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Eine Familie auf der Flucht – Micha Lewinskys „Sobald wir angekommen sind“

Eine Familie auf der Flucht – Micha Lewinskys „Sobald wir angekommen sind“

Ein Zwischenfall auf NATO-Gebiet in Europa lässt Schlimmes befürchten – wird gar mit Atomwaffen geantwortet? In Zürich läuten für den wenig erfolgreichen Drehbuchautor Ben Oppenheim die Alarmglocken. Auch seine von ihm kürzlich getrennte Frau Marina macht sich Sorgen und so bucht sie für Ben und die zwei Kinder Moritz und Rosa einen Flug nach Brasilien. Obwohl Ben längst eine andere Freundin – die erfolgreiche Künstlerin Julia – hat. Der Hintergrund: Jüdische Familien sind aufgrund der Lehren aus der Geschichte stets fluchtbereit. Werden Ben und Marina in Recife wieder ein Paar?

Micha Lewinsky ist eigentlich Filmregisseur, „Sobald wir angekommen sind“ ist sein erster Roman. Und er packt nicht wenig in die Story: Jüdische Selbstzweifel, Ehekrise, Kindererziehung, neue Liebe. Aus der Sicht von Ben erzählend bleibt er dabei aber immer auf der humorvollen Seite und scheut sich nicht, seinen Protagonisten blöde aussehen zu lassen. Ben weiß ja selbst, dass er einiges vergeigt hat. Sein Drehbuch über Stefan Zweig in Brasilien wird von seiner Produzentin abgelehnt, Neues fällt ihm nicht ein. Zwischen Frau und Geliebter kann er sich nicht entscheiden, wahrscheinlich bleibt er sowieso allein zurück. Wir folgen ihm auf seiner Flucht ebenso wie bei seinen Selbsttäuschungen. Stilistisch ist der Roman sicher nicht der Hammer, aber mit seinen vielen Reflexionen über das Judentum, Männer in der Krise oder grundsätzlich die Situation unserer Welt ist das Buch mit Vergnügen zu lesen.


Micha Lewinsky: Sobald wir angekommen sind
Diogenes, 280 Seiten, € 26,50

Vom Schreiben schreiben – Bestsellerautor Benedict Wells erzählt in „Die Geschichten in uns“ seinen mühevollen Weg zum Schriftsteller.

Vom Schreiben schreiben – Bestsellerautor Benedict Wells erzählt in „Die Geschichten in uns“ seinen mühevollen Weg zum Schriftsteller

Nach dem Lesen von Wells letztem Roman „Hard Land“ fragte ich mich, warum gerade ein deutscher Autor eine – zugegeben sogar perfekte – Geschichte vom Aufwachsen in einer amerikanischen Kleinstadt geschrieben hat. Deshalb war ich neugierig, etwas aus der Werkstatt dieses – seit „Vom Ende der Einsamkeit“ 2016 – Bestsellerautors zu erfahren. Kurz gesagt: jetzt weiß ich, warum Wells diesen Roman schreiben musste…

Benedict Wells erzählt aber zuerst vom eigenen Aufwachsen. Im Vorwort berichtet der Autor, dass dieses Buch sein gescheiterter Versuch sein, einmal für eine Zeit kein Buch zu schreiben. Nun, wir profitieren ja unentwegt davon, dass Schriftsteller schreiben müssen. Wells hatte freilich eine problematische Kindheit. Da seine Mutter manisch-depressiv war und sein Vater in die Insolvenz abrutschte, kam Wells in ein Heim in Bayern. Schon bald wurden Bücher sein Trost. Im Sommer 2003 zieht er 19-jährig nach Berlin, um dort Autor zu werden. Es folgen Jahre, in denen er viele schlechte Texte schreibt, Brotjobs macht, ehe er mit „Becks letzter Sommer“ seinen ersten Roman herausbringen kann. Seinen Namen Wells hat er sich aus John Irvings „Gottes Werk und Teufels Beitrag“ geliehen, denn er ist – wie er nicht öffentlich machen wollte, aber eine Zeitschrift aufdeckte – ein Enkel Baldur von Schirachs und Cousin des Schriftstellers und Juristen Ferdinand von Schirach.   

„Hard Land“ ist ein Coming-of-Age-Roman, der in den 80er-Jahren in einer fiktiven amerikanischen Kleinstadt spielt. Wells erkannte, dass Sehnsucht der prägende Begriff der Eighties war, denn schließlich gab es die Angst vor dem Atomkrieg ebenso wie Tschernobyl, Aids und den sauren Regen. Diese Sehnsucht verspürte der Autor auch in seiner Erinnerung in Bayern. Und die USA waren auch in Deutschland mittels Filme und Songs allgegenwärtig. Also siedelte Wells seinen Roman gleich dort an.

„Die Geschichten in uns. Vom Schreiben und vom Lesen“ enthält aber auch sehr viele Reflexionen über das Schreiben von Literatur. Das ist interessant, erfahren wir doch auch von bekannten Romanen und der Arbeitsweise von Schriftstellern. Die praktischen Tipps sind sicher für angehende Autoren hilfreich, so mancher große Roman wäre allerdings nicht zustande gekommen, wäre der Verfasser ihnen gefolgt. Das Nachdenken über Literatur ist freilich immer ein Gewinn.


Vom Schreiben schreiben – Bestsellerautor Benedict Wells erzählt in „Die Geschichten in uns“ seinen mühevollen Weg zum Schriftsteller.

Benedict Wells: Die Geschichten in uns
Vom Schreiben und vom Lesen
Diogenes, 400 Seiten, € 26,80

Thomas Manns Zauberberg – 2 Bücher zum Literatur-Jubiläum

Thomas Manns Zauberberg – 2 Bücher zum Literatur-Jubiläum

1924 erschien Thomas Manns wohl bekanntester Roman „Der Zauberberg“. Die Geschichte des lungenkranken Hans Castorp gilt zurecht als einer der profiliertesten Romane in deutscher Sprache – ein Jahrhundertbuch und ein Abgesang auf eine Epoche, die mit dem Ausbruch des 1. Weltkriegs endete.

Der deutsche Autor Norman Ohler hat jetzt ein Buch über Davos geschrieben, das er selbstbewusst „Der Zauberberg, die ganze Geschichte“ nennt und etwas kokett in einer Art Rahmenhandlung als Steuerabschreibprogramm definiert. Er fährt mit Tochter und deren Freundinnen zum Schiurlaub nach Davos, wo er dann tatsächlich über die Geschichte des Ortes recherchiert. Und das ist nicht uninteressant. Ausgerechnet ein deutscher politischer Flüchtling und Arzt begründete den Ruf dieses Ortes, der Mitte des 19. Jahrhunderts noch völlig unbekannt war. Dem Arzt fiel auf, dass hier hoch in den Bergen niemand an der Geisel der Zeit – der Tuberkulose – erkrankt war. Er schaffte es, das erste Sanatorium einzurichten und bald schon kamen vor allem Gutbetuchte, um sich hier zu kurieren. Ein wissenschaftlicher Nachweis fehlte allerdings bis zuletzt. Schließlich wurde bekannt, dass Tbc von einem Bakterium ausgelöst wird. Antibiotika waren allerdings noch nicht erfunden. Ohler zeichnet die Entwicklungsstufen von Davos sehr plastisch nach, denn natürlich reagierten die Ärzte auch auf die neuen medizinischen Erkenntnisse. Nach und nach traten strenge Hygienemaßnahmen in Kraft – man war auf den Weg in eine Gesundheitsdiktatur. Das profitable Geschäft mit den Kranken blieb freilich und so manch Gesunder wurde gleich mitbehandelt. Thomas Manns Begegnung mit einem Davoser Arzt ist bekannt – der Dichter, der ja nur seine Frau besuchte, floh vor der falschen Diagnose und schrieb eben den Zauberberg. Heute ist Davos aber auch durch das Treffen der Superreichen beim World Economic Forum bekannt und unter Verschwörungstheoretikern berüchtigt. Spannend ist auch die Nazi-Geschichte des Ortes. Wilhelm Gustloff baute hier mitten in der Schweiz eine starke NS-Ortsgruppe auf, ehe er von einem jungen Juden erschossen wurde. Hitler hatte seinen ersten Märtyrer…

Während Ohler doch eher ein Sachbuch geschrieben hat, stürzt sich Heinz Strunk in die Literatur. Sein „Zauberberg 2“ spielt allerdings nicht in den Bergen, sondern in eine psychiatrische Klinik im sumpfigen Niemandsland Mecklenburg-Vorpommerns. Dort kommt sein 36 Jahre alter Unternehmer Jonas Heidbrink, um seine Angstzustände zu überwinden. Dabei ist Heidbrink in einer sozial privilegierten Situation – als reich gewordener Start-up-Unternehmer hat er mehr Geld, als er ausgeben kann. In der Klinik trifft er ein Panoptikum heutiger psychisch angeschlagener Bürger, die in diversen Therapien – von Musik, Theater, Physio – behandelt werden, die alle aber in ihrem eigenen existenziellen Saft schwimmen. Das ist eine Zeit lang ganz unterhaltsam, wirklich interessieren können die an der Nähe zur Karikatur angesiedelten Leiden und Figuren aber nicht. Die philosophischen Dispute in Manns Zauberberg verkommen zur Brabbelei. Ausgerechnet ein 80-jähriger, der sich zu seinem Geburtstag mit Hochprozentigem ins Koma säuft, kann da am ehesten noch mithalten.


Heinz Strunk: Zauberberg 2
Rowohlt, 228 Seiten, € 25

Ein Walzer soll das Land retten – Mario Vargas Llosas Roman „Die große Versuchung“ über die Musik Perus

Ein Walzer soll das Land retten – Mario Vargas Llosas Roman „Die große Versuchung“ über die Musik Perus

Der peruanische Literatur-Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa ist schon 88, also vielleicht ist sein aktueller Roman „Die große Versuchung“ sein letzter großer Roman. Wobei er im Nachwort noch einen Essay über Sartre ankündigt.

Toño Azpilcueta ist ein Kenner der peruanischen Volksmusik – seine Familie mit zwei Töchtern lebt freilich von den kargen Einkünften seiner Ehefrau, die sich nie beschwert. Seine Artikel in Zeitschriften bringen kaum Geld, seine Hoffnung auf eine Professur hat sich zerschlagen. Da hört er eines Abends den ungemein talentierten Gitarristen Lalo Molfino spielen und ist bezaubert. Als dieser junge Musiker dann unerwartet stirbt, beschließt er, eine Biografie zu schreiben, in der er nebenbei auch noch die komplette peruanische Volksmusikgeschichte erklären will. Ein Freund hilft ihm, die Recherchen zu finanzieren. Das Buch erscheint und hat sogar Erfolg. Doch Toño ist trotzdem unzufrieden – immer wieder erweitert er sein Buch, in dem er nichts Geringeres als die Entwicklung, ja Erlösung Perus aus dem Geist der Volksmusik und des Walzers – des Vals – propagiert.

Mario Vargas Llosa hat seinen Roman zweigeteilt – jedes zweite Kapitel ist sozusagen von Toño Azpilcuetas Buch über Lalo, der von seiner Mutter auf einer Müllhalde ausgesetzt und von einem Pfarrer gerettet wurde, übernommen. Leser bekommen also auch die Geschichte Perus mitgeliefert.

Das klappt leider nur teilweise. Zu spröde ist die Historie. Und für Toño Azpilcueta kann man sich auch nicht wirklich begeistern. Zwar erregt seine Besessenheit von seinem Thema und seine psychische Krankheit – er wähnt sich in Stresssituationen von Ratten angegriffen, die in seiner Kleidung stecken – Mitleid. Aber wirklich interessant ist die Geschichte seines Scheiterns nicht. Immerhin – wir erfahren einiges über das Alltagsleben in Lima.


Mario Vargas Llosa: Die große Versuchung
Aus dem Spanischen von Thomas Brovot
Suhrkamp
304 Seiten
€26,00

10 Romane aus 2024, die ich für gelungen halte – Die Buchliste von Helmut Schneider

Eine subjektive Auswahl der Bücher, die ich 2024 gelesen habe.

Gaea Schoeters: Trophäe, Zsolnay
Eine Jagd in Afrika, die unter die Haut geht. Die Niederländerin stellt mit ihrer Geschichte Fragen an unsere Zivilisation. Wieviel ist ein Menschenleben im Kapitalismus wert? Ein ebenso wuchtiger wie schmaler Roman, der sich ins Gedächtnis bohrt.

Karl Ove Knausgård: Das dritte Königreich, Luchterhand
Der Norweger setzt sein Morgenstern-Romanprojekt fort und präsentiert sich als der vielleicht beste lebende Erzähler. Gespenstische Begegnungen zwischen Leben und Tod, heutige Menschen taumeln entlang der philosophischen Grundfragen.

Colson Whitehead: Die Intuitionistin, Hanser
Die erste schwarze Aufzugsinspektorin gerät in ein Spinnennetz aus Intrigen. Es geht um einen Richtungsstreit: Was funktioniert besser? – die Faktencheckerei oder Menschen, die sich in Maschinen einfühlen? Whiteheads Debütroman aus 1999 ist erschreckend aktuell.

Colm Tóibín: Long Island, Hanser
Die Fortsetzung des auch grandios verfilmten Bestsellers „Brooklyn“. Zwanzig Jahre später steht Elis wieder vor einer schweren Entscheidung zwischen ihrem Mann und ihrer Jugendliebe in der alten Heimat Irland. Grandios erzählt.

Arno Geiger: Reise nach Laredo, Hanser
Der Autor kleidet seine Untersuchung zu den menschlichen Urfragen nach dem Warum des Lebens und dem Zeitpunkt des Abschieds in ein historisches Gewand. Kaiser Karl bricht nach seiner Abdankung zu einer wundersamen Reise auf.

Julia Jost: Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht, Suhrkamp
Im Debütroman der Kärntner Dramatikerin wirkt die Nazi-Vergangenheit bis in die 90er-Jahre nach, als ein Kärntner Politiker sich anschickt, die Bundespolitik zu verändern und sich zwei Mädchen ineinander verlieben ohne zu wissen, wie ihnen geschieht.

John Wray: Unter Wölfen, Rowohlt
Der Autor, der abwechselnd in Brooklyn und Friesach lebt, erzählt eine Geschichte von Liebe und Freundschaft aus den 80er-Jahren im Umfeld der Death-Metal-Szene, die in Norwegen gänzlich surreal wird. Realitätsverlust in diversen Blasen ist freilich hochaktuell. Wrays Roman wurde von der Kritik etwas unterschätzt.

Kurt Palm: Trockenes Feld, leykam
Der Autor sucht nach den Wurzeln seiner Familie, die aus dem ehemals deutschsprachigen Gebiet in Kroatien stammt. Unsentimental und ohne Scheuklappen wird da eine Geschichte von Vertriebenen erzählt.

Gian Marco Griffi: Die Eisenbahnen Mexikos, Claasen
Piemont in den letzten Tagen der deutschen Besetzung: Ein kleiner Eisenbahnsoldat bekommt aus Berlin den Auftrag eine Karte der Zugverbindungen Mexikos zu beschaffen und stürzt in einen skurrilen Strudel an Ereignissen. Ein Roman in der Nachfolge von Roberto Bolaño.

Phillip B. Williams: Ours – die Stadt, S. Fischer
Williams wagt einen magischen Roman über eine Stadt nur für befreite Sklaven, in dem ohne Fantasy-Kitsch gezaubert wird. Ours ist aber keineswegs ein Idyll, sondern ein Spiegel für menschliche Sehnsüchte und Fehler. Wer sich auf diesen Text einlässt, taucht in einen Kosmos der Gefühle.

Weihnachtliche Mordsgeschichten – „Killer Bells“ von Franziska Waltz, Claus Schönhofer und Norbert Peter

Weihnachtliche Mordsgeschichten – „Killer Bells“ von Franziska Waltz, Claus Schönhofer und Norbert Peter

Wer sagt denn, dass Weihnachten immer besinnlich sein muss? Für Menschen, denen die Dauerberieselung mit Stille Nacht & Co. schon gehörig gegen den Strich geht, sei ein höchst unterhaltsames Büchlein mit „Weihnachtlichen Mordsgeschichten“ empfohlen.

In den 9 Stories gibt es jede Menge schräger Vögel, dystopische Familien und skurrile Situationen. Da hat ein Familienvater einen Wutanfall nach dem anderen, als er den Christbaum aufputzen soll, während seine Frau politisch korrekte Geschenke für den Sohn kaufen geht. Das kann nur schiefgehen. Und was passiert, wenn die Motorsäge beim Tranchieren einer Leiche den Geist aufgibt? Nach jeder Geschichte glaubt man, es könne nicht noch schlimmer werden. Aber Franziska Waltz, Claus Schönhofer und Norbert Peter beweisen, dass es möglich ist.

Franziska Waltz ist Kommunikationswissenschaftlerin, Filmproduzentin, Buchautorin und Lyrikerin mit Hang zu mörderischen Weihnachtsfantasien und toten Schneemännern. Sie baut in ihrer Freizeit gerne Insektenhotels.

Claus Schönhofer ist Buch- und TV-Autor, Kabarett-Regisseur und vom Namen her weihnachtsaffin, schreibt er sich gerne seine Mordgelüste von der Seele. In diesem Falle liegt der Tatort unterm Christbaum.  

Norbert Peter ist Kabarettist (Peter & Tekal), Journalist, Buch-Autor und Verfasser von satirischen Kolumnen. Steht auf Weihnachten, solange alle Morde restlos aufgeklärt sind, bevor „Stille Nacht“ zu Ende gesungen ist.


Piemont in den letzten Monaten des 2. Weltkriegs – Gian Marco Griffi: „Die Eisenbahnen Mexikos“

Piemont in den letzten Monaten des 2. Weltkriegs – Gian Marco Griffi: „Die Eisenbahnen Mexikos“

Für manche gilt Griffis Monumentalwerk (800 Seiten) als das wichtigste italienische Buch nach dem Ableben Umberto Ecos, wenngleich sich der 1976 geborene Autor dabei eher in der Nachfolge von Roberto Bolaño oder Borges befindet. Denn die Geschichte um den Protagonisten Cesco Magetti, der für die Nazis eine Karte des Eisenbahnnetzes von Mexiko auftreiben soll, ist herrlich skurril und mit historischen Anspielungen gespickt. Denn irgendwo an einem geheimen Ort soll dort eine Wunderwaffe versteckt sein. Cesco hat aber im Februar 1944 auch noch ein ganz anderes dringendes Problem, er leidet nämlich unter heftigsten Zahnschmerzen und an einer schrecklichen Furcht vor Zahnärzten. Sein Zahnarzt sitzt zudem gerade wegen regierungskritischer Äußerungen im Gefängnis. Deshalb stinkt er dauernd nach Alkohol, denn es fällt ihm nichts Besseres ein als den Zahn mit Grappabandagen zu behandeln.

Wie Cesco dann von einer skurrilen Situation in die nächste stolpert und sich dabei auch noch unsterblich in die unkonventionelle Bibliothekarin Tilda verliebt, macht den Hauptstrang dieses Romans aus, der freilich noch eine Menge anderer herrlicher Personen aufbietet. Dabei schert sich Griffi wenig um historische Genauigkeit. In einer der herrlichsten Episoden des Buches trifft er zwei Totengräber, die vormals beim Eisenbahnbau in Mexiko beschäftigt waren. Und die berichten auch, dass die Nazis jetzt zur Verwaltung des Friedhofs Rechner einsetzen – was zu noch mehr Fehlern führt. Und der Kaffeeautomat spuckt nur ungenießbare Brühe aus.

Auch die Szene, in der die Nazis aus Rache für von Partisanen getötete Soldaten willkürlich Menschen nach dem Kirchgang zur Erschießung zusammentreiben ist mehr schwarzhumorig denn realistisch. Der Kommandant will von den Opfern, die großen Leistungen des Faschismus abfragen. Und gänzlich grotesk ist die Schilderung des Besuchs der Bayreuther Festspiele durch Adolf Hitler. Er kann sich nicht zwischen Frack und Galauniform entscheiden, aber Eva Braun rät ihm zum Frack und so ist Adolf dann bei der anschließenden Feier der einzige Nazi in Zivil, was ihn unsäglich ärgert und befangen macht. Sein „Outfit“ wie er sagt – Eva rügt ihn wegen seiner englischen Ausdrucksweise – ist völlig unpassend.

Viele Nebenstränge spielen direkt in Mexiko, in einer geheimnisvollen Stadt, die auf keiner Landkarte verzeichnet ist. Gian Marco Griffi hat in seinem Monumentalwerk eine literarische Alternative des unrühmlichsten Abschnitts der Geschichte Italiens geschaffen ohne die große Schuld seiner Landsleute zu verschleiern. Wer Fabulierkunst und skurrile Szenen und Figuren zu schätzen weiß, wird mit diesem Roman viel Freude haben. Echte Literatur eben. 


Gian Marco Griffi: „Die Eisenbahnen Mexikos“
Aus dem Italienischen von Verena von Koskull
800 Seiten
Claasen
€ 38,50

Abhängigkeiten und Missbrauch – der verstörende Roman „Der Teufelsgriff“ von Lina Wolff

Er nennt sie Minnie, sie nennt ihn den Reinlichen – obwohl sie ihn erst zu Deo und schickeren Hemden überreden muss. Sie sind körperlich voneinander angezogen, da stört sein dicker Bauch auch nicht. Sie liebt ihn, trotzdem er sie immer öfter schlägt. Ihre Flucht zu einem Amerikaner nach New Orleans endet tragisch. Die Schwedin Lina Wolff hat einen Roman geschrieben, in der eine Frau sich in Florenz neu erfinden will und die dabei gleich in eine Beziehungsfalle stürzt. Die beiden haben wenig gemein, er hat auch seine guten Seiten – so will er etwa reuig, dass sie eine Psychotherapie machen. Die Psychologin rät der Frau unumwunden: Verlassen Sie diesen Mann sofort. Doch Minnie zögert, glaubt an das Gute in ihm. Aber wie viele Männer, die prügeln, ändern sich tatsächlich? Doch Minnie ist seelisch labil und ist ebenso eifersüchtig wie er. In Florenz lernt sie Ben kennen und folgt ihm nach Hause nach New Orleans – doch Ben ist nicht alleinstehend, seine Freundin ist noch gefährlicher als der Reinliche. Sie wird in einer Hütte angekettet. Statt zur Polizei zu flüchten, ruft sie aber wieder ihren Geliebten an. Lina Wolf ist ein ebenso spannender wie verstörender Roman gelungen. Ein Buch, das nichts für Menschen mit schwachen Nerven ist.


Lina Wolff: Der Teufelsgriff
Aus dem Schwedischen von Stefan Pluschkat
Rowohlt Verlag
254 Seiten
€ 25,00

Lina Wolff: Der Teufelsgriff
Aus dem Schwedischen von Stefan Pluschkat
Rowohlt Verlag
254 Seiten
€ 25,00

Das heurige Aktionsbuch „EineSTADT.EinBUCH“: Andrej Kurkows „Picknick auf dem Eis“

Das heurige Aktionsbuch „Eine STADT. Ein BUCH“: Andrej Kurkows „Picknick auf dem Eis“

Erschienen 1996 in der Ukraine und 1999 auf Deutsch (aus dem Russischen von Christa Vogel) bei Diogenes, Originaltitel Смерть постороннего (Tod eines Fremden).

Viktor lebt in Kiew als Schriftsteller, der bisher nur wenig geschrieben und kaum etwas veröffentlicht hat. Er bietet seine Texte erfolglos Zeitungen an. Gerade hat sich seine Freundin von ihm getrennt. Stattdessen hat einen Pinguin, den er Mischa nennt, bei sich aufgenommen, da der Zoo nicht mehr in der Lage war, ihn zu versorgen. „Er hatte sich einsam gefühlt. Aber der Pinguin Mischa brachte seine eigene Einsamkeit mit, jetzt ergänzten sich die beiden Einsamkeiten, was eher den Eindruck einer gegenseitigen Abhängigkeit als den einer Freundschaft erweckte.“ Mischa steht meistens da und starrt auf die Wand, frisst gefrorenen Fisch und hält sich im Winter gerne auf dem Balkon auf.

Da bekommt er plötzlich von der Hauptstadtzeitung das Angebot, Nachrufe zu schreiben. Auf Vorrat, denn die Personen, die ihm der Chefredakteur der Zeitung in jeweiligen Dossiers zukommen lässt, sind noch nicht verstorben. All diesen Prominenten ist freilich gemeinsam, dass sie in Skandale verstrickt sind.

Aber Viktor ist froh über die gut bezahlte Arbeit. Seine Nekrologe unterschreibt er mit „der engste Freundeskreis“.

Als er beruflich nach Charkow verreisen soll, weiß er nicht, wem er die Fütterung des Pinguins anvertrauen kann, und ruft bei der Polizei an. Revierpolizist Leutnant Fischbein übernimmt die Aufgabe und die beiden freunden sich an.  Fischbein heißt eigentlich Stepanenko. Er hatte sich zum Juden gemacht, weil er emigrieren wollte. »Dann habe ich erfahren, wie die Emigranten im Ausland leben«, vertraut er Viktor bei einem Abendessen an. Nämlich miserabel. »So habe ich beschlossen, hier zu bleiben, und um als Jude nicht unbewaffnet rumzulaufen, bin ich zur Polizei gegangen.« 

Und Viktor bekommt noch eine Mitbewohnerin. Ein Bekannter bittet ihn, auf seine etwa fünfjährige Tochter Sonja aufzupassen und kommt nicht wieder, denn er wird erschossen. Sonja und Mischa sind bald ein Herz und eine Seele. In Charkow entgeht Viktor nur knapp einem Mordanschlag und auch in Kiew gibt es täglich Tote und Schießereien – anscheinend ist ein Krieg zwischen Mafia-Clans im Gange. Das Leben in der seit 1991 souveränen Ukraine ist nicht ungefährlich, die Menschen sind damit beschäftigt den Alltag am Laufen zu halten. Sein Chefredakteur erklärt ihm „Das Leben ist es nicht wert, dass man darum Angst haben müsste. Glaube mir!“, als sein Chauffeur ermordet wird.

Viktor will mehr über Pinguine und Mischa wissen und besucht den ehemaligen Pinguinologen des Zoos, der ihm erklärt, dass Mischa ein depressives Syndrom und ein Herzleiden hat.

Neujahr verbringt Viktor mit Mischa und Sonja in der Datscha von Fischbein, weil ihm sein Chefredakteur empfohlen hat, kurzfristig unterzutauchen. Es kommt dann auch tatsächlich zum Picknick auf dem Eis auf dem zugefrorenen Dnepr. Mischa springt in ein Eisloch und schwimmt vergnügt. Inzwischen sind mehrere Menschen, für die Viktor Todesanzeigen geschrieben hatte, tatsächlich verstorben. Viktor ahnt Schreckliches.

Um Sonja nicht so lange allein zu lassen, stellt Viktor die arbeitslose Nichte von Fischbein – Nina – als Kindermädchen an. Die hätte gerne eine Familie, sie schlafen auch zusammen, der Sex ist allerdings leidenschaftslos.

Da bekommt Viktor ein Angebot, das er sich nicht abschlagen traut. Er soll den Pinguin für viel Geld bei Trauerfeiern bekannter Persönlichkeiten sozusagen vermieten. Doch da wird Mischa krank und muss ins Spital. Er braucht eine Herztransplantation – doch die Organisation, die die Begräbnisse organisiert, verschafft ihm mühelos das Spenderherz eines 3jährigen Kindes.

Inzwischen stirbt Fischbein bei einem Einsatz in Moskau, wohin er wegen des besseren Gehalts gezogen war. Die Polizistenkollegen schicken ihm die Urne. Als dann auch der Chefredakteur stirbt, der Viktor erklärt hatte, wenn er einmal den Sinn der Nekrologe erfahren würde, wäre auch sein Leben dahin, ist dieser natürlich alarmiert. Da erfährt er, dass Nina von einem Mann über ihn befragt wurde. Er verfolgt den Unbekannten und setzt diesen mit einer Pistole unter Druck. Der zeigt ihm den bereits verfassten Nekrolog auf Viktor.

Bei Internetrecherchen hatte Viktor herausgefunden, dass die Ukraine auf der Antarktis eine Forschungsstation betreibt. Mit einer großzügigen Spende erkauft sich Viktor ein Ticket für die nächste Reise zur Station. Eigentlich wäre die Passage für Mischa bestimmt gewesen, doch Viktor weiß, dass er in Kiew auf einer Todesliste steht.

Andrej Kurkow hat auch eine Fortsetzung des Romans geschrieben: „Pinguine frieren nicht“ (Diogenes) ist noch abenteuerlicher, Viktor reist in der ganzen ehemaligen Sowjetunion auf der Suche nach Mischa herum.


Erhältlich bei der Aktion Eine STADT. Ein BUCH.

KI und der Ozean – der vielschichtige Roman „Das große Spiel“ von Richard Powers

Der in einem Vorort von Chicago aufgewachsene Richard Powers studierte zunächst Physik und wollte Ozeanograf werden, ehe er mit dem Schreiben begann. Und sein wissenschaftliches, philosophisches Interesse merkt man seinen großen Romanen auch an, er befasste sich darin mit dem menschlichen Gedächtnis, Musik und Rassismus und 2018, in seinem letzten großen Bestseller „Die Wurzeln des Lebens“, mit dem Verschwinden der Biodiversität und der Bäume. Die menschengemachte Zerstörung der Natur entwickelte sich daher fast zwangsläufig zu seinem Hauptthema. Im neuen Roman „Das große Spiel“ bringt er dann zusätzlich noch die größte heutige Bedrohung für die Zukunft der Menschheit ein, nämlich die rasante Entwicklung der KI. Gleichzeitig kehrt er zu seiner Leidenschaft für das Leben im Ozean sozusagen zurück.

Im Kern geht es um die Jugendfreundschaft zwischen einem Sohn eines zunächst reichen weißen Börsenmaklers – Todd Keane – und eines schwarzen Jungen aus der Chicagoer Southside – Rafi Young–, die beide ausgerechnet auf einer von Jesuiten geführten Schule landen. Was sie verbindet, ist ihr Neugier, Ungewöhnliches auszuprobieren und ihre Faszination für Spiele – erst für Schach und dann für Go. Dabei erzählt Powers die Geschichte des späteren Computergenies und Multimilliardärs Todd in der Ich-Form, während er das andere Geschehen, in das noch einige Figuren wie die Tiefseetauchpionierin Evelyne Beaulieu (nach der realen Forscherin Sylvia Earle geformt) eingewebt sind. Rafi ist von ausgefallener Literatur begeistert, der eigentliche Nerd des Romans, will seine Leidenschaft aber nicht für einen schnöden Job opfern. Er schwärmt etwa für den russischen Philosophen und Mystiker Nikolai Fjodorowitsch Fjodorow, der von der Auferstehung aller jemals gestorbener Menschen träumt. Interessanterweise ein Gedanke, der auch in Knausgards großangelegtem Romanprojekt auftaucht. Rafi landet mit seiner ebenso begabten Frau – der Künstlerin Ina – auf einer sehr abgelegenen Insel im Pazifik wo er als Hilfslehrer nicht unglücklich ist. Auf Makatea leben insgesamt nur etwa 80 Menschen, nachdem die Insel durch den Phosphatabbau fast zerstört wurde. Es ist zugleich eine Industrieruine und ein Naturparadies – vor allem unter Wasser. Daher hat sich auch die inzwischen greise Evelyne Beaulieu dort zurückgezogen.

Auf Makatea soll gerade eine Abstimmung durchgeführt werden, denn eine große Investmentfirma, bei der natürlich Todd die meisten Anteile hält, will dort Plattformen für schwimmende Städte herstellen – die Inselbewohner hätten endlich wieder Arbeit und eine echte medizinische Versorgung. Die Abstimmung ist der große Schlusspunkt des Werkes (das Ergebnis sei hier natürlich nicht verraten) und die Idee, sozuasagen auf staatsfreiem Gebiet – der Ozean gehört ja niemandem – zu siedeln gehört ja schon länger zu den Lieblingsfantasien im Silicon Valley.

Am beeindruckendsten ist der Roman freilich bei den Schilderungen der Tauchgänge Evelyne Beaulieus. Als über 90jährige befreit sie noch einen riesigen Rochen von Fangnetzen, die sich in sein Fleisch gebohrt haben. Und der Manta zeigt tatsächlich Dankbarkeit. Währenddessen steigt eine völlig neue Kraft in die Menschheitsgeschichte ein: die KI. Als ein Computer den Schachweltmeister Kasparow besiegt, nimmt man das noch hin, aber als 2026 auch der Go-Meister von einer KI in die Knie gezwungen wird, wissen die Eingeweihten, dass sich die Spielregeln grundsätzlich verändert haben. Wie Todd es ausdrückt: „Wir hatten die Zukunft auf Autopilot gesetzt“. Denn während die Menschheit noch diskutierte, welche Arbeiten künftig durch Maschinen ersetzt werden würden, stellte sich die KI bereits die Frage, ob Demokratie und Freiheit unvereinbar sei und ob man beides überhaupt brauche. Ein Roman, der in gut lesbarer Form viele Gedanken anstößt.


Richard Powers: Das große Spiel
Aus dem Amerikanischen von Eva Bonné
Penguin Verlag
512 Seiten
€ 26,80