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Pflegekraft trifft Karrierefrau – Susanne Gregors „Halbe Leben“

Der neue Roman der in Wien lebenden aus der Slowakei stammenden Autorin Susanne Gregor beginnt gleich mit einem Absturz. Bei einem Spaziergang mit Paulína, der Betreuerin ihrer Mutter, fällt Klara in eine tiefe Böschung und kommt ums Leben. Die folgenden Seiten erzählen dann das Davor. Und das ist interessant, denn Gregor versteht es, Alltagsszenen so zu verdichten, dass die dahinter liegenden Probleme in den Familien verständlich werden. Denn natürlich hat auch die slowakische Pflegekraft Paulína daheim eine Familie, die sie jeweils für zwei Wochen verlassen muss. Denn so ist der Deal mit der Karrierefrau Klara, die schon mit ihrer halbwüchsigen Tochter überfordert war und sie deshalb von ihrer Mutter betreuen ließ. Doch Mutter Irene ist nach einem Schlaganfall selbst pflegebedürftig und Klaras Mann Jakob ein Träumer, der recht unenergisch als Fotograf arbeitet. Als Paulína kommt, scheint sich alles zum Besten zu entwickeln. Sie und Klara sind gleichaltrig, vielleicht kann sich gar so etwas wie eine Freundschaft entwickeln.

Susanne Gregor, deren Vorgängerromane „Das letzte rote Jahr“ und „Wir werden fliegen“ schon sehr positiv aufgefallen sind, weiß gekonnt das Verhältnis der beiden Frauen zueinander zu entwickeln. Zwischendurch machen wir als Leser auch einen Abstecher in die Gedanken der zunehmend dementer werdenden Mutter Irene. Niemand hat böse Absichten und doch entstehen Kränkungen, ihre Lebenswelten sind einfach sehr verschieden. Und beide haben immer wieder das Gefühl zu versagen – vor allem natürlich in ihrer Mutterrolle. Mit „Halbe Leben“ ist Gregor ein Roman gelungen, der dem komplexen Frauenleben heute gerecht wird.

Susanne Gregor wird ihren Roman auch bei RUND UM DIE BURG (Freitag, 9. Mai und Samstag 10. Mai) präsentieren.


Susanne Gregor: „Halbe Leben“
Zsolnay Verlag, 190 Seiten, € 24,50

Tito-Partisanen und Winnetou – Clemens Meyers Monumentalroman „Die Projektoren“

Die 1050 Seiten dieses Romans sind sowohl ein Lesevergnügen als auch ein Bergwerk für Germanistik-Seminararbeiten. Clemens Meyers „Die Projektoren“ schafft nämlich zweierlei – eine spannende Handlung zu erzählen und Sätze zu finden, die nachwirken. Dabei schert sich Meyer erfrischend wenig um drohende Kitschvorwürfe. Da hat endlich wieder einmal einer einen Roman geschrieben, der Position bezieht.

„Die Projektoren“ beleuchtet die dunkelsten Kapitel der Geschichte des Balkans. Schon der 1. Weltkrieg hatte hier seinen Ausgangspunkt, aber im Roman sind wir vor allem im blutigen Partisanenkrieg gegen die Nazis und die mit ihnen verbündeten kroatischen Ustascha-Faschisten, im Tito-Kommunismus und später im Bürgerkrieg nach dem Tod des Diktators. Als logischer Abschluss dient das Flüchtlings-Leid auf der sogenannten Balkanroute. Und als Kontrastprogramm sind wir bei den ungemein erfolgreichen deutschen Karl-May-Verfilmungen dabei, die um die Plitvicer Seen herum gedreht wurden. Da kämpfen zwar auch Indianer ums Überleben, aber das Publikum durfte eben auch „echte“ Helden anhimmeln. Ein Franzose – Pierre Brice – spielte den Winnetou, ein Amerikaner – Lex Barker – den Deutschen Old Shatterhand.

In „Die Projektoren“ werden viele Geschichten erzählt – so reist etwa Pierre Brice mit einem jugoslawischen Schauspieler, der im Film Winnetous Vater spielt und ein veritabler Schürzenjäger ist, durch die USA, um echten Indianern bei ihrem Kampf um mehr Rechte zu unterstützen. Als Hauptperson dient Meyer aber ein Mann, der immer nur als der Cowboy genannt wird, weil er ein kariertes Halstuch trägt. Der diente als Halbwüchsiger den Partisanen als Meldegänger, sitzt dann aber trotzdem Jahre auf der berüchtigten Gefängnisinsel und macht sich bei den May-Dreharbeiten als Komparse und Übersetzer unentbehrlich. Denn just vor seiner Haustüre auf einer Schäferhütte kämpfen Mays Helden ihre gerechten Kämpfe. Am Ende sucht er seine Nichte mitten auf den Schauplätzen des IS-Terrors im Iran, wo er zur Unterhaltung der Dorfbewohner Winnetou-Filme zeigt – Karl May hatte ja auch einige Orient-Abenteuer hinterlassen. Sehr wichtig sind aber auch die gar nicht harmlosen Spiele blutjunger Neonazis in der damaligen DDR. An der Seite der Kroaten ziehen diese später im Balkankrieg gegen die Serben. Die verschiedenen Handlungsstränge lassen sich freilich kaum nacherzählen – da fällt einem Wiener natürlich gleich Doderers Ausspruch ein: „Ein Werk der Erzählungskunst ist es umso mehr, je weniger man durch eine Inhaltsangabe davon eine Vorstellung geben kann“, verlautbarte der Autor 1966. In den „Projektoren“ löst eine groteske Szene die nächste ab.

Als Schlüsselszene könnte man den historischen Vortrag, den Karl May 1912 in Wien gehalten hat und bei dem angeblich Adolf Hitler unter den begeisterten Zuhörern gewesen sein soll. Der Titel: „Empor ins Reich des Edelmenschen“, denn der Schilderer unzähliger Kämpfe soll in Wirklichkeit ein großer Humanist gewesen sein. „Die Projektoren“ ist ein Roman, bei dem man nach der letzten Seite das Gefühl hat, ihn gleich noch einmal lesen zu müssen.


Clemens Meyer: Die Projektoren
S. Fischer, 1056 Seiten, € 36,00

Dialog zwischen Wien und München – Daniel Glattauers Roman „In einem Zug“

Ein Buchtipp von Otto Brusatti

Er reizt wieder seinen Plot aus (Stichwort „Nordwind“). Ein erzählender Mann, diesmal schon ein Kleinwenig jenseits seiner Lebensmitte und von Schreibhemmungen geplagt (seit vielen Jahren nun schon, noch dazu eine für Liebesromane; sowie dauernd ihm gegenüber eine leicht aggressive, straffe, jüngere Frau (tätig zwischen Psycho und Marathon). Sie sitzen voreinander im Zug, zufällig, so scheint es. In den anstehenden viereinhalb Stunden über die Westbahnstrecke von Wien nach München kommt man ins Reden und mehr. Es entstehen langsam Offenheiten. Man tauscht sich immer mehr aus über Zwischenmenschliches, über die seit Dezennien glücklich laufende Ehe des einen sowie über die wechselnden Beziehungen der anderen.

Glattauer schreibt in der Einheit des Ortes und (fast) der Zeit, er – zugegeben – versteht es virtuos, Dialoge vom Vertrautwerden bis zu einer ersten Erotik zu formulieren; zudem wechselt er oft aus dem Gespräch in das Parallel-Denken des Mannes, witzig und ironisch und beklommen. Kaum Aktuelles kommt vor, aber die beiden Menschen (nur gelegentlich unterbrochen) breiten etwas aus voreinander – und sie breiten dabei sich vor allem selbst und viel vom eigenen Scheitern aus. Der Mann ist am Weg, im Verlag zur Verantwortung gezogen zu werden; er ahnt, es müsste alles dort in München schiefgehen. Die Frau wird immer begieriger zu erfahren, wie denn eine gute Beziehung tatsächlich laufen könne, so lange und so treu, wie ihr (zu) oft versichert wird. Zudem kommen einige Alkoholprobleme heraus, zudem wird es immer schwerer, sich weiterhin ohne geradezu kindliche Scheu mit dem Faktor Sex auseinanderzusetzen.

Der Schluss des Buches soll überraschen und verblüffen. Er ist dennoch irgendwie erwartbar gewesen. Der Dialog läuft sich ab Salzburg langsam fest, nachdem er etwa in Amstetten oder noch in Attnang-Puchheim blühte.  

Ein Lesebuch, ein feines, eines zum Dranbleiben während 200 Seiten. Man nimmt den beiden Protagonisten zwar bald nicht mehr alles ab. Der Mann ist ja doch ein bisschen ein Lulli und kein cooler Bestseller-Autor, die Frau reagiert wie die Erfolgs-Tussies in bemühten Magazinen. Manchmal möchte man aber, ganz am Schluss, sogar doch noch wissen, wie es weitergehen würde/könnte/sollte. Und das ist ja für solche Geschichten-Bücher ein großes Kompliment.


Dialog zwischen Wien und München – Daniel Glattauers Roman „In einem Zug“. Ein Buchtipp von Otto Brusatti.

Daniel Glattauer: In einem Zug
Roman, Dumont, 204 Seiten, € 24,50

Eine Familie auf der Flucht – Micha Lewinskys „Sobald wir angekommen sind“

Ein Zwischenfall auf NATO-Gebiet in Europa lässt Schlimmes befürchten – wird gar mit Atomwaffen geantwortet? In Zürich läuten für den wenig erfolgreichen Drehbuchautor Ben Oppenheim die Alarmglocken. Auch seine von ihm kürzlich getrennte Frau Marina macht sich Sorgen und so bucht sie für Ben und die zwei Kinder Moritz und Rosa einen Flug nach Brasilien. Obwohl Ben längst eine andere Freundin – die erfolgreiche Künstlerin Julia – hat. Der Hintergrund: Jüdische Familien sind aufgrund der Lehren aus der Geschichte stets fluchtbereit. Werden Ben und Marina in Recife wieder ein Paar?

Micha Lewinsky ist eigentlich Filmregisseur, „Sobald wir angekommen sind“ ist sein erster Roman. Und er packt nicht wenig in die Story: Jüdische Selbstzweifel, Ehekrise, Kindererziehung, neue Liebe. Aus der Sicht von Ben erzählend bleibt er dabei aber immer auf der humorvollen Seite und scheut sich nicht, seinen Protagonisten blöde aussehen zu lassen. Ben weiß ja selbst, dass er einiges vergeigt hat. Sein Drehbuch über Stefan Zweig in Brasilien wird von seiner Produzentin abgelehnt, Neues fällt ihm nicht ein. Zwischen Frau und Geliebter kann er sich nicht entscheiden, wahrscheinlich bleibt er sowieso allein zurück. Wir folgen ihm auf seiner Flucht ebenso wie bei seinen Selbsttäuschungen. Stilistisch ist der Roman sicher nicht der Hammer, aber mit seinen vielen Reflexionen über das Judentum, Männer in der Krise oder grundsätzlich die Situation unserer Welt ist das Buch mit Vergnügen zu lesen.


Micha Lewinsky: Sobald wir angekommen sind
Diogenes, 280 Seiten, € 26,50

Vom Schreiben schreiben – Bestsellerautor Benedict Wells erzählt in „Die Geschichten in uns“ seinen mühevollen Weg zum Schriftsteller

Nach dem Lesen von Wells letztem Roman „Hard Land“ fragte ich mich, warum gerade ein deutscher Autor eine – zugegeben sogar perfekte – Geschichte vom Aufwachsen in einer amerikanischen Kleinstadt geschrieben hat. Deshalb war ich neugierig, etwas aus der Werkstatt dieses – seit „Vom Ende der Einsamkeit“ 2016 – Bestsellerautors zu erfahren. Kurz gesagt: jetzt weiß ich, warum Wells diesen Roman schreiben musste…

Benedict Wells erzählt aber zuerst vom eigenen Aufwachsen. Im Vorwort berichtet der Autor, dass dieses Buch sein gescheiterter Versuch sein, einmal für eine Zeit kein Buch zu schreiben. Nun, wir profitieren ja unentwegt davon, dass Schriftsteller schreiben müssen. Wells hatte freilich eine problematische Kindheit. Da seine Mutter manisch-depressiv war und sein Vater in die Insolvenz abrutschte, kam Wells in ein Heim in Bayern. Schon bald wurden Bücher sein Trost. Im Sommer 2003 zieht er 19-jährig nach Berlin, um dort Autor zu werden. Es folgen Jahre, in denen er viele schlechte Texte schreibt, Brotjobs macht, ehe er mit „Becks letzter Sommer“ seinen ersten Roman herausbringen kann. Seinen Namen Wells hat er sich aus John Irvings „Gottes Werk und Teufels Beitrag“ geliehen, denn er ist – wie er nicht öffentlich machen wollte, aber eine Zeitschrift aufdeckte – ein Enkel Baldur von Schirachs und Cousin des Schriftstellers und Juristen Ferdinand von Schirach.   

„Hard Land“ ist ein Coming-of-Age-Roman, der in den 80er-Jahren in einer fiktiven amerikanischen Kleinstadt spielt. Wells erkannte, dass Sehnsucht der prägende Begriff der Eighties war, denn schließlich gab es die Angst vor dem Atomkrieg ebenso wie Tschernobyl, Aids und den sauren Regen. Diese Sehnsucht verspürte der Autor auch in seiner Erinnerung in Bayern. Und die USA waren auch in Deutschland mittels Filme und Songs allgegenwärtig. Also siedelte Wells seinen Roman gleich dort an.

„Die Geschichten in uns. Vom Schreiben und vom Lesen“ enthält aber auch sehr viele Reflexionen über das Schreiben von Literatur. Das ist interessant, erfahren wir doch auch von bekannten Romanen und der Arbeitsweise von Schriftstellern. Die praktischen Tipps sind sicher für angehende Autoren hilfreich, so mancher große Roman wäre allerdings nicht zustande gekommen, wäre der Verfasser ihnen gefolgt. Das Nachdenken über Literatur ist freilich immer ein Gewinn.


Vom Schreiben schreiben – Bestsellerautor Benedict Wells erzählt in „Die Geschichten in uns“ seinen mühevollen Weg zum Schriftsteller.

Benedict Wells: Die Geschichten in uns
Vom Schreiben und vom Lesen
Diogenes, 400 Seiten, € 26,80

Thomas Manns Zauberberg – 2 Bücher zum Literatur-Jubiläum

1924 erschien Thomas Manns wohl bekanntester Roman „Der Zauberberg“. Die Geschichte des lungenkranken Hans Castorp gilt zurecht als einer der profiliertesten Romane in deutscher Sprache – ein Jahrhundertbuch und ein Abgesang auf eine Epoche, die mit dem Ausbruch des 1. Weltkriegs endete.

Der deutsche Autor Norman Ohler hat jetzt ein Buch über Davos geschrieben, das er selbstbewusst „Der Zauberberg, die ganze Geschichte“ nennt und etwas kokett in einer Art Rahmenhandlung als Steuerabschreibprogramm definiert. Er fährt mit Tochter und deren Freundinnen zum Schiurlaub nach Davos, wo er dann tatsächlich über die Geschichte des Ortes recherchiert. Und das ist nicht uninteressant. Ausgerechnet ein deutscher politischer Flüchtling und Arzt begründete den Ruf dieses Ortes, der Mitte des 19. Jahrhunderts noch völlig unbekannt war. Dem Arzt fiel auf, dass hier hoch in den Bergen niemand an der Geisel der Zeit – der Tuberkulose – erkrankt war. Er schaffte es, das erste Sanatorium einzurichten und bald schon kamen vor allem Gutbetuchte, um sich hier zu kurieren. Ein wissenschaftlicher Nachweis fehlte allerdings bis zuletzt. Schließlich wurde bekannt, dass Tbc von einem Bakterium ausgelöst wird. Antibiotika waren allerdings noch nicht erfunden. Ohler zeichnet die Entwicklungsstufen von Davos sehr plastisch nach, denn natürlich reagierten die Ärzte auch auf die neuen medizinischen Erkenntnisse. Nach und nach traten strenge Hygienemaßnahmen in Kraft – man war auf den Weg in eine Gesundheitsdiktatur. Das profitable Geschäft mit den Kranken blieb freilich und so manch Gesunder wurde gleich mitbehandelt. Thomas Manns Begegnung mit einem Davoser Arzt ist bekannt – der Dichter, der ja nur seine Frau besuchte, floh vor der falschen Diagnose und schrieb eben den Zauberberg. Heute ist Davos aber auch durch das Treffen der Superreichen beim World Economic Forum bekannt und unter Verschwörungstheoretikern berüchtigt. Spannend ist auch die Nazi-Geschichte des Ortes. Wilhelm Gustloff baute hier mitten in der Schweiz eine starke NS-Ortsgruppe auf, ehe er von einem jungen Juden erschossen wurde. Hitler hatte seinen ersten Märtyrer…

Während Ohler doch eher ein Sachbuch geschrieben hat, stürzt sich Heinz Strunk in die Literatur. Sein „Zauberberg 2“ spielt allerdings nicht in den Bergen, sondern in eine psychiatrische Klinik im sumpfigen Niemandsland Mecklenburg-Vorpommerns. Dort kommt sein 36 Jahre alter Unternehmer Jonas Heidbrink, um seine Angstzustände zu überwinden. Dabei ist Heidbrink in einer sozial privilegierten Situation – als reich gewordener Start-up-Unternehmer hat er mehr Geld, als er ausgeben kann. In der Klinik trifft er ein Panoptikum heutiger psychisch angeschlagener Bürger, die in diversen Therapien – von Musik, Theater, Physio – behandelt werden, die alle aber in ihrem eigenen existenziellen Saft schwimmen. Das ist eine Zeit lang ganz unterhaltsam, wirklich interessieren können die an der Nähe zur Karikatur angesiedelten Leiden und Figuren aber nicht. Die philosophischen Dispute in Manns Zauberberg verkommen zur Brabbelei. Ausgerechnet ein 80-jähriger, der sich zu seinem Geburtstag mit Hochprozentigem ins Koma säuft, kann da am ehesten noch mithalten.


Heinz Strunk: Zauberberg 2
Rowohlt, 228 Seiten, € 25

Ein Walzer soll das Land retten – Mario Vargas Llosas Roman „Die große Versuchung“ über die Musik Perus

Der peruanische Literatur-Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa ist schon 88, also vielleicht ist sein aktueller Roman „Die große Versuchung“ sein letzter großer Roman. Wobei er im Nachwort noch einen Essay über Sartre ankündigt.

Toño Azpilcueta ist ein Kenner der peruanischen Volksmusik – seine Familie mit zwei Töchtern lebt freilich von den kargen Einkünften seiner Ehefrau, die sich nie beschwert. Seine Artikel in Zeitschriften bringen kaum Geld, seine Hoffnung auf eine Professur hat sich zerschlagen. Da hört er eines Abends den ungemein talentierten Gitarristen Lalo Molfino spielen und ist bezaubert. Als dieser junge Musiker dann unerwartet stirbt, beschließt er, eine Biografie zu schreiben, in der er nebenbei auch noch die komplette peruanische Volksmusikgeschichte erklären will. Ein Freund hilft ihm, die Recherchen zu finanzieren. Das Buch erscheint und hat sogar Erfolg. Doch Toño ist trotzdem unzufrieden – immer wieder erweitert er sein Buch, in dem er nichts Geringeres als die Entwicklung, ja Erlösung Perus aus dem Geist der Volksmusik und des Walzers – des Vals – propagiert.

Mario Vargas Llosa hat seinen Roman zweigeteilt – jedes zweite Kapitel ist sozusagen von Toño Azpilcuetas Buch über Lalo, der von seiner Mutter auf einer Müllhalde ausgesetzt und von einem Pfarrer gerettet wurde, übernommen. Leser bekommen also auch die Geschichte Perus mitgeliefert.

Das klappt leider nur teilweise. Zu spröde ist die Historie. Und für Toño Azpilcueta kann man sich auch nicht wirklich begeistern. Zwar erregt seine Besessenheit von seinem Thema und seine psychische Krankheit – er wähnt sich in Stresssituationen von Ratten angegriffen, die in seiner Kleidung stecken – Mitleid. Aber wirklich interessant ist die Geschichte seines Scheiterns nicht. Immerhin – wir erfahren einiges über das Alltagsleben in Lima.


Mario Vargas Llosa: Die große Versuchung
Aus dem Spanischen von Thomas Brovot
Suhrkamp
304 Seiten
€26,00

10 Romane aus 2024, die ich für gelungen halte – Die Buchliste von Helmut Schneider

Eine subjektive Auswahl der Bücher, die ich 2024 gelesen habe.

Gaea Schoeters: Trophäe, Zsolnay
Eine Jagd in Afrika, die unter die Haut geht. Die Niederländerin stellt mit ihrer Geschichte Fragen an unsere Zivilisation. Wieviel ist ein Menschenleben im Kapitalismus wert? Ein ebenso wuchtiger wie schmaler Roman, der sich ins Gedächtnis bohrt.

Karl Ove Knausgård: Das dritte Königreich, Luchterhand
Der Norweger setzt sein Morgenstern-Romanprojekt fort und präsentiert sich als der vielleicht beste lebende Erzähler. Gespenstische Begegnungen zwischen Leben und Tod, heutige Menschen taumeln entlang der philosophischen Grundfragen.

Colson Whitehead: Die Intuitionistin, Hanser
Die erste schwarze Aufzugsinspektorin gerät in ein Spinnennetz aus Intrigen. Es geht um einen Richtungsstreit: Was funktioniert besser? – die Faktencheckerei oder Menschen, die sich in Maschinen einfühlen? Whiteheads Debütroman aus 1999 ist erschreckend aktuell.

Colm Tóibín: Long Island, Hanser
Die Fortsetzung des auch grandios verfilmten Bestsellers „Brooklyn“. Zwanzig Jahre später steht Elis wieder vor einer schweren Entscheidung zwischen ihrem Mann und ihrer Jugendliebe in der alten Heimat Irland. Grandios erzählt.

Arno Geiger: Reise nach Laredo, Hanser
Der Autor kleidet seine Untersuchung zu den menschlichen Urfragen nach dem Warum des Lebens und dem Zeitpunkt des Abschieds in ein historisches Gewand. Kaiser Karl bricht nach seiner Abdankung zu einer wundersamen Reise auf.

Julia Jost: Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht, Suhrkamp
Im Debütroman der Kärntner Dramatikerin wirkt die Nazi-Vergangenheit bis in die 90er-Jahre nach, als ein Kärntner Politiker sich anschickt, die Bundespolitik zu verändern und sich zwei Mädchen ineinander verlieben ohne zu wissen, wie ihnen geschieht.

John Wray: Unter Wölfen, Rowohlt
Der Autor, der abwechselnd in Brooklyn und Friesach lebt, erzählt eine Geschichte von Liebe und Freundschaft aus den 80er-Jahren im Umfeld der Death-Metal-Szene, die in Norwegen gänzlich surreal wird. Realitätsverlust in diversen Blasen ist freilich hochaktuell. Wrays Roman wurde von der Kritik etwas unterschätzt.

Kurt Palm: Trockenes Feld, leykam
Der Autor sucht nach den Wurzeln seiner Familie, die aus dem ehemals deutschsprachigen Gebiet in Kroatien stammt. Unsentimental und ohne Scheuklappen wird da eine Geschichte von Vertriebenen erzählt.

Gian Marco Griffi: Die Eisenbahnen Mexikos, Claasen
Piemont in den letzten Tagen der deutschen Besetzung: Ein kleiner Eisenbahnsoldat bekommt aus Berlin den Auftrag eine Karte der Zugverbindungen Mexikos zu beschaffen und stürzt in einen skurrilen Strudel an Ereignissen. Ein Roman in der Nachfolge von Roberto Bolaño.

Phillip B. Williams: Ours – die Stadt, S. Fischer
Williams wagt einen magischen Roman über eine Stadt nur für befreite Sklaven, in dem ohne Fantasy-Kitsch gezaubert wird. Ours ist aber keineswegs ein Idyll, sondern ein Spiegel für menschliche Sehnsüchte und Fehler. Wer sich auf diesen Text einlässt, taucht in einen Kosmos der Gefühle.

Weihnachtliche Mordsgeschichten – „Killer Bells“ von Franziska Waltz, Claus Schönhofer und Norbert Peter

Wer sagt denn, dass Weihnachten immer besinnlich sein muss? Für Menschen, denen die Dauerberieselung mit Stille Nacht & Co. schon gehörig gegen den Strich geht, sei ein höchst unterhaltsames Büchlein mit „Weihnachtlichen Mordsgeschichten“ empfohlen.

In den 9 Stories gibt es jede Menge schräger Vögel, dystopische Familien und skurrile Situationen. Da hat ein Familienvater einen Wutanfall nach dem anderen, als er den Christbaum aufputzen soll, während seine Frau politisch korrekte Geschenke für den Sohn kaufen geht. Das kann nur schiefgehen. Und was passiert, wenn die Motorsäge beim Tranchieren einer Leiche den Geist aufgibt? Nach jeder Geschichte glaubt man, es könne nicht noch schlimmer werden. Aber Franziska Waltz, Claus Schönhofer und Norbert Peter beweisen, dass es möglich ist.

Franziska Waltz ist Kommunikationswissenschaftlerin, Filmproduzentin, Buchautorin und Lyrikerin mit Hang zu mörderischen Weihnachtsfantasien und toten Schneemännern. Sie baut in ihrer Freizeit gerne Insektenhotels.

Claus Schönhofer ist Buch- und TV-Autor, Kabarett-Regisseur und vom Namen her weihnachtsaffin, schreibt er sich gerne seine Mordgelüste von der Seele. In diesem Falle liegt der Tatort unterm Christbaum.  

Norbert Peter ist Kabarettist (Peter & Tekal), Journalist, Buch-Autor und Verfasser von satirischen Kolumnen. Steht auf Weihnachten, solange alle Morde restlos aufgeklärt sind, bevor „Stille Nacht“ zu Ende gesungen ist.


Piemont in den letzten Monaten des 2. Weltkriegs – Gian Marco Griffi: „Die Eisenbahnen Mexikos“

Für manche gilt Griffis Monumentalwerk (800 Seiten) als das wichtigste italienische Buch nach dem Ableben Umberto Ecos, wenngleich sich der 1976 geborene Autor dabei eher in der Nachfolge von Roberto Bolaño oder Borges befindet. Denn die Geschichte um den Protagonisten Cesco Magetti, der für die Nazis eine Karte des Eisenbahnnetzes von Mexiko auftreiben soll, ist herrlich skurril und mit historischen Anspielungen gespickt. Denn irgendwo an einem geheimen Ort soll dort eine Wunderwaffe versteckt sein. Cesco hat aber im Februar 1944 auch noch ein ganz anderes dringendes Problem, er leidet nämlich unter heftigsten Zahnschmerzen und an einer schrecklichen Furcht vor Zahnärzten. Sein Zahnarzt sitzt zudem gerade wegen regierungskritischer Äußerungen im Gefängnis. Deshalb stinkt er dauernd nach Alkohol, denn es fällt ihm nichts Besseres ein als den Zahn mit Grappabandagen zu behandeln.

Wie Cesco dann von einer skurrilen Situation in die nächste stolpert und sich dabei auch noch unsterblich in die unkonventionelle Bibliothekarin Tilda verliebt, macht den Hauptstrang dieses Romans aus, der freilich noch eine Menge anderer herrlicher Personen aufbietet. Dabei schert sich Griffi wenig um historische Genauigkeit. In einer der herrlichsten Episoden des Buches trifft er zwei Totengräber, die vormals beim Eisenbahnbau in Mexiko beschäftigt waren. Und die berichten auch, dass die Nazis jetzt zur Verwaltung des Friedhofs Rechner einsetzen – was zu noch mehr Fehlern führt. Und der Kaffeeautomat spuckt nur ungenießbare Brühe aus.

Auch die Szene, in der die Nazis aus Rache für von Partisanen getötete Soldaten willkürlich Menschen nach dem Kirchgang zur Erschießung zusammentreiben ist mehr schwarzhumorig denn realistisch. Der Kommandant will von den Opfern, die großen Leistungen des Faschismus abfragen. Und gänzlich grotesk ist die Schilderung des Besuchs der Bayreuther Festspiele durch Adolf Hitler. Er kann sich nicht zwischen Frack und Galauniform entscheiden, aber Eva Braun rät ihm zum Frack und so ist Adolf dann bei der anschließenden Feier der einzige Nazi in Zivil, was ihn unsäglich ärgert und befangen macht. Sein „Outfit“ wie er sagt – Eva rügt ihn wegen seiner englischen Ausdrucksweise – ist völlig unpassend.

Viele Nebenstränge spielen direkt in Mexiko, in einer geheimnisvollen Stadt, die auf keiner Landkarte verzeichnet ist. Gian Marco Griffi hat in seinem Monumentalwerk eine literarische Alternative des unrühmlichsten Abschnitts der Geschichte Italiens geschaffen ohne die große Schuld seiner Landsleute zu verschleiern. Wer Fabulierkunst und skurrile Szenen und Figuren zu schätzen weiß, wird mit diesem Roman viel Freude haben. Echte Literatur eben. 


Gian Marco Griffi: „Die Eisenbahnen Mexikos“
Aus dem Italienischen von Verena von Koskull
800 Seiten
Claasen
€ 38,50