Die Geschichte holt uns immer ein: Marko Dinić und sein Balkan-Roman „Buch der Gesichter“

2010 veröffentlichte der US-Historiker Timothy Snyder sein vielbeachtetes Buch „Bloodlands“, in dem er das Gebiet des östliche Polens, Belarus, den Westteil Russlands, des Baltikum sowie Teile der Ukraine als die Teile Europas mit dem höchsten Blutzoll im 2. Weltkrieg festmachte. Durchaus Gebiete, in denen aktuell auch heute Kämpfe stattfinden. Aber wenn man es genau betrachtet, ist auch der Balkan ein solches Bloodland. Bekanntlich begann ja dort schon der 1. Weltkrieg und im 2. herrschte am Balkan ein brutaler Krieg, bei dem nicht nur die Nazis gegen die Bevölkerung, sondern auch die faschistischen Ustascha-Kroaten gegen die Serben und die Partisanen gegen die Besatzung kämpften. Und nach dem Tito-Jugoslawien folgte bekanntlich abermals ein blutiger Krieg, dessen Wunden bis heute nicht verheilt sind.

Marko Dinić, der in Belgrad aufgewachsen ist, aber schon lange in Wien lebt, wo er auch geboren wurde und der auch auf Deutsch schreibt, hat jetzt einen sehr umfangreichen und sehr poetischen Roman über eine Familie inmitten der Kriege geschrieben. Er erzählt mit unterschiedlichen Stimmen in acht Kapiteln die Geschichte einer jüdischen Waise, die schon im ersten Weltkrieg beginnt. Der kleine Junge Isak Ras verliert seine Mutter und wird von einem befreundeten kommunistischen Ehepaar aufgezogen. Die Story ist allerdings so komplex, dass sie unmöglich nachzuerzählen ist. Marko Dinić setzt auf starke Bilder und schildert sehr plastisch auch grausame Szenen. Mehr als einmal geht es um das nackte Überleben im Elend. Da wird etwa von Juden aus Wien berichtet, die über die Donau auf einem Schiff vor den Nazis fliehen wollen und dabei tragisch scheitern.

„Buch der Gesichter“ ist so vielschichtig, dass man das Buch mehrmals lesen kann und vielleicht auch soll. Man darf sich dabei nicht vom ersten Kapitel, in dem der Autor noch seinen Erzählton anzustimmen scheint, abschrecken lassen. Eine unbedingte Leseempfehlung für Menschen, die wissen wollen, wozu Literatur fähig ist.

Am 6. Oktober wird der Autor seinen Roman in der Alten Schmiede im Gespräch mit seinem Schriftstellerkollegen Doron Rabinovici vorstellen.

Marko Dinić: „Buch der Gesichter“, Hanser Verlag, 464 Seiten, € 28,80