Bild: ©Bubu Dujmic
Stark verbreitet und schambehaftet: 1 Million Österreicherinnen und Österreicher können nicht sinnerfassend lesen. Ein Interview mit Angelika Hrubesch, der Leiterin des Alfa-Zentrums in den Wiener Volkshochschulen.
Bei einem so massiven Problem ist es einigermaßen merkwürdig, dass es so wenig Aktionen gegen den Analphabetismus gibt. Denn es müsste ja das Ziel jeder Regierung sein, das sofort zu ändern. Nun gibt es tatsächlich wenig Informationen zu diesem Themenkomplex. Österreich hat sich erst sehr spät, 2011/2012, an einer internationalen Vergleichsstudie beteiligt und seither wissen wir, dass etwa eine Million der 15- bis 65-Jährigen, ca. 17 Prozent betroffen sind. Es gab damals eine gewisse Aufregung, aber die Diskussionen beschränken sich seither immer auf den 8. September, den Weltalphabetisierungstag.
Seit 2012 existiert allerdings eine große Initiative des Bundes und der Länder, die „Initiative Erwachsenenbildung“, die Kurse fördert. Neben den Volkshochschulen gibt es bundesweit viele Einrichtungen, die Alphabetisierung anbieten. In den Volkshochschulen ist die Basisbildung aber schon mehr als 30 Jahre Teil des Angebots.
wienlive: Was ist das Hauptproblem?
Angelika Hrubesch: Wir wissen, dass wir viele der Betroffenen kaum erreichen können. Richtige Kampagnen sind in dem Fördervolumen nicht drinnen. An Fernsehspots kann ich mich jedenfalls nicht erinnern.
Ein Vorurteil ist, dass die Betroffenen hauptsächlich Migranten sind. Was ist da dran?
Von den 17 Prozent Betroffenen haben die meisten als Erstsprache Deutsch. Viele glauben dann, das würde v. a. arbeitslose oder sozial benachteiligte Menschen betreffen – das ist allerdings ein Irrtum. Viele der Betroffenen sind berufstätig, manche sogar erfolgreich. Sie sind aber immer in Gefahr, dass jede Änderung im Berufsumfeld für sie das Aus bedeuten könnte. Und: Viele davon sind sehr intelligent, um vielleicht das letzte Vorurteil auszuräumen.
Das wird im „Vorleser“ ja auch beschrieben. Die Analphabetin soll weitergebildet werden und kündigt dann, weil sie da ja lesen können müsste …
Ja, ich kenne eine Frau, die bei einer Bank gearbeitet hat – in der Reinigung. Und dann hat die Bank die Reinigung ausgelagert. Nun hätte die Reinigungsfirma zwar die Frau übernommen, aber das wäre alles komplizierter geworden – mit mehreren Einsatzgebieten etcetera. Die Bank hätte die Frau sogar als Telefonistin übernommen, aber das hat sie sich eben auch nicht zugetraut.
Das „Nicht-gut-lesen-Können“ ist nämlich leider sehr schambehaftet. Manche Kampagnen verstärken das sogar – sie sind leider oft skandalisierend – so in der Art „Was, du kannst nicht lesen?“. In der Folge ziehen sich die Betroffenen noch mehr in sich zurück. Zu oft wird nämlich der Mangel an Lesekompetenz auf ein individuelles Versagen zurückgeführt. Also schuld sind immer die Betroffenen …
Ein Versagen besteht allerding beim Schulsystem, denn wie kann es sein, dass die Schulen nach 9 Jahren Menschen entlassen, die nicht ausreichend lesen können?
Genau, allerdings sind da auch die sozialen Bedingungen um die Schule herum Teil des Problems – man kann allerdings sicher nicht Kinder von 6 bis 14 dafür verantwortlich machen, dass sie etwas nicht gelernt haben.
Was kann die VHS tun, um Betroffene zu erreichen?
Wir bemühen uns, unsere Kurse so niederschwellig wie möglich anzubieten. Wir haben so gut wie immer Beratungszeiten und Sprechstunden, ein Kurseinstieg ist auch fast jederzeit möglich. Oft geht es um den richtigen Zuspruch. Viele, die zu uns kommen, glauben, dass sie die Einzigen sind, die davon betroffen sind und sagen selbst „ich war zu faul“ oder „ich war so ein schlimmer Schüler“. Erst im Kurs bemerken sie, dass sie nicht allein sind. Deshalb ist Mundpropaganda für uns sehr wichtig.
Aber es ist nicht so, dass manche das Lesen nur verlernt haben, oder?
Dieses Verlernen ist nur ein Teil des Problems. Ich verwende auch den Begriff Analphabetismus ungerne, weil das so ausschaut, als ob die Betroffenen nur die Buchstaben nicht kennen und es würde reichen, diese 26 Buchstaben zu lernen, um lesen und schreiben zu können. Die Herausforderungen sind aber komplexer. Ich muss Zusammenhänge verstehen, auf Bildschirmen lesen und scrollen können und so weiter.
Wie muss man sich so einen Kurs also vorstellen?
Wir schauen uns immer zuerst an, was die Betroffenen können, denn die meisten, die hier in die Schule gegangen sind, können in unterschiedlichsten Facetten ein bisschen lesen. Manche tun sich wirklich schwer mit den Buchstaben, können aber sehr gut Abschreiben, weil das die Schule trainiert hat. Bei manchen vermuten wir eine nicht erkannte Legasthenie.
Wichtig ist uns das Arbeiten in der Gruppe, wobei wir bei den Kompetenzen auch individuell arbeiten können. Wir haben also viele Kurse, und zwar von zweimal pro Woche bis zu viermal. Durch die Förderung haben wir sozusagen den Luxus, auch in kleineren Gruppen arbeiten zu können.
Gibt es zu diesem Problem auch eine wissenschaftliche Forschung innerhalb der Pädagogik?
Der Bereich ist sehr klein – also da ist definitiv noch Luft nach oben. In Deutschland ist es besser, da läuft gerade wieder eine Dekade der Alphabetisierung mit ziemlich vielen Mitteln für die Forschung.
Eigentlich müssten Betriebe ja stark an Lesekampagnen interessiert sein. Sehen Sie da Signale?
Die Sozialpartner sind natürlich an der „Initiative Erwachsenenbildung“ beteiligt. Betriebliche Initiativen für Basisbildung sehe ich leider wenige. Die Firmen regeln das oft auf ihre eigene Weise und sind oft perfekt auf gering Gebildete eingestellt. Ein Beispiel aus dem Bereich Reinigung: Jedes Putzmittel hat eine bestimmte Farbe und der Lappen und die zu putzende Fläche die gleiche Farbe. Besser wäre es selbstverständlich, den Menschen Lernangebote zu machen – bei uns sind Alphabetisierungs-Kurse sogar kostenfrei!
Abschließend: Warum ist das Lesen-Können so wichtig?
Mit dem Lesen gewinnt man ungeheuer viel Autonomie – viele Türen öffnen sich erst mit dieser Fähigkeit. Und das Lesen von Literatur erschließt uns dann nochmal eine Welt.
vhs.at