Karl Kraus im Burgtheater und Daniel Kehlmann in den Kammerspielen
Dušan David Pařízeks Fassung von Karl Kraus „Die letzten Tage der Menschheit“ ist nach der Premiere bei den Salzburger Festspielen jetzt im Burgtheater zu sehen. 220 Szenen mit gut tausend Figuren – Karl Kraus (1874–1936) war klar, dass das nicht komplett gespielt werden kann. Der jetzt dreieinhalbstündige Abend ist trotzdem vielschichtig, bietet dem Publikum einige reißerische Szenen und Manches zum Nachdenken. Zum Mittelpunkt wird die Figur der berüchtigten Kriegsberichterstatterin Alice Schalek, die von Marie-Luise Stockinger verjüngt und mit burschikosem Haarschnitt und mit einer Kamera bewaffnet als Netzreporterin gespielt wird. Absolut sehenswert. Auch die anderen Darsteller – Michael Maertens, Dörte Lyssewski, Felix Rech, Elisa Plüss, Branko Samarovski und Peter Fasching können ihr Potenzial entfalten. Letzterer spielt auch live Musik mit vielen Instrumenten. Am Schluss verwirrt man das Publikum eine halbe Stunde lang mit mehreren Abschiedsszenen samt Vorhängen. Aber es ist halt so: Zum Krieg ist das Schlusswort leider noch immer nicht gesprochen.
Ein Stück über Corona, jetzt, wo alle froh sind, sich nicht mehr daran erinnern zu müssen – Daniel Kehlmann hat noch während der ersten Monate der Pandemie Szenen geschrieben, aber Direktor Föttinger wollte sie erst viel später aufführen, wie aus einem im Stück auch vorgelesenen Brief hervorgeht. Nun, er hatte recht: Heute sieht man vieles als Kabarett, was damals normal war. Da werden nicht in Niederösterreich gemeldete Wiener aus ihrem eigenen Haus zurück in die Stadt getrieben, man blickt argwöhnisch auf die Nachbarin, weil die mehrmals am Tag das Haus verlässt, ein Polizist belangt einen Mann, der allein auf einer Bank ein Buch liest und Sicherheitskräfte genießen endlich ihre Minuten der absoluten Macht. Corona zeigte uns, dass auch in mutmaßlich lupenreinen Demokratien Machtgier schlummert und Bürgerrechte nicht selbstverständlich sind. Raphael von Bargen, Robert Joseph Bartl, Katharina Klar, Alexandra Krismer, Julian Valerio Rehrl und Ulrich Reinthaller zeigen Spiellust, Stephanie Mohr hat professionell inszeniert. Im zweiten – wesentlich später geschriebenen – Teil, sehen wir einen recht unsympathischen Schauspieler (Raphael von Bargen) in Hotelquarantäne, der offensichtlich durchdreht. Das Armageddon der modernen Zeit ist real geworden: es gibt kein Internet! Bis ein Obdachloser auftritt sind wir in seinem Kopf gefangen – aber Kehlmann zerstört damit diese Interpretation und lässt dann Tote auftreten. Das wirkt ein wenig unausgegoren.
Foto Kammerspiele: Moritz Schell