Aufbruch & Untergang der DDR – Christoph Heins Monumentalroman „Das Narrenschiff“
752 Seiten über ein Staatsgebilde, das es seit 1989 nicht mehr gibt. Soll man sich das antun? Ja, unbedingt! Denn zum einen unterhält Christoph Hein trotzt mancher Längen und trotz eines sehr nüchternen Stils durchaus mit interessanten Romanfiguren. Und zum anderen ist die DDR natürlich Geschichte, aber an den Verwerfungen dieser Zeit kauen nicht nur die Deutschen noch immer, wie überhaupt fast alle ehemaligen Staaten der Sowjetunion an Russland eine dicke Rechnung stellen müssten. Und: Die DDR war eine Diktatur, eine Staatsordnung, die leider wieder Konjunktur zu haben scheint.
Hein konzentriert sich dabei auf 6 Menschen, deren Leben er mit der DDR-Geschichte – vom Aufstand in der Stalinallee 1953, der geheimen Rede Chruschtschows nach Stalins Tod über dessen Terror, dem Ungarn-Aufstand 1956, dem Mauerbau, dem Prager Frühling bis zu den Montags-Demos und dem Mauerfall – spiegelt.
Und zwar: Johannes Goretzka, der vom glühenden Nazi zum Stalinisten mutiert, Kartsen Emser, Professor und Politbüro-Mitglied, deren beider Frauen, die ebenfalls Karriere im Regime machen, sowie Benaja Kuckuck, ein exzellenter Shakespeare-Kenner, der sich Hoffnungen auf eine Professur macht dann aber in der Kulturverwaltung arbeiten muss. Alle Männer kommen aus dem Exil und repräsentieren den Willen, einen wirklich gerechten sozialistischen Staat zu schaffen. Goretzkas Frau Yvonne bringt ihre Tochter Kathinka in die Ehe mit – deren Vater war ein Jude, dem die Flucht aus Nazi-Deutschland nicht gelungen ist. Im Freundeskreis werden die jeweiligen politischen Ereignisse diskutiert, man hilft sich auch gegenseitig im sicheren Wissen, dass man gegen die Partei niemals im Recht sein kann. Wer aufbegehrt, verliert die Mitgliedschaft und darf – wenn er Glück hat – nach einem Jahr an der Parteischule wieder einen Antrag stellen. Und natürlich war der Staat, wie die Ökonomen bald schon wissen, wirtschaftlich eine Fehlkonstruktion wie überhaupt der Kommunismus wegen fehlender Anreize zum Wettbewerb niemals funktionieren konnte. Am Ende wird der Ausverkauf des DDR-Vermögens geschildert, viele verlieren Heim und Hof, denn findige Juristen verhelfen den Erben ehemaliger Eigentümer wieder zu ihren Rechten.
Klingt alles recht trocken, aber Hein bringt auch private Schicksale – Banaja ist homosexuell und muss das zunächst auch in der DDR verbergen, Yvonne hat Affairen, da ihr Mann nicht nur invalide, sondern auch völlig lieblos zu ihr ist. Kathinka versucht einen Weg abseits der Parteilinie und wird Teil der Montags-Demos. „Das Narrenschiff“ wirkt schon wegen des konsequent auktorialen und chronologischen Erzählens wie aus der Zeit gefallen. Aber es zahlt sich aus, einen Staat beim Werden und Untergehen zu verfolgen.
Christoph Hein: Das Narrenschiff. Suhrkamp Verlag, 752 Seiten, € 28,80