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Über KI machten sich Menschen schon Gedanken, als es noch nicht einmal Taschenrechner gab und findige Programme besiegten Profispieler in Schach und Go lange vor Rechner mit heutigen Kapazitäten. Davon erzählt der Roman „Maniac“ des in Rotterdam geborenen und in Chile lebenden Autors Benjamin Labatut.

Pioniere der KI – Benjamin Labatuts Wissenschaftsthriller „MANIAC“

Über KI machten sich Menschen schon Gedanken, als es noch nicht einmal Taschenrechner gab und findige Programme besiegten Profispieler in Schach und Go lange vor Rechnern mit heutigen Kapazitäten. Davon erzählt der Roman „Maniac“ des in Rotterdam geborenen und in Chile lebenden Autors Benjamin Labatut.

Er beginnt mit dem Wiener Physiker Paul Ehrenfest, der Einstein verteidigte und zu dessen Freund wurde – bis er zunehmend verzweifelnd an den politischen Umständen sich und seinen am Down-Syndrom leidenden Sohn 1933 in Amsterdam erschoss. An Ehrenfest zeigt Labatut wie die Physik durch die Quantentheorie und die Mathematik durch Kurt Gödels Unvollständigkeitssatz erschüttert wurden.

Den größten Teil des Buches macht aber die Schilderung des ungarischen Mathematikgenies John von Neumann aus. Neumann arbeitete an der Quantenmechanik, erfand die Spieltheorie, arbeitete an entscheidender Stelle am berühmten Manhattan-Projekt zur Schaffung der ersten Atombombe mit – er berechnete etwa den besten Zeitpunkt der Detonation, um die maximale Zerstörungskraft zu entwickeln – und schuf die ersten modernen Computer. Der Buchtitel MANIAC steht für Mathematical Analyzer Numerical Integrator And Computer, die Architektur eines funktionierende Rechners, die noch heute gültig ist. Als er unheilbar krank im Spital lag, bewachte das US-Militär sein Zimmer, damit niemand noch im letzten Moment eventuelle neue Ideen von Neumann mitschreiben konnte. Labatut beschreibt Neumann aber nie direkt, sondern lässt ihn durch Menschen aus seiner Umgebung – Mitarbeiter, seine Frauen, seine Mutter – sehen.

Im letzten Kapitel geht es um die berühmten Duelle Mensch gegen Maschine anhand von Schach und Go. Die Schachgroßmeister gaben bald w/o, aber das weitaus komplexere chinesische Go-Spiel schien lange Zeit für Rechner zu komplex. Erst 2016 schlug das Programm AlphaGo die koreanische Go-Legende Lee Sedol, der daraufhin zu spielen aufhörte. Der Kampf wird spannend wie ein Krimi erzählt – ein Buch für Menschen, die über die Zukunft unserer Welt im Schatten von Maschinen nachdenken wollen.


Benjamin Labatut: MANIAC
Aus dem Englischen von Thomas Brovot
Suhrkamp
400 Seiten
€ 27,50

„Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit“ ist der zweite Band von Knausgårds Morgenstern-Trilogie.

„Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit“ ist der zweite Band von Knausgårds Morgenstern-Trilogie

Zunächst einmal: Das waren die kürzesten und angenehmsten 1000 Seiten (genau 1050) der letzten Jahre. Karl Ove Knausgård, der mit extremer und auch extrem ausufernder Autofiktion bekannt wurde, kann zweifelsohne interessant erzählen. Wenn er etwas spezieller schildert, dann hat das bei ihm einen Grund. Denn im zweiten Band seiner Morgenstern-Trilogie (der Abschlussband soll noch heuer erscheinen und liegt im Original bereits vor) befinden wir uns – bis auf einigen Einsprengseln – im Kopf zweier Geschwister.

Etwa 500 Seiten erzählt Syvert, der 1986 nach seinem Militärdienst in das Haus seiner Familie in Südnorwegen bei Bergen zurückkehrt, wo nur noch seine Mutter und sein kleiner Bruder Joar leben, denn der Vater ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Syvert weiß nicht so recht, was er mit seinem Leben anfangen soll – für die Uni bräuchte er noch ein paar Kurse und es ist sowieso Sommer. Mutter arbeitet viel und sein Bruder ist zwar unheimlich schlau, aber sozial etwas eigen. Er hört Heavy Metal, trifft frühere Freunde und verliebt sich schließlich in ein etwas kompliziertes Mädchen. Weil die Familie Geld braucht, tritt er einen Aushilfsjob bei einem Bestatter an.

Aber da ist das Thema des Romans sowieso bereits eingeleitet. Denn den Tod seines Vaters kann Syvert einfach nicht verstehen. Und dann findet er noch Briefe an den Vater in Russisch. Er hatte gar nicht gewusst, dass sein Vater diese Sprache beherrschte. Er lässt sie von einem schrulligen Privatgelehrten übersetzen und erfährt, dass sein Vater eine Geliebte in der Sowjetunion hatte. Ja mehr noch – vor seinem Tod, gesteht ihm die Mutter, wollte sein Vater die Familie verlassen. Reichlich Stoff zum Nachdenken für einen noch nicht 20jährigen, auch wenn Syvert nicht gerade als Intellektueller beschrieben wird. Zumal Vaters Geliebte im letzten Brief andeutet, schwanger zu sein. 1986 ist auch das Jahr, in dem Tschernobyl explodiert – die Nachrichten werden immer beunruhigender. Doch Knausgård schlachtet das überraschend wenig aus. Viel interessanter scheinen ihm die Ideen der Evolution oder was lebendige und unbelebte Materie voneinander unterscheidet. Bekanntlich ist ja alles, was jemals existierte und jemals existieren wird, bereits mit dem Urknall da und geht nicht verloren.

Im zweiten Part des Buches ist dann Alevtina die Hauptperson – wir sind etwa 40 Jahre später in der Jetztzeit, denn Alvetina ist das Kind der Briefschreiberin und somit Syverts Halbschwester in Russland. Sie ist ausgebildete Biologin, hat aber in den letzten Jahren ihren Job gewechselt und arbeitet nun als Ärztin. Erst als ihr Vater stirbt, hat sie den Mut, einen vor Jahren geschriebenen Brief Syverts zu beantworten und ein Treffen in Moskau vorzuschlagen. Dieses  Zusammentreffen, das zunächst völlig schief zu gehen scheint, ist sozusagen der Abschlusshöhepunkt des Romans. Alvetina hat natürlich ihren leiblichen Vater niemals kennengelernt. Als junge Biologin wollte sie beweisen, dass die Bäume gemeinsam mit den mit ihnen in Symbiose lebenden Pilzen eine Art Bewusstsein haben. Eine Dichterfreundin interessiert sich währenddessen für einen russischen Utopisten, der nichts Geringeres als die Wiedererweckung all jener Toten in Angriff nehmen wollte, die jemals auf der Erde gelebt haben. Im Zuge ihrer Recherchen lässt sie sich Tanks zeigen, in denen heute schon Menschen für die Ewigkeit eingefroren werden. Die Transhumanisten im Silicon Valley sind da sicher schon weiter…

Alle Nebenstränge auch nur anzudeuten, ist kaum möglich. Wir erleben Schlägereien, Gewaltausbrüche, Überfälle und diverse Alkohol- und Drogenräusche. Am Ende erscheint auch wieder der helle Stern aus dem ersten Band auf dem Horizont und plötzlich sterben mehrere Tage lang keine Menschen.

Knausgårds „Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit“ ist ein faszinierender Roman über den Tod und die Versuche ihn zu überwinden, dargebracht in einer Familiengeschichte – bekanntlich das langlebigste und erfolgreichste Genre überhaupt.


Karl Ove Knausgård: Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit
Aus dem Norwegischen von Paul Berf
Luchterhand
1056 Seiten
€ 31,50

Frauen und Mädchen in England heute – Saba Sams‘ Kurzgeschichtenband „Send Nudes“. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.

Frauen und Mädchen in England heute – Saba Sams‘ Kurzgeschichtenband „Send Nudes“

Die 1996 in Brighton geborene Saba Sams gewann unter anderem den BBC Short Story Award und gilt jetzt bereits als eine der talentiertesten jungen Autorinnen Englands. Nach der Lektüre ihrer 10 Geschichten in „Send Nudes“ kann man nur sagen zurecht. Ihr gelingen nämlich höchst eindrucksvolle Porträts von Frauen und Mädchen, die alle – wie man heute sagen würde – gewisse Defizite aufweisen. Oder aber sie spiegeln exakt unsere heutige kaputte Gesellschaft wider. Da ist etwa die Studentin, die sich in eine Kommilitonin verliebt, die nichts als Partys, Sex und den großen Rausch im Kopf hat. Oder eine Zwölfjährige, die von der viel älteren Stieftochter dafür gehasst wird, weil ihr Vater eben eine neue Beziehung mit deren Muttereingegangen ist. Zwei Mädchen leben da den ganzen Sommer auf Festivals, weil ihre Mütter dort als Trapezkünstlerinnen auftreten. Und eine junge Frau freundet sich so mit dem großen Hund ihres Liebhabers an, dass dieser schließlich nur noch auf sie hört. Die Titelgeschichte zeigt uns eine Frau, die ihre gnadenlose Einsamkeit in einem Internetforum loswerden will.

Mehr noch als die Geschichten selbst fasziniert der Stil der jungen Britin. Da scheint kein Wort zu viel zu stehen, die Dialoge sind prägnant und künstliche Melancholie oder Larmoyanz ist nirgendwo auszumachen.


Saba Sams: Send Nudes. Storys.
Aus dem Englischen von Sophie Zeitz
Piper
208 Seiten
€ 23,50


Das Sterben eines Gefassten – Bernhard Schlinks „Das späte Leben“. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.

Das Sterben eines Gefassten – Bernhard Schlinks „Das späte Leben“

Mit 76 erfährt Martin, dass er nur noch wenige Wochen zu leben hat – Bauchspeicheldrüsenkrebs. Dabei hat der Professor für Recht gerade die vielleicht glücklichste Phase seines Lebens mit einer um vieles jüngeren Frau und einen Sohn im Kindergarten. Was also tun in den letzten Tagen, die im noch bleiben?

Bernhard Schlink stellt in seinem neuen Roman jene Fragen, die alle Menschen sich irgendwann stellen müssen. Denn dem Tod kann niemand entkommen, manche können ihr Ende aber genau datieren. Ulla, seine 43jährige Frau, schlägt Martin vor, seinem Sohn etwas zu hinterlassen – einen Brief oder ein Video. Und daran arbeitet Martin dann auch obwohl ihm Gefühle immer schwergefallen sind. Schicksalsschläge hat er immer erst mit einiger Verzögerung begriffen, manche nannten ihn deswegen gefühlskalt. Schlink beschreibt Martin auch als einen sehr nüchternen Menschen, als einen Gefassten.

Dramatik bekommt der Plot freilich dadurch, dass Martin erfährt, dass Ulla ihn mit einem jüngeren Mann betrügt. Und wieder erweist sich der Professor als durch und durch von Vernunft getrieben. Er macht seiner Frau keine Szene, sondern sucht den Liebhaber auf und bittet ihn, sich um Ulla und seinen Sohn zu kümmern.

„Das späte Leben“ ist somit ein Roman über die zwei wichtigsten Themen aller Menschen, nämlich Liebe und Tod. Es freut ungemein, wenn das ein Autor einmal so unspektakulär und ohne auf Auflagen zu schielen behandeln kann.


Bernhard Schlink: Das späte Leben
Diogenes Verlag
240 Seiten
€ 27,50

Der Aufstieg hat seinen Preis – Das Debüt der Nobelpreisträgerin Annie Ernaux erstmals auf Deutsch.

Der Aufstieg hat seinen Preis – Das Debüt der Nobelpreisträgerin Annie Ernaux erstmals auf Deutsch

Als Kind ist Denise Lesur eigentlich ganz glücklich. Die Mutter führt in der Kleinstadt im Norden Frankreichs einen kleinen Krämerladen, der Vater daneben eine Kneipe. Die Kunden lassen anschreiben, niemand hat viel Geld, die Säufer sind Stammgäste – und dass es nur ein Plumpsklo im Hof gibt, stört auch niemanden. Denises Eltern arbeiten ständig, sie haben es geschafft, sich als Besitzlose hochzuarbeiten und sind nun froh, keinen Chef mehr zu haben.

Als sie Denise in eine katholische Privatschule stecken, bricht allerdings ihre Welt zusammen. Denise wird als Asoziale gehänselt, die Bürgertöchter blicken auf sie herab. Und Denise sieht zum ersten Mal ihr Elternhaus mit anderen Augen: die schlechten Manieren, den Nachttopf im Schlafzimmer, die schmierige Küche, das lächerliche Angebot ihres Ladens und die kotzenden Zechbrüder. Mit zähem Fleiß kämpft sich Denise nach oben, sie wird Klassenbeste und schafft mühelos die Anforderungen für den Besuch einer Universität. Da sieht sie längst auf ihre Eltern herab, deren Geld ihr erst den Besuch der Schulen ermöglicht hat. Als letzte Schranke will sie die Freundin eines Bürgerlichen werden. Mit den im Jahr 1961 noch verheerenden Folgen einer Schwangerschaft. Denise gerät an eine Engelmacherin, denn Abtreibungen sind noch illegal. Mit diesem Schock beginnt und endet der erste Roman der Nobelpreisträgerin Annie Ernaux, der 1974 bei Gallimard erschienen ist. Noch schreibt Ernaux, die sich später ja als „Ethnologin ihrer selbst“ begreift, fiktional, wenngleich die Handlung ja mit den späteren autofiktionalen Büchern fast identisch ist. „Die leeren Schränke“ ist auf jeden Fall ein faszinierender Roman über die zerstörerischen Brüche, die ein sozialer Aufstieg mit sich bringt. Denise hasst ihre Herkunft, obwohl sie klug genug ist zu erkennen, dass auch in der bürgerlichen Welt vieles nur Schein ist. Als ihr Liebhaber erfährt, dass sie schwanger ist, macht er sich aus dem Staub.

Während Ernaux später für ihren lakonischen Stil bekannt wurde, ist dieser Erstling noch durchaus drastisch und plastisch erzählt. Stellenweise wirkt der in der ersten Person geschilderte Text wie eine Anklage gegen die Gesellschaft und sich selbst. Spannend und interessant zu lesen ist das Ganze aber auf jeden Fall.


Annie Ernaux: Die leeren Schränke
Aus dem Französischen von Sonja Finck
Suhrkamp
220 Seiten
€ 24,50

Die Nobelpreisträgerin Toni Morrison schrieb „Rezitativ“ das von zwei Waisenmädchen handelt. – ©Bert Andrews

10 Bücher, die ich gerne gelesen habe – Helmut Schneiders Buchtipps

Die Nobelpreisträgerin Toni Morrison schrieb „Rezitativ“ das von zwei Waisenmädchen handelt. – ©Bert Andrews

Ende des Jahres gibt es ja überall Bestenlisten. Sowas kann ich nicht anbieten, denn mehr als ein Buch pro Woche ist – so man sonst noch einen Job hat – kaum zu schaffen, denn die umfangreichen Bücher schlucken den Zeitgewinn, den man mit den schmäleren aufbaut. Jedes Jahr gibt es logischerweise sehr viele Bücher, die ich gerne gelesen hätte. Zudem weiß ich natürlich, dass jeder/jede einen ganz speziellen Buchgeschmack hat. Deshalb tue ich mir extrem schwer, wenn ich Menschen, die ich nicht gut kenne, etwas empfehlen soll.

Die unten angeführten Titel waren für mich jedenfalls ein großer Gewinn und mögen vielleicht für Menschen, die gerne lesen, eine Empfehlung für die Feiertage darstellen.


Steffen Kopetzky: Damenopfer
Hanser
444 Seiten
€ 27,50

Die ansprechend erzählte Geschichte einer klugen Revolutionärin des russischen Bürgerkriegs inmitten der implodierenden Weltpolitik. Ist sogar spannend.


Barbi Marković: Minihorror
Residenz Verlag
192 Seiten
€ 25,-

Skurrile Skizzen aus dem Leben eines Paares in Wien – samt Monstern plus Zeichnungen. Macht süchtig.


Sepp Mall: Ein Hund kam in die Küche
Leykam
192 Seiten
€ 25,50

Das vergessene Kapitel der von Hitler verratenen deutschsprachigen Südtiroler erzählt durch die Augen eines Kindes. Der Autor findet eindrucksvolle Bilder.


Wolf Haas: Eigentum
Hanser
160 Seiten
€ 23,50

Die Geschichte einer einfachen, arbeitssamen Frau – der Mutter des Autors – vor dem Hintergrund des um sie herum anwachsenden Wohlstandes.


Deepti Kapoor: Zeit der Schuld
Blessing Verlag
688 Seiten
€ 29,50

Eine Art indischer Mafia-Thriller, der allerdings viel über den Zustand des Landes offenbart. Spannender als Netflix-Schauen.


Susanne Gregor: Wir werden fliegen
Frankfurter Verlagsanstalt
254 Seiten
€ 25,50

Ein tschechoslowakisches Geschwisterpaar will aus dem Kommunismus heraus und hat dann andere Schwierigkeiten, als es die Grenzen nicht mehr gibt.


T. C. Boyle: Blue Skies
Hanser
400 Seiten
€ 29,50

Auch die Klimakatastrophe kann mit Galgenhumor betrachtet werden – und niemand macht das so ansprechend wie der Kalifornier.


Joshua Cohen: Die Netanjahus
Schöffling & Co.
288 Seiten
€ 26,50

Ein urkomischer Collegeroman, in der die berühmte israelische Familie wie ein Heuschreckenschwarm in einen kleinen Campus einfällt.


Eva Viežnaviec: Was suchst du, Wolf?
Zsolnay
141 Seiten
€ 23,50

Ein ungemein kraftvoller Roman über eine Familie in Belarus im Spiegel der wechselvollen und immer grausamen Geschichte.


Toni Morrison: Rezitativ
Rowohlt
96 Seiten
€ 21,50

Die einzige Erzählung der 2019 verstorbenen Nobelpreisträgerin über zwei Mädchen in einem Waisenhaus – eine ist weiß, die andere schwarz und die Autorin verrät nicht, welche welche ist.


Muttertier wird zum Mutterwolf – Rachel Yoders Roman einer Metamorphose „Nightbitch“.

Muttertier wird zum Mutterwolf – Rachel Yoders Roman einer Metamorphose „Nightbitch“.

Werwolf heißt etymologisch aufgeschlüsselt ja Mannwolf. Die Verwandlung eines Mannes in einen Wolf gehört nach wie vor zu den beliebtesten Genres, es gibt unzählige Filme, in denen vor allem Teenager zu Bestien mutieren. Die in Iowa lebende Schriftstellerin Rachel Yoder zeichnet freilich die Verwandlung einer Mutter in einen Hund nach. Die Erzählerin nennt sich nach einer ersten Nacht, in der sie in der Kleinstadt nackt herumstreift, auf den Rasen des unsympathischen Nachbarn scheißt und kleine Säugetiere reißt, selbst „Nightbitch“ oder Wermutter. Vorangegangen ist dieser Metamorphose die Erkenntnis, dass sie sich als Nur-Mutter eines 2-jährigen Knaben auf einem gesellschaftlichen Abstellgleis befindet und absolut keine Zeit mehr für sich selbst hat.

Ihre Karriere als Künstlerin und Galeristin hat sie aufgegeben, zumal ihr sie durchaus liebender Mann die meiste Zeit auf Dienstreise ist und sie mit ihren Elternpflichten allein lassen muss. Das zählt auch zu den Stärken dieses feministischen Romans – die Autorin kommt ohne plumpe Feindbilder aus, denn Nightbitch liebt ihren Mann und ihr Kind, weiß aber keinen Ausweg aus der Öde zwischen Kinderspielplatz und den endlosen Ritualen, bevor ihr Sohn endlich einschläft. Zwar kann sie die anderen Mütter, die sie in der Bücherei und am Spielplatz trifft, nicht ausstehen, aber sie ist klug genug, sie als Spiegelungen ihrer selbst zu erkennen.

Aber eines Tages wachsen ihr eben Haare am Körper und am Steiß bekommt sie etwas, das einem Schwanz ähnelt. In den Schilderungen von Frauengesellschaften, denen plötzlich Flügeln wachsen oder eben Wölfe werden von einer geheimnisvollen Autorin namens Wanda White erkennt sie sich wieder. Und außerdem hat ihr Sohn viel Freude daran, wenn sie mit ihm Hund spielen kann. Er trägt gerne ein Hundehalsband und schläft endlich problemlos im Hundekörbchen.

Der Roman endet mit einer spektakulären „künstlerischen“ Performance vor den Müttern der Kleinstadt, in der Frauen oft die bessere Ausbildung, aber die Jobs die Männer haben. Rachel Yoder ist ein verstörender Roman über die Rolle der Mutter in unserer Gesellschaft gelungen, der aufzeigt, dass hier dringend Änderungsbedarf besteht. Sicher nicht nur in amerikanischen Kleinstädten.


Rachel Yoder: Nightbitch
Aus dem Englischen von Eva Bonné
Klett-Cotta
300 Seiten
€ 25,50

Letzte Jahre in Paris. Lea Singers Roman über Joseph Roths Geliebte Andrea Manga Bell ist Helmut Schneiders Buchtipp.

Letzte Jahre in Paris – Lea Singers Roman über Joseph Roths Geliebte Andrea Manga Bell 

Über Joseph Roths Ende im Mai 1939 als mittelloser Alkoholiker in Paris mit nur 44 Jahren gibt es viele Anekdoten und Legenden. Fast zehn Jahre war Roth, der zeitweise zu den bestbezahlten Autoren Europas gehörte, dem sein Geld allerdings aufgrund großzügiger Trinkgelder, exquisiter Hotels und natürlich wegen seines unfassbaren Schnapskonsums zwischen den Fingern zerrann, mit Andrea Manga Bell zusammen, die für ihn diverse Anstellungen als Journalistin und Grafikerin aufgab, seine Romane tippte und redigierte. Die Deutsche, deren Vater ein berühmter kubanischer Pianist und die mit dem Prinzen von Kamerun verheiratet war, der sie allerdings mit 2 Kindern sitzen ließ, soll neben Roths Ehefrau, die in diversen Nervenheilanstalten untergebracht war, Roths einzige Liebe gewesen sein.

Lea Singer hat dieser Frau jetzt mit ihrem Roman „Die Heilige des Trinkers“ ein literarisches Denkmal gesetzt. Das Buch beginnt und endet am Pariser Friedhof, auf dem Joseph Roth seine letzte Ruhestätte fand. Andrea Manga Bell erzählt aus ihrer Perspektive, sie kürzt sich bescheiden mit A. ab. Am Anfang steht das Begräbnis, wo sie von den meisten Freunden Roths geschnitten wird und am Ende A.s letzter Besuch am Friedhof im Frieden – denn 1941 ziehen die Deutschen unter Getöse in Paris ein. Dazwischen erleben wir – sehr dicht und sehr anschaulich geschildert – die Aufopferung einer Frau im Dienste eines von ihr verehrten Genies. A. ist permanent für Roth da, vernachlässigt ihre Kinder, erduldet rassistische Schmähungen und protestiert nicht, dass er überall herumerzählt, er kümmere sich um A.s Kinder – obwohl doch das meiste Geld von A.s Bruder kommt. Selbst Ausdrücke wie N*hure hält die dunkelhäutige Andrea Manga Bell, die man oft auch mit Josephine Baker verwechselt aus – wird doch gerade eine andere Gruppe von Menschen – Juden – ähnlich behandelt. Mit Entsetzen verfolgt das Paar die Ausschreitungen in Deutschland.

Roth war politisch hellsichtig, er flüchtete nach Hitlers Machtergreifung sofort nach Paris, auch in Österreich fühlte er sich als Jude schon vor dem Anschluss nicht mehr sicher, die Kapitulation Österreichs sah er voraus.

„Die Heilige des Trinkers“ – der Titel ist wohl eine Anspielung auf Roths Novelle „Die Legende vom heiligen Trinker“ – ist ein wunderbarer Roman, in dem man viel über die Widersprüche im Leben eines der größten deutschsprachigen Dichters erfährt und eine interessante Frau kennenlernt, die mutmaßlich keine Heilige aber sicher mehr als nur eine Helferin war.


Letzte Jahre in Paris. Lea Singers Roman über Joseph Roths Geliebte Andrea Manga Bell ist Helmut Schneiders Buchtipp.

Lea Singer: Die Heilige des Trinkers
Kampa Verlag
300 Seiten
€ 25,50

Zwischen Wien und New York – Dirk Stermann erzählt in Gesprächen das erstaunliche Leben der Erika Freeman.

Zwischen Wien und New York – Dirk Stermann erzählt in Gesprächen das erstaunliche Leben der Erika Freeman

Bevor sie sich um 10.30 zum Frühstück mit Dirk Stermann im Imperial trifft, behandelt sie immer noch via Skype ihre Patienten in New York und dabei ist es ihr gleich, dass es dort mitten in der Nacht ist. Erika Freeman ist jetzt 96, aber steht mitten im Leben – ein Triumph über die Nazis, die ihr in Wien nach dem Leben trachteten und alle schon tot sind.

1927 als Tochter eines jüdischen Arztes und einer Lehrerin in Wien geborenen musste sie mit 12 Jahren in die USA fliehen, wo sie zu einer weltberühmten Psychoanalytikerin wurde – angeblich lagen Stars wie Marlon Brando, Paul Newman, Marilyn Monroe oder Woody Allen auf ihrer Couch. Wenn diese es selbst nicht öffentlich machten, schweigt Freeman bis heute darüber. Außerdem war sie Gast vieler TV-Shows – auch die Sendungsmacher hatten ihr unglaubliches Talent für pointierte, witzige Sprüche erkannt.

Der Buchtitel „Mir geht’s gut, wenn nicht heute, dann morgen“ ist natürlich ein Zitat von ihr, die die Gabe hat, auch Schreckliches wie den Tod ihrer Mutter 1945 bei der Bombardierung des Philipphofs mit der Weisheit einer Frau, die viel erlebt hat, zu erzählen. Aus den vielen Frühstückstreffen hat Stermann jetzt ihr mit vielen Anekdoten gewürztes Leben erzählt. Oft schickt sie ihm später auch noch Sinnsprüche via SMA nach: „Wenn eine Frau auf Sex verzichten will, dann muss sie ihn heiraten.“

Freeman, deren Mutter als Vorbild für Isaac Beshevis Singers mit Barbra Streisand verfilmte Kurzgeschichte „Yentl“ gilt, hat zweifelsohne viel zu erzählen, von Flucht und Verfolgung, von Karriere und Prominenten, von Analysen und Analytikern. Dass Freeman jetzt im Imperial wohnt, hängt mit der Pandemie zusammen. Sie ist quasi nach einer Herzoperation in Wien gestrandet und war zeitweise der einzige Gast im Hotel. Inzwischen hat sie auch wieder die österreichische Staatsbürgerschaft.

Bei einer Gala in New York hatte sie ihrer Freundin Hilary Clinton ihr Österreichisches Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst gezeigt und erklärt: „They tried to kill me, now they decorate me.“
„Mir geht’s gut, wenn nicht heute, dann morgen“ ist ein Buch, das man sehr gerne liest, weil es so leicht und anekdotisch daherkommt – als Wiener freilich immer mit einem ambivalenten Gefühl. Schließlich hatten unsere Vorfahren sie ja tatsächlich zur Vernichtung vorgesehen.


Ein seltsames Leben – Monika Helfer erzählt in „Die Jungfrau“ von einer reichen, schönen Freundin.

Ein seltsames Leben – Monika Helfer erzählt in „Die Jungfrau“ von einer reichen, schönen Freundin

Ein Buch, das ich problemlos an einem Tag im Bad lesen konnte und das trotzdem einen großen Eindruck zurücklässt. Die Vorarlbergerin Monika Helfer, die mit ihren autobiografischen Romanen „Die Bagage“ (2020), „Vati“ (2021) und „Löwenherz“ (2022) spät, aber verdientermaßen, zum Literaturstar wurde, beschreibt in ihrem neuen Buch die Jugendfreundschaft mit der gleichaltrigen Gloria, die all das besitzt, was sie selbst – Moni – nicht hat: Ein Haus, Bedienstete, Geld und Schönheit. Doch zwischen den Fallstricken des Lebens scheint sich die glänzende Gloria geradewegs zu verlieren.

Die Aufnahmeprüfung im Reinhardt-Seminar schafft sie mit Bravour, doch als sie sich in einen verheirateten Lehrenden verliebt, wird es nichts mehr mit der Karriere. Hochdramatisch legt sie sich vor die Schwelle seiner Wohnung, die Ehefrau steigt nur darüber und nimmt es sogar hin, dass ihr Mann bei Gloria einzieht. Zu Sex soll es allerdings niemals kommen – Moni ist nicht ganz sicher, ob sie ihrer Freundin glauben soll. Zum 70. Geburtstag kommt ein Brief von Gloria – man hatte sich längst aus den Augen verloren – und Moni besucht die Freundin, die noch immer im Elternhaus wohnt, wo ihre halbverrückte Mutter mutmaßlich Unsummen an Geld versteckt hat, was die Tochter nicht interessiert.

Helfer ist eine ebenso genaue wie reflektierte Erzählerin. Nie gibt sie etwas als gewiss aus, stets hinterfragt sie sich, wie es gewesen sein könnte und was das für sie damals bedeutete. Sie selbst wohnte damals ja in einer beengten Wohnung, Geld war immer knapp und trotzdem nicht so wichtig. Moni heiratet früh – eine der einprägsamsten Stellen im Buch ist die Szene, in der sie von ihrem Schwager bei der Hochzeit entführt wird – ein alter Brauch – und dann vom Bräutigam nicht gefunden wird, obwohl sie genau dort sind, wo es am wahrscheinlichsten gewesen ist. Ein kluges Buch über die Möglichkeiten einer Biografie und die Zeit des Wirtschaftswunders in Österreich.


Ein seltsames Leben – Monika Helfer erzählt in „Die Jungfrau“ von einer reichen, schönen Freundin.

Monika Helfer: Die Jungfrau
Hanser Verlag
150 Seiten
23,50