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Angebot sucht Nachfrage – Ein Wegweiser durch die Welt der Wirtschaft bei Rund um die Burg

Angebot sucht Nachfrage – Ein Wegweiser durch die Welt der Wirtschaft bei Rund um die Burg

„Wirtschaft war nie so wichtig wie jetzt, trifft uns alle – und wird doch als schwierig empfunden.“ schreibt Reinhard Göweil in seinem neuen Buch „Angebot sucht Nachfrage 2.0. Und tatsächlich wird ihm in Zeiten von Inflation, einem Krieg vor der Haustür und einem nach der Pandemie noch immer stotternden Wirtschaftsmotor niemand widersprechen können. Göweil war jahrelang Wirtschaftsredakteur in diversen Medien und zuletzt Chefredakteur der „Wiener Zeitung“, aktuell gibt er die finanznachrichten.at heraus.

Grundsätzlich ist es ja mit der Wirtschaft genauso wie mit der Politik – auch Menschen, die verkünden, sie interessieren sich nicht für Politik, sind von den Auswirkungen politischen Handelns direkt betroffen. Zumal es heute ordentlich „knirscht im Gebäck“, wie Göweil schon im Prolog schreibt. Bis zur Covid-Krise herrschte etwa ein sogenannter „Käufermarkt“, da heißt das Angebot überstieg die Nachfrage und Waren wurden tendenziell immer billiger. Eines der (wenigen) positiven Effekte des Neoliberalismus. Allerding mit dem Effekt, dass Firmen ihre Produktion in immer billigere Länder transferieren mussten, damit wir das T-Shirt um 2 Euro kaufen können.

Durch Covid und die Folgen der Trump-Jahre (Hohe US-Zolle) lagen Produktionen allerdings still, die Käufer musste also Waren suchen und teurer bezahlen. Dazu die Kriege und höhere Energiekosten. Der Autor zeigt dazu in klaren Bildern wie Wirtschaft funktioniert und nebenbei was uns der EU-Beitritt gebracht hat – kurz wir wären ein sehr viel ärmeres Land. Schon die Koppelung des Schilling-Kurses an die D-Mark durch Hannes Androsch hatte einen Qualitätsschub für die heimische Industrie ausgelöst, ganz einfach dadurch, dass die Betriebe statt auf Preis auf hochwertige Ware setzen mussten.

In der Pandemie hat Österreich, nach Meinung des Autors jedenfalls gravierende Fehler gemacht, indem Geld einfach für entgangene Geschäfte ausbezahlt wurde, statt dieses an Investitionen zu binden. Wer glaubt, es werde immer so weitergehen wie 2019 noch gedacht irrt gewaltig. Die ungezügelte Globalisierung ist zu Ende, die großen Märkte schotten sich zunehmend ab und die Klimakrise tut ein Übriges. Wir leben gewiss in herausfordernden Zeiten.

Reinhard Göweil wird bei Rund um die Burg über sein Buch diskutieren:
10. 5. in der Stelldichein Meierei Volksgarten, 21 Uhr


Einen Kampf um die (Leit)Kultur gab es auch schon früher – Eine Darstellung der Kulturgeschichte des Austrofaschismus bei „Rund um die Burg“

Einen Kampf um die (Leit)Kultur gab es auch schon früher – Eine Darstellung der Kulturgeschichte des Austrofaschismus bei „Rund um die Burg“

Im Gymnasium lernte ich noch, dass sich das österreichische Parlament im März 1933 selbst ausschaltete und Dollfuß/Schuschnigg den Ständestaat als letztes Bollwerk gegen Hitler errichten mussten. Ein damals noch durchaus gängiges Geschichtsbild. Inzwischen weiß man, dass die Christlichsozialen schon lange vor der – leicht wieder reparierbaren – Abstimmungspanne im Parlament die Liquidierung der Demokratie planten. Auch, aber nicht nur weil sie mit einem großen Stimmzuwachs der Nationalsozialisten bei den nächsten Wahlen rechneten. Der Hass auf die Sozialdemokratie und das Rote Wien war bei Dollfuß und Co. einfach riesengroß und in der Kirche sahen sie eine starke Verbündete.

Der Ständestaat begann dann auch – spätestens nach den Februarkämpfen 1934 – mit den Säuberungen und der Propaganda auch in der Kultur wie das gerade erschienene Buch „Maskeraden. Eine Kulturgeschichte des Austrofaschismus“ von Alfred Pfoser/Béla Rásky/Hermann Schlösser aufzeigt. Der Titel ist einem erotisch aufgeladenen Kinoerfolg mit Paula Wessely aus dem Jahr 1934 entnommen, denn die Autoren beschreiben die damalige Politik als Maskerade eines brutalen Polizeistaates, der mit den Mitteln der Unterhaltungsindustrie auf schön geschminkt werden sollte. Wie im Nationalsozialismus sollte die Heimat im Zentrum stehen, alles Liberale oder gar sozialdemokratische Denken wurde mit Hinweis auf den katholischen Glauben und das Vaterland getilgt. Man erließ zwar nicht wie Hitler einschlägige antisemitische Gesetze, Juden wurden aber überall benachteiligt. Joseph Roth schrieb etwa in seinem Essay „Juden auf Wanderschaft“ schon 1927: „Es ist furchtbar schwer, ein Ostjude zu sein, es gibt kein schwereres Los als das eines fremden Ostjuden in Wien.“

Das Filetstück der Sozialdemokraten war natürlich das Rote Wien. Partei und Gewerkschaften wurden von den Austrofaschisten verboten, die sozialdemokratischen Einrichtungen wie Arbeiterbüchereien und Volkshochschulen gesäubert. In Zusammenarbeit mit der Kirche wurden auch höchst literarische Werke von Autoren wie Èmile Zola, Jack London oder B. Traven aus den Beständen eliminiert und durch Bücher von Waggerl oder Luis Trenker ersetzt. Selbst Sigmund Freud fand keine Gnade vor der Sexualfeindlichkeit der Machthaber.

Dagegen suchte man nach einer echten österreichischen Leitkultur. Mit allerdings bescheidenem Erfolg organisierte das Regime Weihespiele und Aufmärsche wie eine „Huldigung der Stände“ ausgerechnet am 1. Mai und ausgerechnet vor dem Wiener Rathaus. Malerische Alpentrachten und blaugelbe Pfadfinderhemden waren die neue Mode. Am Ende mussten allerdings auch Vertreter des Regimes einsehen, dass es besser gewesen wäre, gemeinsam mit der verhassten Linken den Kampf gegen die Nationalsozialisten aufzunehmen statt sich ideologisch immer mehr anzubiedern.

Am 11. Mai wird Alfred Pfoser um 10.30 Uhr bei „Rund um die Burg“ das Buch „Maskeraden“ im Restaurant Vestibül vorstellen. Alle Infos: rundumdieburg.at


Der Nino aus Wien ist seit Jahren eine feste Größe in der heimischen (Alternativ)Musikszene. Kürzlich hat er sein erstes Buch geschrieben.

„Ich habe Adria am Unterarm tätowiert“ – Der Nino aus Wien und sein „Kochbuch Take 16“

Der Nino aus Wien im Café Weidinger. – ©PaulT

Der Nino aus Wien ist seit Jahren eine feste Größe in der heimischen (Alternativ)Musikszene. Seine Heimat ist der Sender FM4, gerne wird er aber auch auf Ö1 gespielt, denn Alben wie „Bäume“, „Ocker Mond“ oder zuletzt „endlich Wienerlieder“ bestechen durch poetische Texte in Wienerisch, oft wurde er schon als der „Bob Dylan vom Praterstern“ tituliert. Aktuelle Hit-Single „Alles 1 Scheiss“.

Autor

Vor kurzem hat Nino Mandl – wie er bürgerlich heißt – aber sein erstes literarisches Buch veröffentlich, ein weißes Bändchen mit dem Titel „Kochbuch Take 16“. Darin zu finden sind Beobachtungen, Zustandsbeschreibungen, Stimmungen. Jede Menge Zeilen zum Nachdenken finden sich darin. „Musikalisch komm ich vom Karaoke. Lyrisch vom Chat. Ich bewundere Menschen für vieles“, heißt es da etwa.

Das Kapitel „Adria“ klingt wie der Nachruf von einem Italien-Urlaub, der schon mit „Caorle my friend“ ansetzt.

Im Interview sagt Nino freilich dazu: „Für mich ist das Buch nicht persönlich. Es ist viel mehr ein distanziertes Buch aus der Beobachtung heraus. Ich persönlich spiele in dem Buch kaum eine Rolle. Für ein wirklich persönliches Buch bin ich zu feig.“

Auch die Kritik, es wäre kein Kochbuch, da es ja keine Rezepte enthält, lässt er nicht gelten: „Es wird alles in einen Topf geworfen und köchelt vor sich hin, ja. Aber ich unterscheide es gar nicht so stark, für mich ist alles zusammen ein Gericht. Ob es dir schmeckt oder nicht ist deine Sache. Geschmäcker sind verschieden. Der Druck im Kochtopf kann stark werden.“

Am 10. Mai wird der Nino aus Wien um 16 Uhr im Vestibül des Burgtheaters „Rund um die Burg“ eröffnen.


Kochbuch Take 16 – Nino aus Wien
Redelsteiner dahimène edition
20,00 €

Wie die moderne Welt von Wiener Wunderwuzzis erfunden wurde – „Vienna“, das erstaunliche Werk des „Economist“-Journalisten und Historikers Richard Cockett

Wie die moderne Welt von Wiener Wunderwuzzis erfunden wurde – „Vienna“, das erstaunliche Werk des „Economist“-Journalisten und Historikers Richard Cockett

Hätten Sie es gewusst? Frustriert von den öden, herzlosen Vorstädten in den USA sehnte sich in den 50er-Jahren der 1903 in Wien geborene Victor Gruen nach dem pulsierenden Leben in seiner Heimatstadt zurück und erfand kurzerhand die Shopping Mall. Als Ort zum Einkaufen, aber vor allem auch als einen Ort der Begegnung mit Cafés, einer Piazza, Unterhaltungseinrichtungen wie Theater und Kinos, wo sich auch Menschen außerhalb ihrer Jobs – damals vor allem Frauen und Jugendliche – treffen konnten. Natürlich gelten Einkaufszentren mit den unvermeidlichen Parkplätzen davor jetzt nicht mehr als zeitgerecht, aber erfunden wurden sie 1956 von Gruen vor allem auch als autofreie Zonen zum Schlendern, Tratschen und gelegentlichen Einkaufen.

Innovation

Gruen war auch einer der ersten Verfechter von Fußgängerzonen – bei der Eröffnung der Kärntner Straße war Gruen wieder nach Wien zurückgekehrt und beriet die Stadtregierung bei der Planung. Und für manche gilt er auch als Ahnherr der „Stadt der kurzen Wege“. Das Konzept der Shopping Mall war so erfolgreich, dass es bereits 4 Jahre später 4.500 Malls in den USA gab. Wie viele heute weltweit existieren, lässt sich kaum schätzen.

Architekt Victor Gruen bei der Eröffnung eines Planungsbüros in Wien (1967). – ©ÖNB / CC BY-NC-ND 4.0
Architekt Victor Gruen bei der Eröffnung eines Planungsbüros in Wien (1967). – ©ÖNB / CC BY-NC-ND 4.0

Victor Gruen (geboren als Victor David Grünbaum) ist nur einer der vielen Menschen aus Wien, die unser heutiges Leben maßgeblich beeinflusst haben und die der britische „Economist“-Journalist und Historiker Richard Cockett in seinem Ende des letzten Jahres erschienenen Buch „Vienna. How the City of Ideas Created the Modern World“ sehr detailliert auflistet und beschreibt. Es ist wirklich beeindruckend, auf wie vielen Gebieten Wienerinnen und Wiener bei der Schaffung und Definition der modernen Welt an vorderster Front standen.

Gute Voraussetzungen

Zwar gibt es von den meisten der von Cockett Genannten schon Biografien, aber bisher hat noch niemand die Fülle der aus Wien stammenden Kreativen in ihrer Gesamtheit gewürdigt. Wobei Cockett natürlich nicht nur die in Wien geborenen Menschen berücksichtigt. Er richtet seinen Blick auf Persönlichkeiten, die in Wien geprägt wurden – meist durch ein Studium an der Universität oder als Schülerinnen oder Schüler hier bereits berühmter Menschen. Und er gibt auch die Gründe an, warum gerade die letzten Jahre der Donaumonarchie und das Rote Wien so fruchtbar für Neuerungen waren:

  1. Sehr viele der Wiener Geistesgrößen wie Sigmund Freud, Victor Gruen, der Architekt der Westside Villa Richard Neutra oder Paul Lazarsfeld, der Pionier der Sozialforschung, stammten aus jüdischen Familien. In diesen herrschte eine große Hochachtung vor Bildung, in den oft armen Familien die einzige Möglichkeit eines sozialen Aufstiegs. Als die Nazis dann 1938 die medizinische Fakultät an der Wiener Uni von Juden „säuberten“, wurde 78 Prozent der Lehrenden entlassen.
  2. Der Habsburger-Staat mag zwar nicht wirklich modern gewesen sein, aber Bildung war doch leichter zu erlangen als etwa in Deutschland oder gar in noch strikteren Klassengesellschaften wie in England und Frankreich. Seit 1867 galt per Verfassung: „Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei“. Die Wiener Uni war in den Zeiten der Monarchie die viertgrößte der Welt.
  3. Die Wiener Gymnasien und Realschulen waren zwar in den Lehrplänen nicht liberaler als die Berliner, die Schülerinnen und Schüler trafen sich aber sowieso lieber in den zahlreichen Wiener Kaffeehäusern, um dort über Gott und die Welt zu diskutieren.
  4. In ebendiesen Cafés saßen auch sogenannte Privatdozenten, die mit ihren Studenten die jeweiligen Forschungsfelder vertieften – denn sie wurden dafür ja nicht von den Universitäten bezahlt und brauchten eine Einnahmequelle. Daraus erklären sich die vielen Zirkeln, geordnet nach Interessen. Die berühmte „Mittwoch-Gesellschaft“ von Freud und seinen Adepten traf sich etwa im Café Korb.
  5. Die – meist aber nicht nur jüdischen – Bürgerhaushalte betrieben oft aus Liebhaberei Privatstudien – in manchen Wohnungen der Ringstraßenpalais befanden sich Terrarien oder Gewächshäuser. Bildung hatte einen großen Wert und war keineswegs eine Klassenfrage.
  6. Anders als in Deutschland herrschte in Wien – spätestens aber im Roten Wien – eine Bevorzugung der exakten Wissenschaften (im Gegensatz zum deutschen Idealismus) – siehe Wiener Kreis.
  7. Wien war in der Monarchie die Stadt der Einwanderer aus allen Teilen des Kaiserreiches. Die meisten Wissenschaftler kamen aus Galizien, aus den heutigen Teilen der Ukraine oder Ungarn, die Hälfte der Wiener Bevölkerung war nicht in Wien geboren.
  8. Und nicht zuletzt war Bildung für das Rote Wien ein zentrales Gut. Man denke nur an Einrichtungen wie die Volkshochschulen oder die Städtischen Büchereien, deren Platzbedarf sogar schon bei der Planung der neuen Gemeindewohnungen berücksichtigt wurde.
Schon in der Dezemberverfassung 1867, dem Staatsgrundgesetz, wurde verankert: Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei. – ©Parlamentsdirektion/Bildagentur Zolles KG/Christian Hofer
Schon in der Dezemberverfassung 1867, dem Staatsgrundgesetz, wurde verankert: Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei. – ©Parlamentsdirektion/Bildagentur Zolles KG/Christian Hofer

Umbruch

Besonders genau geht Cockett auf die „wissenschaftliche Weltauffassung“ des Wiener Kreises ein, die viele der dann vom Austrofaschismus und den Nazis Vertriebenen im Gepäck hatten, als sie in England und den USA ihre Karrieren fortsetzten. Dollfuß, Schuschnigg und Hitler einte der Hass auf Juden und die Roten, sie stellten Heimat, Rasse und Brauchtum über die Wissenschaft. Das Deutsche Reich war tendenziell wissenschaftsfeindlich. Karl Popper entwickelte in England seine Definition von wissenschaftlichen Theorien – sie sollte grundsätzlich widerlegbar sein (Alle Schwäne sind weiß gilt solange als wahr, bis ein schwarzer Schwan auftaucht).

Sehr differenziert schildert Cockett auch den Kampf um die Deutungshoheit in der Ökonomie, den drei Wiener global beobachtet gegeneinander führten und der auch heute noch unser Denken von wirtschaftlichen Prozessen bestimmt.

Gegensätze

Das Rote Wien – mit Otto Neurath an der Spitze – verstand die Wirtschaft, vereinfacht dargestellt, als Diener des Volkes, die zur Wohlfahrt verpflichtet werden muss (Wohnbausteuer von Hugo Breitner). Auch Roosevelts „New Deal“ nahm etwa nach dem Börsencrash die Wirtschaft in die Pflicht. Der ebenfalls in Wien geborene Friedrich August von Hayek predigte stattdessen einen Staat, der sich in Sachen Wirtschaft völlig zurücknimmt. Die Gesetze des freien Marktes würden automatisch Wohlstand für alle (zumindest die Fleißigen) bringen. Er gilt somit als Erfinder des Neoliberalismus, der spätestens seit den 80er-Jahren (Thatcher, Reagan) die Weltwirtschaft bestimmt. Cockett verweist aber auch noch auf den Wiener Karl Polanyi, der zu Lebzeiten wenig beachtet wurde, in den vergangenen Jahren aber wieder viel diskutiert wird. Polanyi definiert die menschliche Arbeit, aber auch die Natur als ein nicht handelbares Gemeingut und fordert einen Staat, der zwar nicht wie im Kommunismus alle wirtschaftlichen Geschehnisse diktiert, der aber sowohl mit einem moralischen Blick aus Sicht aller Bürger Eingriffe vornimmt.

Karl Lueger um 1897. Der Wiener Politiker setzte Antisemitismus als politische Waffe ein und kann als „Erfinder“ des Populismus gesehen werden. – ©Wienbibliothek im Rathaus / CC BY-NC-ND 4.0
Karl Lueger um 1897. Der Wiener Politiker setzte Antisemitismus als politische Waffe ein und kann als „Erfinder“ des Populismus gesehen werden. – ©Wienbibliothek im Rathaus / CC BY-NC-ND 4.0

Berühmt & Berüchtigt

Cockett behauptet aber keineswegs, dass nur Gutes aus Wien kam. Karl Lueger war einer der ersten, der den Antisemitismus als politische Waffe einsetzte („Wer a Jud is, bestimm i“) obwohl er viel mit Juden verkehrte. So gesehen war er vielleicht der erste Populist, der sich nicht um Fakten scherte. Der Ökonom Othmar Spann schuf mit seinem Buch „Der wahre Staat“ die Grundlagen für den Faschismus in Österreich und Deutschland (er wurde auch NSDAP-Mitglied). Und ausgerechnet der Jude Otto Weininger schrieb mit „Geschlecht und Charakter“ ein Werk des Antisemitismus und der Frauendiskriminierung, das viel Beachtung fand – auch weil es einen Geniekult huldigt nach dem sich geniale Menschen keiner Verantwortung zu stellen haben. Zudem war die Wiener Universität keineswegs immer ein Hort der liberalen Weltauffassung. Rechte Schlägertrupps waren eine ständige Gefahr für Studierende und Lehrende. So wurde Moritz Schlick bekanntlich auf der Universitätsstiege ermordet.

Nevertheless, wie Cockett am Ende schreibt: „We are all in their debt“.

Interessant auch, dass eine so eindrucksvolle Aufarbeitung des Wiener Geisteslebens auf die moderne Welt von einem Briten kommt. Man wird sehen, ob das einen ähnlichen Effekt hat wie die Darstellung Wiens des US-Amerikaners Carl E. Schorske in seinem wegweisenden Klassiker „Fin-de-siècle Vienna “(1979). Schorske markiert immerhin den Beginn des kulturellen Massentourismus nach Wien. Ein Grundpfeiler des wirtschaftlichen Erfolgs unserer Stadt.


Wie die moderne Welt von Wiener Wunderwuzzis erfunden wurde – Das erstaunliche Werk „Vienna“ des Historikers Richard Cockett.

Richard Cockett: Vienna. How the City of Ideas Created the Modern World
New Haven und London: Yale University Press 2023
445 Seiten
€ 33,60

Essen nach der Katastrophe – C Pam Zhangs Roman „Wo Milch und Honig fließen“

Essen nach der Katastrophe – C Pam Zhangs Roman „Wo Milch und Honig fließen“

Dystopien – also düstere Science-Fiction meist nach einer globalen Katastrophe spielend – sind der neue Zeitroman. Sehr viele aktuelle Bücher spielen in einer Zukunft, die so fern nicht scheint, die wir aber nicht erleben wollen. So auch der neue Roman von C Pam Zhang, dessen Titel „Wo Milch und Honig fließen“ eher das Gegenteil vermuten ließ. Denn wir befinden uns da in einer Welt, die nach einem Supergau in der Landwirtschaft, von einer Smogwolke bedeckt ist. Nur noch sehr genügsame Pflanzen wachsen in der dunklen Atmosphäre, die Menschen ernähren sich hauptsächlich von Mungomehl, einer grauen Pappe.

Eine junge, amerikanische Köchin heuert – gestrandet in Europa nach dem Einreiseverbot in die USA – bei einer Forschungsgruppe um einen geheimnisvollen Millionär auf einem Berg nahe Mailand an, weil sie schon seit Monaten kein frisches Grün mehr essen konnte. Denn oben im Gebirge ist man über dem Smog – die Wissenschaftler züchten alles, was es auf der Erde schon lange nicht mehr gibt. Mehr noch – der reiche Betreiber der Kolonie ist von seinen noch reicheren Sponsoren abhängig, denen er jede Woche ein opulentes Menü aus exquisiten Lebensmitteln servieren muss. Die Köchin ist zwar weit nicht so gut wie sie behauptet hat, sie hat jedoch einen wichtigen Bonus: sie sieht der verschwundenen asiatischen Frau des Magnaten ähnlich und soll sich bei den Dines im Seidenkleid als seine Frau ausgeben. Aber weil sie sich in dessen Tochter, einer exzentrischen Forscherin, verliebt, bleibt sie vorerst im „Land, wo Milch und Honig fließen“.

C Pam Zhang, 1990 in Peking geboren, wuchs in den USA auf und wurde 2020 mit ihrem Debütroman, den fulminanten Western „Wie viel von diesen Hügeln ist Gold“ berühmt. Ihr neuer Roman liest sich etwas sperriger, aber durchaus ebenso gut. Ihre Köchin ist durchaus ein interessanter Charakter, auch die Tochter des Magnaten ist gut gezeichnet. Die Superreichen bleiben im Gegensatz dazu leider etwas flach.

Der Roman ist freilich durchaus eine realistische Beschreibung möglicher Zukunftsperspektiven. Der Ausbruch eines Supervulkans (unter dem Yellowstone Park oder im Atlantik bei den Kanaren befinden sich derartige), der ähnliche Auswirkungen wie der beschriebene Smog zeigen würde, ist ja denkmöglich. Gespenstisch sind C Pam Zhangs Schilderungen der Besuche der Köchin im darbenden Mailand samt tödlichem Unfall. Die längst vom Einheitsbrei abgestumpften Gaumen der Kinder finden den Geschmack eines Apfels nur noch widerlich. Wer denkt da nicht an die heute grassierende Fast-Food-Unkultur.


C Pam Zhang: Wo Milch und Honig fließen
Aus dem amerikanischen Englisch von Eva Regul. S.
Fischer
272 Seiten
€ 24,70

Als Migrantin in Wiener Neustadt – Toxische Pommes und „Ein schönes Ausländerkind“.

Als Migrantin in Wiener Neustadt – Toxische Pommes und „Ein schönes Ausländerkind“

Als sich der Krieg in Jugoslawien ausbreitet, flieht die Familie der Erzählerin nach Österreich – zumal ihre Identität innerhalb der Volksgruppen nicht so eindeutig ist. Die drei landen ausgerechnet in Wiener Neustadt, weil es dort – Verwandten zufolge – eine Stelle als Haushaltshilfe geben soll. Die Erzählerin ist da noch ein Kind und wir erleben so die Sozialisation eines „Ausländerkindes“ in Österreich. Wobei sich die Kleine aus Rijeka bald als Musterschülerin entpuppt, die sogar in Deutsch Bestnoten erzielte. Ewas, das die Lehrerin nur schwer akzeptieren konnte, denn „Ein Ausländerkind bekommt kein Sehr Gut in Deutsch“.

Auch das Erlangen der Staatsbürgerschaft war schon damals schwierig und nur durch einige Tricks möglich. Dabei war die Mutter ausgebildete Apothekerin. Nur durch zusätzliche Kurse konnte sie schließlich in ihrem Job arbeiten und bekam eine Stelle in einer Apotheke. Später arbeitete sie in einem großen Pharmaunternehmen. Papa hat – obschon ebenfalls Akademiker – hingegen grobe Schwierigkeiten – nicht nur mit der Sprache. Vom Schiffsbauingenieur wird er zum Hausmann in der Familie. Erst findet das die Erzählerin super, weil Papa immer Zeit für sie hat, doch später nervt sie ihr Vater immer mehr. Zur großen Tragödie ihrer Adoleszenz wird ein Schwimmwettbewerb. Die Erzählerin war zu einer Spitzenschwimmerin herangereift. Bei einem Fun-Wettbewerb sollte sie mit ihrem Vater antreten, doch der ist – trotz guter Fitness – mental unfähig, sich wirklich anzustrengen. Daraufhin ignoriert das Kind ihren Vater, der für die Sozialisation in der Fremde so gar nicht gerüstet scheint.

„Ein schönes Ausländerkind“ ist ein gut lesbarer Roman über die Wünsche, Ängste und Sehnsüchte einer Heranwachsenden fern der Heimat. Der Prolog passt allerdings nur bedingt. Da wird nämlich beschrieben, wie die Erzählerin nach dem Jus-Studium in einem Amt arbeitet, wo sie anscheinend nichts zu tun hat und sich schrecklich langweilt. Als das endlich auffällt, wird sie einvernehmlich gekündigt. Aber das ist ihr egal, denn sie fühlt sich längst „innerlich tot“. Die nachfolgende Beschreibung ihrer Sozialisation – eben das gesamte Buch – liest sich nicht so hart, dass man diese innere Leere verstehen kann.

Toxische Pommes ist natürlich ein Pseudonym. Irina – so der Verlag – arbeitet tatsächlich als Juristin in Wien und wurde in der Pandemie durch witzige Videos auf TikTok und Instagram bekannt. Inzwischen ist sie auch mit ihrem Kabarettprogramm „Ketchup, Mayo & Ajva – Die sieben Sünden des Ausländers“ erfolgreich.

Am 11. April wird das Buch im Wien Museum präsentiert – Anmeldung unter wienmuseum.at/event

Wie Gewalt entsteht – Valerie Fritschs Roman „Zitronen“ wird auch bei „Rund um die Burg“ gelesen

Wie Gewalt entsteht – Valerie Fritschs Roman „Zitronen“ wird auch bei „Rund um die Burg“ gelesen

August wächst am Land auf und muss eine Jugend erleben, die von Gewalt und Fürsorge sozusagen in die Mangel genommen scheint. Erst ist der bald arbeitslose Vater das Problem, der versucht durch Käufe und Verkäufe auf Flohmärkten Geld zu verdienen und das Haus in eine Rumpelkammer verwandelt. Besonders wenn er trinkt, schlägt er meist grundlos August und spart seine Liebe nur für seine Hunde auf. Augusts Mutter lebt in ihrer eigenen Welt und kümmert sich kaum um den Haushalt, nachdem sie nicht mehr als Krankenpflegerin arbeitet. Als der Vater plötzlich verschwindet, kann August endlich einen unbeschwerten Sommer mit den Nachbarskindern erleben. Doch die Freude hält nur kurz – August bekommt eine Sommergrippe und liegt im Bett. Seine Mutter blüht plötzlich auf, denn endlich kann sie ihren Sohn umsorgen und in der Dorfgemeinschaft als Mutter punkten.

Als August wieder zu gesunden ansetzt, hilft sie mit Tabletten nach, um ihn krank zu halten. Sie schafft es sogar lange ihren neuen Partner – ausgerechnet den dicken Gemeindearzt – zu täuschen. Zwischendurch füttert sie ihm Zündholzköpfe als Stärkungsmittel. Nur im Urlaub, in Italien, bekommt August wieder Kraft, denn der Mutter sind die Tabletten abhandengekommen. Dort sieht er auch – ganz verklärt – Zitronen an den Bäumen wachsen. Die endgültige Befreiung gelingt August erst im Unglück. Vom Blitz getroffen kommt er ins Krankenhaus und sein neuer Stiefvater ermöglicht ihm danach einen Neustart in der Stadt. Als Kellner verliebt er sich in eine Künstlerin, was nur so lange gutgeht, bis diese seine völlig gestörte Psyche anhand seiner krankhaften Eifersucht erkennt.

In „Zitronen“ schildert die in Graz geborene Schriftstellerin Valerie Fritsch wie ein Mensch durch eine schwer belastete Kindheit selbst zum Täter wird. Das Phänomen Angehörige künstlich krank zu halten ist inzwischen auch medizinisch diagnostiziert und wird Münchhausen-Stellvertretersyndrom genannt. Über Fälle von Gewalt an Kindern oder Frauen liest man sowieso nur allzu oft in den Zeitungen. Fritsch hat auch unter Tätern recherchiert. Im Buch lauscht August – bevor er selbst zum Täter wird – einem Mörder, der von der Teilnahmslosigkeit und Schulduneinsichtigkeit seiner „Kollegen“ erzählt. Das Ende des Romans sei aber hier nicht verraten.

Valerie Fritsch wird ihr Buch auch bei „Rund um die Burg“ (10./11. Mai) vorstellen.


Valerie Fritsch: Zitronen
Suhrkamp
188 Seiten
€ 24,70

Valerie Fritsch: Zitronen. Suhrkamp, 188 Seiten, € 24,70

Kunstfreiheit unter Goebbels – Daniel Kahlmanns Roman „Lichtspiel“ über G. W. Papst. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.

Kunstfreiheit unter Goebbels – Daniel Kehlmanns Roman „Lichtspiel“ über G. W. Papst

Daniel Kehlmann wird tatsächlich von Roman zu Roman immer besser. Sein Buch über den österreichischen Filmregiegiganten G. W. Papst (geboren 1885 in Böhmen, gestorben 1967 in Wien) zeichnet sich durch bestes schreiberisches Handwerk, Fokussierung auf ein Thema und sogar durch Humor aus. Kehlmann konzentriert sich nämlich auf einen – allerdings sehr wichtigen – Aspekt aus dem Leben von Papst. Warum kehrte er aus Hollywood nach Deutschland zurück als dort bereits Hitler seinen Krieg vorbereitete und wie überlebte er unter der Propagandamaschinerie von Joseph Goebbels im Kulturbetrieb? Und vor allem: Würde Papst dadurch moralisch schuldig?

Gleich zu Beginn steht eine der witzigsten Szenen des Buches, die aber bereits auf das Kernthema hinweist. Ein bereits fast dementer Regieassistent von Papst – Franz Wilzek – hat einen Auftritt bei Heinz Conrads „Was gibt es Neues“ und streitet mit dem stetig mehr angepissten Moderator über einen Film, der kurz vor Kriegsende von Papst gedreht wurde. Dieser Film – „Der Fall Molander“ – nach einem Roman des NS-Dichters Alfred Karrasch – gilt als verschollen und wurde auch nie geschnitten. Allerdings sollen dabei – wie im Roman breit geschildert – KZ-Häftlinge als Statisten eingesetzt worden sein.

In Hollywood hatte man Papst, der sich mit „Die freudlose Gasse“ in die erste Riege der Stummfilmregisseure katapultiert hatte, 1934 genötigt, ein schlechtes Drehbuch zu verfilmen – der Streifen „A Modern Hero“ war dann dementsprechend erfolglos. Er versucht vergebens Greta Garbo – seine Entdeckung – für ein Filmprojekt zu begeistern und kehrt zunächst nach Frankreich zurück. Um seine mutmaßlich kranke Mutter zu sehen, kommt er wieder nach Österreich, das es damals allerdings schon gar nicht mehr gab. In seinem Schloss hat der Hausmeister, ein NS-Parteigänger, bereits die Macht ergriffen. Plastisch beschreibt Kehlmann – permanent die Erzählperspektive wechselnd – auch die Audienz bei Goebbels oder die Kameraden von Jakob, den Sohn des Regisseurs. Der Roman über den Filmregisseur ist dabei durchaus sehr cineastisch geworden. Das mag manche Exegeten der reinen Literaturlehre stören, die Leser werden ihm allerdings danken.


Kunstfreiheit unter Goebbels – Daniel Kahlmanns Roman „Lichtspiel“ über G. W. Papst. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.

Daniel Kehlmann: Lichtspiel
Rowohlt
480 Seiten
€ 27,50

Aufwachsen in Kärnten – Julia Josts Debütroman „Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht

Aufwachsen in Kärnten – Julia Josts Debütroman „Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht

Die 11-jährige Erzählerin J. versteckt sich unter einem Lastwagen, in dem gerade der gesamten Hausrat der Familie aufgeladen wird, denn ein Umzug steht an. In ein viel größeres Haus, das gebraucht wird, weil die Mutter unzählige Möbelstücke aus dem Dorotheum im nahen Villach aufgekauft hat – der neue Reichtum der Familie, der vom schwunghaften Verkauf von Lastwägen in die eben frei gewordenen Länder aus dem Osten herrührt, verlangt nach einer repräsentativen Bleibe.

J. will gar nicht weg, weil sie sich von ihrer Freundin Luca, ein aus Bosnien stammendes gleichaltriges Mädchen, trennen muss, mit der sie bereits erste Küsse ausgetauscht hat. Wir sind in den 90ern in Kärnten, der Vater schimpft ununterbrochen, weil seine beiden Söhne lange und die Tochter kurze Haare haben. Eine neue Zeit ist im Anmarsch, der neue Bürgermeister – ein guter Freund des Vaters – redet von Hausverstand und umgibt sich mit allerlei Kellernazis, die wieder aus den Löchern kriechen.

Die in Kärnten aufgewachsene Autorin Julia Jost, Jahrgang 1982, hat den Aufstieg Jörg Haiders miterlebt. Sie studierte in Wien und Berlin und hat bisher vor allem an diversen Theatern gearbeitet. Im April wird am Volkstheater ihr Shakespeare-Stück ROM uraufgeführt.

Für ihren ersten Roman hat sie augenscheinlich ihre eigene Jugend verarbeitet. Erstaunlich ist schon, wie viel sie in den 230 Seiten unterbringen kann, denn schließlich erzählt sie sozusagen ganz naiv mit den Augen eines Kindes. Ihre Sprache ist freilich keinesfalls einfach. Zum einen verwendet sie Dialekt und zum anderen findet sie oft ungewöhnliche Sprachbilder.

Am Beginn steht ein tödlicher Unfall. Ein Kind wird von den Spielkameraden genötigt, in einem Schacht das verlorene Messer – ein sorgsam gehüteter alter SS-Dolch mit der Aufschrift „Meine Ehre heißt Treue“ – zu holen und ertrinkt dabei. Ein Trauma für die Kinder und die gesamte Dorfgemeinschaft. Doch Jost wollte keinen sogenannten Anti-Heimatroman schreiben, ihr schriftstellerisches Interesse gilt immer dem erzählenden Kind. Wie war das damals, in Kärnten auf dem Land aufzuwachsen? Ein Roman, der trotzdem so nebenbei das politische Dilemma in unserer Republik darstellt.

Julia Jost wird bei Rund um die Burg – heuer am 10. und 11. Mai – lesen.
Infos ab Mitte März unter www.rundumdieburg.at


Der Waffenbesitz gehört zur DNA der USA – Paul Austers Essay „Bloodbath Nation“

Der Waffenbesitz gehört zur DNA der USA – Paul Austers Essay „Bloodbath Nation“

Die Zahlen sind so ernüchternd wie in der politischen Debatte der USA wirkungslos: Die USA haben mehr Menschen im eigenen Land durch Schusswaffen verloren als sie Tote in allen ihren Kriegen – vom Unabhängigkeitskrieg angefangen – zu beklagen haben. Insgesamt kommen aktuell jedes Jahr fast 40.000 Menschen in den USA durch Schussverletzungen ums Leben, etwa genauso viele wie bei Autounfällen. Der bekannte Schriftsteller Paul Auster hat jetzt einen Essay zu diesem Thema veröffentlicht, wohl auch um sich selbst zu erklären, wie ein derartiger Wahnsinn möglich ist. Dabei beginnt Auster sehr persönlich. Er erzählt, wie das Abfeuern einer Waffe für ihn als Teenager nichts Besonderes war und er sogar – ohne Übung – ein Meister im Tontaubenschießen wurde. Freilich hatte er dann andere Interessen, Waffen gehörten für ihn nicht zum Alltag. Seine Familie hasste zudem Waffen. Erst sehr spät erfährt er den Grund dafür, nämlich dass in einer sehr verdrängten Familiengeschichte ein Revolver eine wichtige Rolle spielte. Seine Großmutter hat nämlich seinen Großvater im Affekt erschossen – damals, gleich nach dem 1. Weltkrieg, fand sie einen Richter, der sie aufgrund temporärer Unzurechnungsfähigkeit freisprach.

Auster gibt auch zu, dass er vielleicht anders denken würde, wenn er im Süden der USA aufgewachsen wäre, wo Waffenbesitz einfach zum Alltag gehört. Er erklärt, wie die USA aus einer Miliznation entstanden ist, wo die Bürger ihre Waffen stets griffbereit haben mussten. Bis zur Bürgerrechtsbewegung, als viele weiße Amerikaner sich vor „Black Power“ fürchteten, war die inzwischen berüchtigte Waffenlobbyvereinigung NRA ein kleiner Verein für Sportschützen. Die aller Vernunft spottende Bewaffnung der US-Staatsbürger – es gibt längst mehr Schusswaffen als Einwohner – ist also gar noch nicht so alt. Frustrierend Austers Einschätzung der Zukunft: Selbst wenn es einmal eine Regierung mit großer Mehrheit geben würde, die europäische Gesetze und Prämien für jene, die ihre Waffen abgeben, durchsetzen könnte – eine solche ist aber sowieso nicht in Sicht – würde alles ähnlich sinnlos sein wie das Verbot von Alkohol während der Prohibition, zumal man heute mittels 3D-Drucker einfach selbst Waffen herstellen kann.

Interessant ist Austers Schilderung des einzigen Falls, in dem ein Attentäter durch einen beherzten Mann mit einer Waffe gestoppt wurde – denn die NRA und ihre Anhänger behaupten ja immer, dass man Waffen brauche, um Amokläufern das Handwerk zu legen. Der damalige „Held“ war schwer geschockt, weil er auf Menschen schießen musste, der Attentäter flüchtete zunächst auch noch im Auto, ehe er sich schwer verwundet das Leben nahm. Und erhellend ist auch Austers Vergleich von Schusswaffen mit dem zweiten Heiligtum der USA, dem Auto. Denn beim Individualverkehr ist es durch strenge Gesetze und Auflagen nach und nach gelungen, die Todeszahlen drastisch zu senken. Sicherheitsgurte wurden etwa in den USA lange vor Europa Pflicht.

Ein wichtiges Buch – auch wenn man sich als Europäer natürlich nicht wirklich angesprochen fühlt und Auster keine Lösung dieses Problems für die USA zeigen kann.

Gespenstig sind die im Buch abgebildeten Fotos von Austers Schwiegersohn, des US-Fotografen Spencer Ostrander, der Schauplätze bekannter Waffengewalt-Massaker in den USA in Schwarz-Weiß fotografiert hat – menschenleere Supermärkte, Schulen, religiöse Einrichtungen, die nach den Tragödien geschlossen wurden.


Paul Auster: Bloodbath Nation
Mit Fotos von Spencer Ostrander
Aus dem Englischen von Werner Schmitz
Rowohlt
180 Seiten
€ 27,50