Corona ist überall

Abstand ist der neue Anstand


Die Coronakrise verändert unser Verhalten. Was bleibt davon?
Text: Ursula Scheidl / Fotos: Stefan Joham


Beim Billa vor der Maskenpflicht
Eine alte Frau schlurft durch die Regale, drängt sich an mir vorbei, um ein Sonderangebot aus der Nähe zu betrachten. Ich bitte sie freundlich, Abstand zu halten. Sie schaut mich verständnislos an. An der Kassa ist sie wieder hinter mir, ignoriert die Markierungen am Boden. Erneut bitte ich sie, Abstand zu halten. Sie drängt sich wieder an mir vorbei und beschimpft mich: „Ihr seid’s alle deppat wurn.“ Wir könnten die Polizei rufen? „Bist eh schiach wia da Zins, da schadt da Corona ah nix mehr.“ Auch eine Behandlungsphilosophie.

Beim Hofer war’s
Ein alter Mann möchte den Supermarkt ohne Maske betreten. Eine Mitarbeiterin weist ihn höflich darauf hin, dass er sich eine an der Kasse besorgen soll – kostenlos! Er schimpft. Statt die Zange zu nehmen, greift er mit der bloßen Hand in die Schachtel und wühlt sich eine Masker heraus – auch nicht im Sinne des Erfinders. Eigentlich möchte ich Obst und Gemüse gerne unverpackt kaufen, aber als ich sehe, wie eine Frau jeden Paradeiser extra angreift und wieder zurücklegt, überlege ich es mir und nehme doch das in Plastik eingeschweißte Gemüse.

Beim Spar
Die Schlange an der Kassa ist lang, alle halten sich an den vorgeschriebenen Abstand. Dadurch kommt es vor, dass einige glauben, es stünde keiner an. Alle entschuldigen sich, es wäre ein Versehen gewesen. Eine ältere Frau irrt zwischen den Kassen herum, offenbar hat sie nichts eingekauft und sucht den Ausgang, um gleich wieder durch das Drehkreuz den Supermarkt zu betreten. Eine Frau in der Nebenschlange: „Sie sollte eigentlich nicht aus dem Haus gehen. Ich möchte sie fragen, ob wir für sie einkaufen gehen sollen.“

Beim Spaziergang im Wienerwald
Hinter mir höre ich einen Mountainbiker heranbrausen. Ich gehe rasch zur Seite und ärgere mich innerlich. Er rast vorbei, lächelt und ruft: „Herzlichen Dank!“ So geht’s also auch. Der Weg wird schmaler. Eine Mutter mit Kind, der 6-Jährige muss pinkeln, sie bleiben stehen. Ein übergewichtiger Mann mit Nordic Walking Stöcken kämpft sich den Berg herauf und bleibt ebenfalls stehen. Er wartet, bis der Bub sein Geschäft erledigt hat. „Was sein muss, muss sein“, er lächelt. „Es ist ja Platz für alle da, ein bisschen Verschnaufen schadet nicht.“

Am Flötzersteig
Wo normalerweise die Autos entweder im Stau stehen oder die Geschwindigkeitsbeschränkung überschreiten, gehe ich zu Fuß von den Steinhofgründen herunter. Wenige Spaziergänger sind unterwegs, darunter eine ältere Dame mit Ihrem Hund an der langen Leine. Fröhlich hüpft er auf einen Mann zu, der panisch zur Seite springt. Können jetzt auch schon Hunde Corona übertragen? Ein junger Mann mit Dreadlocks und Kopfhörern, er ist in sein Handy vertieft, schaut nicht auf seinen Weg. Ein älteres Ehepaar, beide mit Maske, Händchen haltend, kommen ihm entgegen. Ratlos bleiben sie am Gehsteig stehen, dann entscheiden sie auf die Fahrbahn zu wechseln, nicht ohne dem jungen Mann das Götzzitat hinterher zu rufen. Ein Obdachloser sitzt an der Kreuzung. Er verkauft Masken, die er in den Straßen gesammelt hat, gegen eine kleine Spende. Zwar gut für die Umwelt, aber … Ich nehme ihm drei Masken ab und werfe sie in den nächsten Mistkübel.

Auf der Donauinsel
Endlich wieder einmal meine 42km-Runde mit dem Rad drehen, denke ich mir. Ich rolle so dahin. “Fahr rechts, fahr rechts!” Eine Mutter versucht Ihrem kleinen Sohn das Ausweichen beizubringen, ich schaffe gerade noch eine Notbremsung, den geforderten Meter Abstand allerdings leider nicht mehr. Die Mutter schaut mich verzweifelt an, “Entschuldigen Sie bitte, entschuldigen Sie.” Alles ist gut, der Kleine mäandert weiter, vermutlich seine erste Ausfahrt mit dem Ostergeschenk. Auf dem letzten Anstieg beim Wehr schalte ich zu spät und die Kette blockiert. Zu dumm, ich habe kein Werkzeug dabei. Ich schiebe mein Rad auf die Brücke und versuche mit bloßen Händen die Kette wieder einzulegen. Keine Chance, 10 km von den nächsten Öffis entfernt. Ich bin am Verzweifeln, in Corona-Zeiten wird keiner anhalten und helfen. ABER: ein mittelalterlicher Herr beobachtet mich aus einiger Entfernung, dann ruft er mir zu: “Legen Sie das Rad zur Seite und halten Sie Abstand.” Tatsächlich, er bekommt die Kette wieder rein, seine Finger sind ganz ölig. Er lacht: “Wenn wir schon Corona haben, dann sind wir jetzt wenigstens gut geschmiert.” Drei junge Mädchen auf einer Decke beim Picknicken. Mitbwewohnerinnen oder bloß Freundinnen, den Mindestabstand halten sie jedenfalls nicht ein. Man weiß nicht, was man denken soll. Eine Großfamilie sitzt in der Wiese, die Räder vor ihnen, mindestens sechs Kinder. Ist das wirklich alles eine Familie? Zwei sportliche Männer oder solche, die es gerne sein würden, auf Rennrädern. Sie fahren nebeneinander in ziemlichem Tempo und denken natürlich nicht daran auszuweichen. Zwei Männer mit großem Gepäck. Wie sind sie bloß hierhergekommen? Sie sprechen spanisch. Als sie mich kommen hören, weichen sie entsetzt aus. Schau ich so gefährlich aus?

In der Siedlung
Gelächter und der Geruch von gegrilltem Fleisch. Ostersonntag. Da wohnt doch sonst niemand? Ich spähe über den Zaun und sehe eine Gruppe Jugendlicher beim Feiern. Darf man das jetzt noch?

Im Bus
Ein Geschwisterpaar steigt ein. Der 8-Jährige mahnt seine 10-jährige Schwester: „Setz deine Maske auf, das hilft dem Opa.“ Er deutet auf meinen Mann.

Auf der Straße
Ich stehe vor dem Zebrastreifen und warte bis endlich ein Auto stehen bleibt. Jeder zweite Fahrer, der alleine im Wagen sitzt, trägt Maske. Ich frage mich wozu? Drei Kinder spielen miteinander, sie sind offenbar keine Geschwister, sondern Nachbarskinder. Die Mütter unterhalten sich im gebotenen Abstand von 2 Metern, aber „die Kinder sollen ruhig spielen, sie picken ohnehin die ganze Zeit zusammen.” Hmmm. Ein Mädchen schaut aus einiger Entfernung sehnsüchtig auf die Spielenden. „Mama, warum darf ich nicht mitspielen?” Ich möchte nicht in der Haut der Mutter stecken. Der Gehsteig ist schmal. Ein Ehepaar trifft offenbar auf einen Bekannten. Sie kommen ins Gespräch. Der Bekannte rückt ihnen ordentlich auf die Pelle, die Frau weicht zurück, aber er redet sich so richtig in Rage. „Des hamma jetzt davon, wegen die ganzen Ausländer, die kriegn jetzt des Göd einigschobn. Wann I kane zehn Kinda daholten kaun, dann derf I kane mochn.” Ein echter Wiener Philosoph offenbar … Misstrauen, Vernadern, angemessene Vorsicht, übertriebene Hysterie, aber auch unheimlich viel Hilfsbereitsschaft und ein Zusammenrücken trotz Abstandhaltens, vor allem aber viel Unsicherheit und ein total komisches Gefühl. Das wird lustig im Sommer, wenn es heiß wird, und man unter den Masken schwitzt. Wenn alle den geforderten Abstand hielten, könnte das Virus bald baden gehen – und wir auch in den Schwimmbädern und Seen. Eines ist sicher, das Virus hat unser Verhalten verändert. Wie nachhaltig wird sich erst in einiger Zeit herausstellen.