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Kunstfreiheit unter Goebbels – Daniel Kahlmanns Roman „Lichtspiel“ über G. W. Papst. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.

Kunstfreiheit unter Goebbels – Daniel Kehlmanns Roman „Lichtspiel“ über G. W. Papst

Daniel Kehlmann wird tatsächlich von Roman zu Roman immer besser. Sein Buch über den österreichischen Filmregiegiganten G. W. Papst (geboren 1885 in Böhmen, gestorben 1967 in Wien) zeichnet sich durch bestes schreiberisches Handwerk, Fokussierung auf ein Thema und sogar durch Humor aus. Kehlmann konzentriert sich nämlich auf einen – allerdings sehr wichtigen – Aspekt aus dem Leben von Papst. Warum kehrte er aus Hollywood nach Deutschland zurück als dort bereits Hitler seinen Krieg vorbereitete und wie überlebte er unter der Propagandamaschinerie von Joseph Goebbels im Kulturbetrieb? Und vor allem: Würde Papst dadurch moralisch schuldig?

Gleich zu Beginn steht eine der witzigsten Szenen des Buches, die aber bereits auf das Kernthema hinweist. Ein bereits fast dementer Regieassistent von Papst – Franz Wilzek – hat einen Auftritt bei Heinz Conrads „Was gibt es Neues“ und streitet mit dem stetig mehr angepissten Moderator über einen Film, der kurz vor Kriegsende von Papst gedreht wurde. Dieser Film – „Der Fall Molander“ – nach einem Roman des NS-Dichters Alfred Karrasch – gilt als verschollen und wurde auch nie geschnitten. Allerdings sollen dabei – wie im Roman breit geschildert – KZ-Häftlinge als Statisten eingesetzt worden sein.

In Hollywood hatte man Papst, der sich mit „Die freudlose Gasse“ in die erste Riege der Stummfilmregisseure katapultiert hatte, 1934 genötigt, ein schlechtes Drehbuch zu verfilmen – der Streifen „A Modern Hero“ war dann dementsprechend erfolglos. Er versucht vergebens Greta Garbo – seine Entdeckung – für ein Filmprojekt zu begeistern und kehrt zunächst nach Frankreich zurück. Um seine mutmaßlich kranke Mutter zu sehen, kommt er wieder nach Österreich, das es damals allerdings schon gar nicht mehr gab. In seinem Schloss hat der Hausmeister, ein NS-Parteigänger, bereits die Macht ergriffen. Plastisch beschreibt Kehlmann – permanent die Erzählperspektive wechselnd – auch die Audienz bei Goebbels oder die Kameraden von Jakob, den Sohn des Regisseurs. Der Roman über den Filmregisseur ist dabei durchaus sehr cineastisch geworden. Das mag manche Exegeten der reinen Literaturlehre stören, die Leser werden ihm allerdings danken.


Kunstfreiheit unter Goebbels – Daniel Kahlmanns Roman „Lichtspiel“ über G. W. Papst. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.

Daniel Kehlmann: Lichtspiel
Rowohlt
480 Seiten
€ 27,50

Aufwachsen in Kärnten – Julia Josts Debütroman „Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht

Aufwachsen in Kärnten – Julia Josts Debütroman „Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht

Die 11-jährige Erzählerin J. versteckt sich unter einem Lastwagen, in dem gerade der gesamten Hausrat der Familie aufgeladen wird, denn ein Umzug steht an. In ein viel größeres Haus, das gebraucht wird, weil die Mutter unzählige Möbelstücke aus dem Dorotheum im nahen Villach aufgekauft hat – der neue Reichtum der Familie, der vom schwunghaften Verkauf von Lastwägen in die eben frei gewordenen Länder aus dem Osten herrührt, verlangt nach einer repräsentativen Bleibe.

J. will gar nicht weg, weil sie sich von ihrer Freundin Luca, ein aus Bosnien stammendes gleichaltriges Mädchen, trennen muss, mit der sie bereits erste Küsse ausgetauscht hat. Wir sind in den 90ern in Kärnten, der Vater schimpft ununterbrochen, weil seine beiden Söhne lange und die Tochter kurze Haare haben. Eine neue Zeit ist im Anmarsch, der neue Bürgermeister – ein guter Freund des Vaters – redet von Hausverstand und umgibt sich mit allerlei Kellernazis, die wieder aus den Löchern kriechen.

Die in Kärnten aufgewachsene Autorin Julia Jost, Jahrgang 1982, hat den Aufstieg Jörg Haiders miterlebt. Sie studierte in Wien und Berlin und hat bisher vor allem an diversen Theatern gearbeitet. Im April wird am Volkstheater ihr Shakespeare-Stück ROM uraufgeführt.

Für ihren ersten Roman hat sie augenscheinlich ihre eigene Jugend verarbeitet. Erstaunlich ist schon, wie viel sie in den 230 Seiten unterbringen kann, denn schließlich erzählt sie sozusagen ganz naiv mit den Augen eines Kindes. Ihre Sprache ist freilich keinesfalls einfach. Zum einen verwendet sie Dialekt und zum anderen findet sie oft ungewöhnliche Sprachbilder.

Am Beginn steht ein tödlicher Unfall. Ein Kind wird von den Spielkameraden genötigt, in einem Schacht das verlorene Messer – ein sorgsam gehüteter alter SS-Dolch mit der Aufschrift „Meine Ehre heißt Treue“ – zu holen und ertrinkt dabei. Ein Trauma für die Kinder und die gesamte Dorfgemeinschaft. Doch Jost wollte keinen sogenannten Anti-Heimatroman schreiben, ihr schriftstellerisches Interesse gilt immer dem erzählenden Kind. Wie war das damals, in Kärnten auf dem Land aufzuwachsen? Ein Roman, der trotzdem so nebenbei das politische Dilemma in unserer Republik darstellt.

Julia Jost wird bei Rund um die Burg – heuer am 10. und 11. Mai – lesen.
Infos ab Mitte März unter www.rundumdieburg.at


Der Waffenbesitz gehört zur DNA der USA – Paul Austers Essay „Bloodbath Nation“

Der Waffenbesitz gehört zur DNA der USA – Paul Austers Essay „Bloodbath Nation“

Die Zahlen sind so ernüchternd wie in der politischen Debatte der USA wirkungslos: Die USA haben mehr Menschen im eigenen Land durch Schusswaffen verloren als sie Tote in allen ihren Kriegen – vom Unabhängigkeitskrieg angefangen – zu beklagen haben. Insgesamt kommen aktuell jedes Jahr fast 40.000 Menschen in den USA durch Schussverletzungen ums Leben, etwa genauso viele wie bei Autounfällen. Der bekannte Schriftsteller Paul Auster hat jetzt einen Essay zu diesem Thema veröffentlicht, wohl auch um sich selbst zu erklären, wie ein derartiger Wahnsinn möglich ist. Dabei beginnt Auster sehr persönlich. Er erzählt, wie das Abfeuern einer Waffe für ihn als Teenager nichts Besonderes war und er sogar – ohne Übung – ein Meister im Tontaubenschießen wurde. Freilich hatte er dann andere Interessen, Waffen gehörten für ihn nicht zum Alltag. Seine Familie hasste zudem Waffen. Erst sehr spät erfährt er den Grund dafür, nämlich dass in einer sehr verdrängten Familiengeschichte ein Revolver eine wichtige Rolle spielte. Seine Großmutter hat nämlich seinen Großvater im Affekt erschossen – damals, gleich nach dem 1. Weltkrieg, fand sie einen Richter, der sie aufgrund temporärer Unzurechnungsfähigkeit freisprach.

Auster gibt auch zu, dass er vielleicht anders denken würde, wenn er im Süden der USA aufgewachsen wäre, wo Waffenbesitz einfach zum Alltag gehört. Er erklärt, wie die USA aus einer Miliznation entstanden ist, wo die Bürger ihre Waffen stets griffbereit haben mussten. Bis zur Bürgerrechtsbewegung, als viele weiße Amerikaner sich vor „Black Power“ fürchteten, war die inzwischen berüchtigte Waffenlobbyvereinigung NRA ein kleiner Verein für Sportschützen. Die aller Vernunft spottende Bewaffnung der US-Staatsbürger – es gibt längst mehr Schusswaffen als Einwohner – ist also gar noch nicht so alt. Frustrierend Austers Einschätzung der Zukunft: Selbst wenn es einmal eine Regierung mit großer Mehrheit geben würde, die europäische Gesetze und Prämien für jene, die ihre Waffen abgeben, durchsetzen könnte – eine solche ist aber sowieso nicht in Sicht – würde alles ähnlich sinnlos sein wie das Verbot von Alkohol während der Prohibition, zumal man heute mittels 3D-Drucker einfach selbst Waffen herstellen kann.

Interessant ist Austers Schilderung des einzigen Falls, in dem ein Attentäter durch einen beherzten Mann mit einer Waffe gestoppt wurde – denn die NRA und ihre Anhänger behaupten ja immer, dass man Waffen brauche, um Amokläufern das Handwerk zu legen. Der damalige „Held“ war schwer geschockt, weil er auf Menschen schießen musste, der Attentäter flüchtete zunächst auch noch im Auto, ehe er sich schwer verwundet das Leben nahm. Und erhellend ist auch Austers Vergleich von Schusswaffen mit dem zweiten Heiligtum der USA, dem Auto. Denn beim Individualverkehr ist es durch strenge Gesetze und Auflagen nach und nach gelungen, die Todeszahlen drastisch zu senken. Sicherheitsgurte wurden etwa in den USA lange vor Europa Pflicht.

Ein wichtiges Buch – auch wenn man sich als Europäer natürlich nicht wirklich angesprochen fühlt und Auster keine Lösung dieses Problems für die USA zeigen kann.

Gespenstig sind die im Buch abgebildeten Fotos von Austers Schwiegersohn, des US-Fotografen Spencer Ostrander, der Schauplätze bekannter Waffengewalt-Massaker in den USA in Schwarz-Weiß fotografiert hat – menschenleere Supermärkte, Schulen, religiöse Einrichtungen, die nach den Tragödien geschlossen wurden.


Paul Auster: Bloodbath Nation
Mit Fotos von Spencer Ostrander
Aus dem Englischen von Werner Schmitz
Rowohlt
180 Seiten
€ 27,50


Gespenstische Satire – Elias Hirschls neuer Roman „Content“

Gespenstische Satire – Elias Hirschls neuer Roman „Content“

Mit seinem 2021 erschienenen Roman „Salonfähig“ über die Slim-fit-Polititikerkaste erregte der 1994 geborene Wiener Autor und Slam-Poet Elias Hirschl erstmals größere Aufmerksamkeit. Sein neuer Roman „Content“ spielt in einer nahen Zukunft in einer ungenannten Stadt, die auf stillgelegten Kohlefeldern gebaut wurde. Die Protagonistin will einen Roman schreiben, braucht aber den Job in einer Content-Fabrik, wo Beiträge für soziale Plattformen auf dem laufenden Band hergestellt werden. Die 31-jährige Newcomerin muss Listen erfinden nach dem Motto: Die schlechtesten Promi-Trennungen aller Zeiten oder die Top 10 besten Tipps für ein glücklicheres Leben, immer mit dem Hinweis versehen (Die Nummer 7 wird dich zum Weinen/Lachen/Schmunzeln etcetera bringen). Andere schreddern daneben Handys mit Stabmixer oder Hydraulikpressen, während sie zwischendurch weiter davon träumen, in amerikanischen Late-Night-Shows aufzutreten.

Das mit dem Roman wird immer schwieriger, denn bald kann sich die Erzählerin auf nichts mehr konzentrieren, was mehr als 30 Sekunden Aufmerksamkeit erfordert. Zwischendurch passieren Unfälle, die an Monty-Pyton-Sketche erinnern. Eine Mitarbeiterin greift absichtlich in die Hydraulikpresse, weil sie die Taubheit rundherum nicht mehr erträgt, und ein Autor stürzt in ein plötzlich sich bildendes Riesenloch. Ein Lover – Sex ist allerdings so spannend geworden wie ein Klogang – gründet derweilen ein Start-up nach dem anderen. Nach einer privaten Feuerwehr, die kalte Getränke an Brandopfer und Schaulustige verkauft, gründet er ein Unternehmen, das Wasser abpumpt – da versinken allerdings bereits ganze Häuser in der vom Bergwerk ausgelösten Überschwemmung. Der Erzählerin entgleitet nach und nach ihr Leben. Selbst ihr Social-Media-ich wird gekapert – sie muss zusehen, wie sie heiratet und ihre Eltern mit ihr glücklich werden. Irgendwann hat die Heldin dann eine KI so konfiguriert, dass ihr das Listenschreiben abgenommen wird und sie gar nicht mehr ins Büro kommen braucht.

Elias Hirschl schafft in „Content“ eine Welt, die von der unseren vielleicht nur noch um einen Dreh entfernt ist. Das ist satirisch witzig, aber auch gespenstisch. Denn die Millionen Videos auf den Plattformen müssen ja tatsächlich irgendwo hergestellt werden. Und wer mit der U-Bahn fährt, sieht schon heute kaum mehr Menschen, die nicht auf ihr Smartphone starren. Die Wirklichkeit ringsum ist längst out.


Gespenstische Satire – Elias Hirschls neuer Roman „Content“.

Elias Hirschl: Content
Zsolnay
224 Seiten
€ 24,50

Über KI machten sich Menschen schon Gedanken, als es noch nicht einmal Taschenrechner gab und findige Programme besiegten Profispieler in Schach und Go lange vor Rechner mit heutigen Kapazitäten. Davon erzählt der Roman „Maniac“ des in Rotterdam geborenen und in Chile lebenden Autors Benjamin Labatut.

Pioniere der KI – Benjamin Labatuts Wissenschaftsthriller „MANIAC“

Über KI machten sich Menschen schon Gedanken, als es noch nicht einmal Taschenrechner gab und findige Programme besiegten Profispieler in Schach und Go lange vor Rechnern mit heutigen Kapazitäten. Davon erzählt der Roman „Maniac“ des in Rotterdam geborenen und in Chile lebenden Autors Benjamin Labatut.

Er beginnt mit dem Wiener Physiker Paul Ehrenfest, der Einstein verteidigte und zu dessen Freund wurde – bis er zunehmend verzweifelnd an den politischen Umständen sich und seinen am Down-Syndrom leidenden Sohn 1933 in Amsterdam erschoss. An Ehrenfest zeigt Labatut wie die Physik durch die Quantentheorie und die Mathematik durch Kurt Gödels Unvollständigkeitssatz erschüttert wurden.

Den größten Teil des Buches macht aber die Schilderung des ungarischen Mathematikgenies John von Neumann aus. Neumann arbeitete an der Quantenmechanik, erfand die Spieltheorie, arbeitete an entscheidender Stelle am berühmten Manhattan-Projekt zur Schaffung der ersten Atombombe mit – er berechnete etwa den besten Zeitpunkt der Detonation, um die maximale Zerstörungskraft zu entwickeln – und schuf die ersten modernen Computer. Der Buchtitel MANIAC steht für Mathematical Analyzer Numerical Integrator And Computer, die Architektur eines funktionierende Rechners, die noch heute gültig ist. Als er unheilbar krank im Spital lag, bewachte das US-Militär sein Zimmer, damit niemand noch im letzten Moment eventuelle neue Ideen von Neumann mitschreiben konnte. Labatut beschreibt Neumann aber nie direkt, sondern lässt ihn durch Menschen aus seiner Umgebung – Mitarbeiter, seine Frauen, seine Mutter – sehen.

Im letzten Kapitel geht es um die berühmten Duelle Mensch gegen Maschine anhand von Schach und Go. Die Schachgroßmeister gaben bald w/o, aber das weitaus komplexere chinesische Go-Spiel schien lange Zeit für Rechner zu komplex. Erst 2016 schlug das Programm AlphaGo die koreanische Go-Legende Lee Sedol, der daraufhin zu spielen aufhörte. Der Kampf wird spannend wie ein Krimi erzählt – ein Buch für Menschen, die über die Zukunft unserer Welt im Schatten von Maschinen nachdenken wollen.


Benjamin Labatut: MANIAC
Aus dem Englischen von Thomas Brovot
Suhrkamp
400 Seiten
€ 27,50

„Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit“ ist der zweite Band von Knausgårds Morgenstern-Trilogie.

„Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit“ ist der zweite Band von Knausgårds Morgenstern-Trilogie

Zunächst einmal: Das waren die kürzesten und angenehmsten 1000 Seiten (genau 1050) der letzten Jahre. Karl Ove Knausgård, der mit extremer und auch extrem ausufernder Autofiktion bekannt wurde, kann zweifelsohne interessant erzählen. Wenn er etwas spezieller schildert, dann hat das bei ihm einen Grund. Denn im zweiten Band seiner Morgenstern-Trilogie (der Abschlussband soll noch heuer erscheinen und liegt im Original bereits vor) befinden wir uns – bis auf einigen Einsprengseln – im Kopf zweier Geschwister.

Etwa 500 Seiten erzählt Syvert, der 1986 nach seinem Militärdienst in das Haus seiner Familie in Südnorwegen bei Bergen zurückkehrt, wo nur noch seine Mutter und sein kleiner Bruder Joar leben, denn der Vater ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Syvert weiß nicht so recht, was er mit seinem Leben anfangen soll – für die Uni bräuchte er noch ein paar Kurse und es ist sowieso Sommer. Mutter arbeitet viel und sein Bruder ist zwar unheimlich schlau, aber sozial etwas eigen. Er hört Heavy Metal, trifft frühere Freunde und verliebt sich schließlich in ein etwas kompliziertes Mädchen. Weil die Familie Geld braucht, tritt er einen Aushilfsjob bei einem Bestatter an.

Aber da ist das Thema des Romans sowieso bereits eingeleitet. Denn den Tod seines Vaters kann Syvert einfach nicht verstehen. Und dann findet er noch Briefe an den Vater in Russisch. Er hatte gar nicht gewusst, dass sein Vater diese Sprache beherrschte. Er lässt sie von einem schrulligen Privatgelehrten übersetzen und erfährt, dass sein Vater eine Geliebte in der Sowjetunion hatte. Ja mehr noch – vor seinem Tod, gesteht ihm die Mutter, wollte sein Vater die Familie verlassen. Reichlich Stoff zum Nachdenken für einen noch nicht 20jährigen, auch wenn Syvert nicht gerade als Intellektueller beschrieben wird. Zumal Vaters Geliebte im letzten Brief andeutet, schwanger zu sein. 1986 ist auch das Jahr, in dem Tschernobyl explodiert – die Nachrichten werden immer beunruhigender. Doch Knausgård schlachtet das überraschend wenig aus. Viel interessanter scheinen ihm die Ideen der Evolution oder was lebendige und unbelebte Materie voneinander unterscheidet. Bekanntlich ist ja alles, was jemals existierte und jemals existieren wird, bereits mit dem Urknall da und geht nicht verloren.

Im zweiten Part des Buches ist dann Alevtina die Hauptperson – wir sind etwa 40 Jahre später in der Jetztzeit, denn Alvetina ist das Kind der Briefschreiberin und somit Syverts Halbschwester in Russland. Sie ist ausgebildete Biologin, hat aber in den letzten Jahren ihren Job gewechselt und arbeitet nun als Ärztin. Erst als ihr Vater stirbt, hat sie den Mut, einen vor Jahren geschriebenen Brief Syverts zu beantworten und ein Treffen in Moskau vorzuschlagen. Dieses  Zusammentreffen, das zunächst völlig schief zu gehen scheint, ist sozusagen der Abschlusshöhepunkt des Romans. Alvetina hat natürlich ihren leiblichen Vater niemals kennengelernt. Als junge Biologin wollte sie beweisen, dass die Bäume gemeinsam mit den mit ihnen in Symbiose lebenden Pilzen eine Art Bewusstsein haben. Eine Dichterfreundin interessiert sich währenddessen für einen russischen Utopisten, der nichts Geringeres als die Wiedererweckung all jener Toten in Angriff nehmen wollte, die jemals auf der Erde gelebt haben. Im Zuge ihrer Recherchen lässt sie sich Tanks zeigen, in denen heute schon Menschen für die Ewigkeit eingefroren werden. Die Transhumanisten im Silicon Valley sind da sicher schon weiter…

Alle Nebenstränge auch nur anzudeuten, ist kaum möglich. Wir erleben Schlägereien, Gewaltausbrüche, Überfälle und diverse Alkohol- und Drogenräusche. Am Ende erscheint auch wieder der helle Stern aus dem ersten Band auf dem Horizont und plötzlich sterben mehrere Tage lang keine Menschen.

Knausgårds „Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit“ ist ein faszinierender Roman über den Tod und die Versuche ihn zu überwinden, dargebracht in einer Familiengeschichte – bekanntlich das langlebigste und erfolgreichste Genre überhaupt.


Karl Ove Knausgård: Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit
Aus dem Norwegischen von Paul Berf
Luchterhand
1056 Seiten
€ 31,50

Otto Brusatti macht heuer mehrere frei zugängliche Veranstaltungen zum Kafka-Gedenkjahr (100. Todestag), zumal er ja gleich 2 Kafka-Bücher im Gepäck hat.

Neue Geschichten für Kafka – Buchpräsentation „Für K.“ in der Nationalbibliothek

Am Montag, 29. Jänner, wird im Augustinertrakt der Nationalbibliothek ein ganz besonderes Buch präsentiert. Zum 100. Todestag von Franz Kafka bat Herausgeber Otto Brusatti Autorinnen und Autoren um einen Text in Gedanken an den Prager Schriftsteller, der die Weltliteratur beeinflusst hat wie kaum ein anderer. Theodora Bauer, Arno Geiger, Max Gruber, Monika Helfer, Bodo Hell, Paulus Hochgatterer, Franz Hohler, Radek Knapp, Natasha Korsakova, Thomas Macho, Kurt Palm, Rafik Schami, Stefan Slupetzky, Renate Welsh und Anton Zeilinger schrieben Neues für diesen Band, der vom Künstler Edgar Tezak mit Zeichnungen versehen wurde. Drei davon – Stefan Slupetzky, Kurt Palm und Renate Welsh – werden bei der Präsentation ihre Geschichten vorlesen, die Cellospielerin Anna Schweizer wird Stücke von Bach und Webern zum Besten geben. Der Eintritt ist frei, anschließend wird zu einem Umtrunk geladen!


„Für K. Neue Geschichten und Bilder für Franz Kafka“
29. Jänner 2024
Österreichische Nationalbibliothek
Einlass 18.30 Uhr, Beginn 19 Uhr
Josefsplatz 1, 1010 Wien
Oratorium im Augustinertrakt (Halbstock)

Frauen und Mädchen in England heute – Saba Sams‘ Kurzgeschichtenband „Send Nudes“. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.

Frauen und Mädchen in England heute – Saba Sams‘ Kurzgeschichtenband „Send Nudes“

Die 1996 in Brighton geborene Saba Sams gewann unter anderem den BBC Short Story Award und gilt jetzt bereits als eine der talentiertesten jungen Autorinnen Englands. Nach der Lektüre ihrer 10 Geschichten in „Send Nudes“ kann man nur sagen zurecht. Ihr gelingen nämlich höchst eindrucksvolle Porträts von Frauen und Mädchen, die alle – wie man heute sagen würde – gewisse Defizite aufweisen. Oder aber sie spiegeln exakt unsere heutige kaputte Gesellschaft wider. Da ist etwa die Studentin, die sich in eine Kommilitonin verliebt, die nichts als Partys, Sex und den großen Rausch im Kopf hat. Oder eine Zwölfjährige, die von der viel älteren Stieftochter dafür gehasst wird, weil ihr Vater eben eine neue Beziehung mit deren Muttereingegangen ist. Zwei Mädchen leben da den ganzen Sommer auf Festivals, weil ihre Mütter dort als Trapezkünstlerinnen auftreten. Und eine junge Frau freundet sich so mit dem großen Hund ihres Liebhabers an, dass dieser schließlich nur noch auf sie hört. Die Titelgeschichte zeigt uns eine Frau, die ihre gnadenlose Einsamkeit in einem Internetforum loswerden will.

Mehr noch als die Geschichten selbst fasziniert der Stil der jungen Britin. Da scheint kein Wort zu viel zu stehen, die Dialoge sind prägnant und künstliche Melancholie oder Larmoyanz ist nirgendwo auszumachen.


Saba Sams: Send Nudes. Storys.
Aus dem Englischen von Sophie Zeitz
Piper
208 Seiten
€ 23,50


Das Sterben eines Gefassten – Bernhard Schlinks „Das späte Leben“. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.

Das Sterben eines Gefassten – Bernhard Schlinks „Das späte Leben“

Mit 76 erfährt Martin, dass er nur noch wenige Wochen zu leben hat – Bauchspeicheldrüsenkrebs. Dabei hat der Professor für Recht gerade die vielleicht glücklichste Phase seines Lebens mit einer um vieles jüngeren Frau und einen Sohn im Kindergarten. Was also tun in den letzten Tagen, die im noch bleiben?

Bernhard Schlink stellt in seinem neuen Roman jene Fragen, die alle Menschen sich irgendwann stellen müssen. Denn dem Tod kann niemand entkommen, manche können ihr Ende aber genau datieren. Ulla, seine 43jährige Frau, schlägt Martin vor, seinem Sohn etwas zu hinterlassen – einen Brief oder ein Video. Und daran arbeitet Martin dann auch obwohl ihm Gefühle immer schwergefallen sind. Schicksalsschläge hat er immer erst mit einiger Verzögerung begriffen, manche nannten ihn deswegen gefühlskalt. Schlink beschreibt Martin auch als einen sehr nüchternen Menschen, als einen Gefassten.

Dramatik bekommt der Plot freilich dadurch, dass Martin erfährt, dass Ulla ihn mit einem jüngeren Mann betrügt. Und wieder erweist sich der Professor als durch und durch von Vernunft getrieben. Er macht seiner Frau keine Szene, sondern sucht den Liebhaber auf und bittet ihn, sich um Ulla und seinen Sohn zu kümmern.

„Das späte Leben“ ist somit ein Roman über die zwei wichtigsten Themen aller Menschen, nämlich Liebe und Tod. Es freut ungemein, wenn das ein Autor einmal so unspektakulär und ohne auf Auflagen zu schielen behandeln kann.


Bernhard Schlink: Das späte Leben
Diogenes Verlag
240 Seiten
€ 27,50

Der Aufstieg hat seinen Preis – Das Debüt der Nobelpreisträgerin Annie Ernaux erstmals auf Deutsch.

Der Aufstieg hat seinen Preis – Das Debüt der Nobelpreisträgerin Annie Ernaux erstmals auf Deutsch

Als Kind ist Denise Lesur eigentlich ganz glücklich. Die Mutter führt in der Kleinstadt im Norden Frankreichs einen kleinen Krämerladen, der Vater daneben eine Kneipe. Die Kunden lassen anschreiben, niemand hat viel Geld, die Säufer sind Stammgäste – und dass es nur ein Plumpsklo im Hof gibt, stört auch niemanden. Denises Eltern arbeiten ständig, sie haben es geschafft, sich als Besitzlose hochzuarbeiten und sind nun froh, keinen Chef mehr zu haben.

Als sie Denise in eine katholische Privatschule stecken, bricht allerdings ihre Welt zusammen. Denise wird als Asoziale gehänselt, die Bürgertöchter blicken auf sie herab. Und Denise sieht zum ersten Mal ihr Elternhaus mit anderen Augen: die schlechten Manieren, den Nachttopf im Schlafzimmer, die schmierige Küche, das lächerliche Angebot ihres Ladens und die kotzenden Zechbrüder. Mit zähem Fleiß kämpft sich Denise nach oben, sie wird Klassenbeste und schafft mühelos die Anforderungen für den Besuch einer Universität. Da sieht sie längst auf ihre Eltern herab, deren Geld ihr erst den Besuch der Schulen ermöglicht hat. Als letzte Schranke will sie die Freundin eines Bürgerlichen werden. Mit den im Jahr 1961 noch verheerenden Folgen einer Schwangerschaft. Denise gerät an eine Engelmacherin, denn Abtreibungen sind noch illegal. Mit diesem Schock beginnt und endet der erste Roman der Nobelpreisträgerin Annie Ernaux, der 1974 bei Gallimard erschienen ist. Noch schreibt Ernaux, die sich später ja als „Ethnologin ihrer selbst“ begreift, fiktional, wenngleich die Handlung ja mit den späteren autofiktionalen Büchern fast identisch ist. „Die leeren Schränke“ ist auf jeden Fall ein faszinierender Roman über die zerstörerischen Brüche, die ein sozialer Aufstieg mit sich bringt. Denise hasst ihre Herkunft, obwohl sie klug genug ist zu erkennen, dass auch in der bürgerlichen Welt vieles nur Schein ist. Als ihr Liebhaber erfährt, dass sie schwanger ist, macht er sich aus dem Staub.

Während Ernaux später für ihren lakonischen Stil bekannt wurde, ist dieser Erstling noch durchaus drastisch und plastisch erzählt. Stellenweise wirkt der in der ersten Person geschilderte Text wie eine Anklage gegen die Gesellschaft und sich selbst. Spannend und interessant zu lesen ist das Ganze aber auf jeden Fall.


Annie Ernaux: Die leeren Schränke
Aus dem Französischen von Sonja Finck
Suhrkamp
220 Seiten
€ 24,50