchaktion „Eine STADT. Ein BUCH.“ gibt es für alle Interessierten endlich wieder eine Gelegenheit, den Gastautor bei einer öffentlichen Diskussion zu erleben. Bernhard Schlink kommt nämlich am 8. November, 18.30 Uhr, in die Wiener Urania.

Im Dachgeschoß mit Blick über die Dächer Wiens wird er mit „Eine STADT. Ein BUCH.“-Kurator Helmut Schneider über seinen Megaerfolg DER VORLESER diskutieren. Im Anschluss sind auch Fragen aus dem Publikum möglich und Schlink wird auch signieren. Alle Gäste bekommen das Aktionsbuch, der Eintritt ist frei.

In dem in den späten 50er-Jahren spielenden Roman DER VORLESER geht es um die erste Liebe eines Schülers zu einer 36jährigen Frau, die sich später als Analphabetin herausstellt. Ihr Lesedefizit hat gravierende Auswirkung auf ihr Leben. Sie machte sich schuldig an einem Nazi-Verbrechen – als sie als Aufseherin Gefangene in einer Kirche verbrennen ließ. Den Job hatte sie nur angenommen, um ihre „Schande“ – nicht lesen zu können –, zu verschleiern. Selbst im späteren Prozess nimmt sie lieber die Schuld auf sich, als ihr Lesedefizit zu bekennen.

DER VORLESER war eines der wenigen deutschsprachigen Bücher, die auch im englischsprachigen Raum zum Bestseller wurden. Der Roman ist Schullektüre in Deutschland und wurde 2007 von Stephen Daldry fürs Kino adaptiert. In der Rolle der Analphabetin gewann die Schauspielerin Kate Winslet den Oscar als beste Hauptdarstellerin.

DER VORLESER ist für „Eine STADT. Ein BUCH.“ ein Glücksfall, geht es darin doch um die Bedeutung des Lesens als wichtigste Kulturtechnik.

Ein Projekt wie „Eine STADT. Ein BUCH.“ wäre ohne finanzielle Unterstützung nicht möglich. Mehr als 15 zahlende Sponsoren finanzieren diese Buchaktion – allen voran und von Beginn an, also seit 22 Jahren, Wien Energie und die Wiener Städtische Versicherung. Der Dank gilt aber selbstverständlich allen Förderern!

Alle Infos: www.einestadteinbuch.at

Das Grauen im Beziehungsalltag – Barbi Marković und ihr „Minihorror“

Mini und Miki sind ein Paar und leben in Wien. Sie ist Schriftstellerin und kommt aus Serbien, er arbeitet im Büro und stammt aus der Steiermark. Sie wollen „nett sein, aber nichts ist einfach“, heißt es gleich zu Beginn, denn überall außerhalb ihrer Beziehung lauert sowieso der Horror. Schon in der ersten der Geschichten über die beiden schleicht sich eine Cousine von Mini ein, die ganz harmlos tut, aber laut Mini ein „fleischfressendes Monster“ ist. Muss man schnell loswerden.

Schaurig auch die Story, in der Mini plötzlich in den sozialen Netzwerken die Befugnis erhält, fremde Beiträge zu löschen und sich gar nicht mehr von ihrem Smartphone trennen lässt oder wie Miki auf einen Arzt trifft, der ihn nicht zu Wort kommen lässt weil er ihm ununterbrochen von seinen eigenen Leiden und Symptomen erzählt. Zwischendurch trennt sich Mini von Miki, weil der zum Guru wird und erst kein Fleisch und dann nur noch Obst isst. Entlarvend komisch auch das Interview Minis mit einer Fernsehredakteurin.

Am Ende gibt es – bei den „105 weitere mögliche Horrors mit Mini und Miki“ als Draufgabe Zeichnungen der Autorin.

Barbi Marković, in Belgrad geboren und seit 2006 in Wien ansässig, schreibt in kurzen, einfachen Sätzen, die einen aber manchmal wie Axthiebe treffen. Sprachliche Verschleierungen sind ihre Sache nicht. Und deshalb wirkt ihr Alltagshorror auch so stark und unmittelbar. Ein ungemein gelungenes Buch, das man ungern aus der Hand legt, weil man immer noch mehr Geschichten von Mini und Mike lesen möchte.


Barbi Marković: Minihorror
Residenz Verlag
192 Seiten
€ 25,-