Zwischen USA und Irland – Colm Tóibíns Roman „Long Island“, die Fortsetzung seines Erfolgs „Brooklyn“
Der Ire Colm Tóibín ist einer der besten europäischen Erzähler. Mit „Brooklyn“ – 2010 auf Deutsch erschienen – gelang ihm ein Aussiedlerroman, der zeigte, dass selbst für Menschen, die dieselbe Sprache sprechen und aus demselben Kulturkreis kommen, Migration alles andere als leicht ist. „Brooklyn“ wurde 2016 auch erfolgreich verfilmt. Jetzt erschien – gut 15 Jahre später – eine Fortsetzung mit dem gleichen Personal. Thema ist wieder die kulturelle Differenz verschiedener Kulturkreise und die Unfähigkeiten der Menschen zur Kommunikation. Über weite Strecken bestimmt das Ungesagte die Handlung.
Der Roman beginnt mit einem Paukenschlag. Eines Tages taucht bei der in Long Island mit ihrem Mann Tony und den zwei halbwüchsigen Kindern lebenden Eilis ein Mann auf, der ihr erklärt, er werde das Kind, das Tony mit seiner Frau gezeugt hatte, nach der Geburt vor ihre Haustüre legen. Eilis ist entsetzt – den Seitensprung hätte sie ihm wahrscheinlich verziehen, aber ein anderes Kind will sie unter keinen Umständen aufziehen. Tonys italienische Familie sieht das anders, seine Mutter erklärt sich bereit, das Kind zu sich zu nehmen. Doch man wohnt in der Siedlung Haus an Haus, Eilis würde das Ergebnis von Tonys Seitensprung täglich sehen müssen. Sie flüchtet geradezu zu ihrer Mutter, die in Kürze ihren 80. Geburtstag feiern wird – in Enniscorthy, im Westen Irlands. Eilis hatte ihre Heimat vor 20 Jahren das letzte Mal besucht, als sie schon heimlich mit Tony verheiratet war und eine Liebschaft mit dem Pubbesitzer Jim eingegangen war. Ihr Schwanken zwischen Jim und Tony machte die Spannung von „Brooklyn“ aus. Und natürlich trifft Eilis jetzt wieder auf Jim, der sich gerade mit Eilis‘ Freundin Nancy verloben will. Wieder bleibt bis zum Ende offen, wie die Liebesgeschichten ausgehen, wenn man so will, lässt Tóibín sogar noch Raum für einen dritten Roman.
In der Nacherzählung klingt das natürlich wie der Inhalt eines Groschenhefts. Doch Colm Tóibín ist eben ein großartiger Erzähler, der das Unvermögen seiner Protagonisten, sich verständlich zu erklären, genau beobachtet. Er braucht dazu auch keine großen sprachlichen Kunststücke – die Einfachheit seines Stils entspricht perfekt dem Gehalt seiner Geschichte. Der Roman wird abwechselnd von Eilis, Nancy und Jim erzählt, wir sind ganz nahe bei ihnen und verstehen komplett ihre Dilemmata. Mit Zeitangaben ist der Autor sparsam, wir sind in der 2. Hälfte des 20. Jahrhundert, Eilis Kritik daran, dass amerikanische Jungs in Vietnam sterben müssen, hat einen Verweis aus Tonys Großfamilie zur Folge und verweist uns in die 70er-Jahre. Ein Roman für Menschen, die sonst keine Liebesromane lesen.
Colm Tóibín: Long Island
Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini
Hanser Verlag
316 Seiten
€ 27,50