Wo wäre der Neandertaler heute?

Rashel Kushner ungewöhnlicher Spionageroman „See der Schöpfung“

Vom Genre her ist der neue Roman der seit „Flammenwerfer“ (2015) zurecht viel gelobten US-Autorin ein Spionagethriller und er hat auch dementsprechend seinen Höhepunkt am Schluss. Doch wie man das bei der in LA lebenden Rachel Kushner erwarten kann, ist es natürlich so viel mehr. Wir erfahren Interessantes über die Natur der ersten Menschen und der Neandertaler, über ein Dorf mitten in einem vergessenen Winkel Frankreichs und über die gruppendynamischen Prozesse in einer Öko-Aussteigertruppe. Vor allem aber haben wir eine ebenso faszinierende starke wie doch eher unsympathische Heldin. Sadie ist Ex-CIA-Spionin und arbeitet jetzt als Agent Provokateur für einen ihr unbekannten reichen Auftraggeber, der eine Aktivistengruppe zerstören möchte, die ein landwirtschaftliches Großprojekt sabotiert haben soll. Ein Megabassin soll gebaut werden, um die Dürre aus den Folgen des Klimawandels abzuwenden – mit Auswirkungen für das fragile Wassersystem der Region. Sadie schleicht sich geschickt und aufwändig in die Gruppe ein, indem sie mit dem ihr völlig abstoßend erscheinenden Jugendfreund des Anführers eine Beziehung eingeht. Sie soll ein Buch der Bewegung ins Englische übersetzen. Während ihres Jobs fängt sie die Mails des Gurus der Bewegung ab, der schon seit Jahren in den Höhlen der Umgebung lebt. Bruno, den Sadie niemals persönlich kennenlernt, ist sozusagen ihr Gegenpol, der sie zunehmend fasziniert. Seine klugen, aber nicht uneitlen Überlegungen zum Schicksal der Menschheit machen einen nicht unerheblichen Teil des Romans aus. Wäre etwa der Neandertaler das bessre Menschenmodell gewesen? Und was sieht man, wenn man Tage in der Dunkelheit lebt? Kushner gelingt es, ihre Heldin als zerrissene Persönlichkeit glaubhaft darzustellen. Mit ihren multiplen Betrügereien – sie verlockt schließlich Menschen zu Straftaten, die diese für Jahre ins Gefängnis bringen – ist sie zweifelsohne ein Monster, aber eben ein interessantes. Gegen Ende fragt sich Sadie, die ja andauernd jemand anderen spielt, wer sie nun eigentlich wirklich ist. Der originelle Ausgang der Geschichte sei hier aber natürlich nicht verraten.

Rachel Kushner: See der Schöpfung. aus dem Englischen von Bettina Abarbanell, Rowohlt Verlag, 480 Seiten, 27,50 Euro