Der Ohrenzeuge – Zum 120. Geburtstag des Nobelpreisträgers Elias Canetti
Der Justizpalastbrand 1927 soll Elias Canetti zu seinem philosophischen Hauptwerk „Masse und Macht“ angeregt haben. Der zu dieser Zeit noch völlig unbekannte Autor lebte damals in Wien. Geboren als Nachfahre spanischer Juden in Bulgarien studierte an der Wiener Universität Chemie, obwohl ihn das Fach nicht wirklich interessierte. Auch in seinem in Wien spielenden großen Roman „Die Blendung“ (unbedingte Leseempfehlung!) spielt das Feuer eine große Rolle. Der Sinologe Kien verbrennt inmitten seiner geliebten Bibliothek.
Canettis Werk kann von den zentralen Ereignissen und Personen des 20. Jahrhunderts eben nicht getrennt werden. Der Hanser Verlag bringt jetzt – zum 120. Geburtstag Canettis – die ersten zwei Bände einer neuen kritischen Werkausgabe, nämlich „Der Ohrenzeuge“ und „Die gerettete Zunge“ heraus. Canettis umfangreiche Autobiografie umfasst 4 Bände – in „Die gerettete Zunge“ erzählt er von den ersten Jahren seines Lebens in Rustschuk, Manchester, Zürich und Wien – im Anhang wurden Texte aufgenommen, die Canetti nicht in der Erstausgabe publizieren wollte. Der Autor erweist sich darin als ein großer Erzähler, wobei seine nicht unerhebliche Selbstverliebtheit manches maximal subjektiv erscheinen lässt. Canettis Autobiografie war zudem sein wahrscheinlich größter Bucherfolg und lässt sich auch heute noch mit viel Gewinn lesen. Die 50 Charaktere, die Canetti in „Der Ohrenzeuge“ beschreibt, zeigen den Autor als Satiriker in der Nachfolge von Karl Kraus, den er in seinen Wiener Jahren sehr bewunderte. In dem 1975 erstmals erschienenen Werk porträtiert er Typen von Zeitgenossen anhand ihrer prägenden Eigenschaft – „Namenlecker“ könnte man heute als „promigeil“ bezeichnen, Menschen, die gerne nationale Denkmäler anpinkeln, heißen bei ihm „Heroszupfer“. Auch das lässt sich mit einem Schmunzeln konsumieren.
Die Vorteile einer kritischen Ausgabe kommen vor allem bei „Die gerettete Zunge“ zum Tragen, denn die Anmerkungen sind umfangreich und wichtig, denn hier werden etwa auch Persönlichkeiten erklärt, die heute niemandem mehr geläufig sind.
Elias Canetti: Das Gesamtwerk, Zürcher Ausgabe
Band 4: „Der Ohrenzeuge – Fünfzig Charaktere“, herausgegeben von Heide Helwig,
Hanser, 208 Seiten, € 37,95
Band 5: „Die gerettete Zunge – Geschichte einer Jugend“, herausgegeben von Sven Hanuschek und Kristian Wachinger, 540 Seiten, € 48,95