Die 11 Begierden des Herrn Ludwig van

Fangen wir mit dem Ärger an


Aus bekannten Gründen hätte man es fast vergessen, aber heuer ist Beethovenjahr – wir feiern seinen 250. Geburtstag. Unser Kolumnist Otto Brusatti hat ein etwas anderes Buch über Beethoven herausgebracht. Lesen Sie eine Kostprobe aus seinem Werk „Die 11 Begierden des Herrn Ludwig van“.
Text: Otto Brusatti / Foto: Arman Rastegar


ALSO
Da sitzt frau/man wieder – egal eigentlich jetzt wo – z. B. mit Ohrenstöpseln herum oder dort im Konzert zwischen den Parfümstinkenden, am liebsten eh vor einem Küchenradio beim Kartoffelschälen, gar im Lehnstuhl mit einer Partitur in der Hand oder vor 88 SW-Klaviertasten und einer sogenannten „Kritischen Sonaten-Ausgabe“. Es stellt sich bald dreierlei ein. Erstens: Wohligkeit, ev. sogar initialiter wohliges Wiedererkennen, Erinnern. Zweitens: Verblüffung, Glück und zugleich intellektuelle Vollbefriedigung. Drittens: Ärger über den Ludwig van.

FANGEN WIR MIT DEM ÄRGER AN
Er zwingt uns zu heroischen Gedanken, die wir, 250 Jahre nach seiner Geburt und am Beginn des 3. Jahrzehnts der 2000er Jahre, eigentlich schon ad acta haben legen wollen; denn sie, diese Gedanken/Empfindungen/Anleitungen richteten bisher einfach zu viel Unsinn, auch Leid, auch Unsägliches an, vor allem diese voll heroischen Heroen-Sachen. Außerdem. Er, der L. v. B., macht uns klein vor ihm und vor unserem Selbstwertgefühl. Er höhnt uns geradezu mit dem von ihm uns aufgezwungenen Gefühl (selbst wenn wir alles von ihm schon intensiv angehört haben, die Masse seiner Formidabel-Kompositionen schon studierten), dem Gefühl eines schier Unüberschaubaren seines Gesamt-Œuvres.

GEHEN WIR JETZT ZUM ZWEITEN
Er verblüfft als schaffender Mensch und zugleich als einer im schlichten, oft mühevollen und bekämpften Alltag. Als einer noch dazu mit einer Schwerstbehinderung akzelerierend wachsend seine letzten 25 Lebensjahre hindurch, von einem zunächst schlimm Verunsichert-Werden beim schlichten Zuhören bis zur jahrelangen, peinigenden, bald aber vollen, suizidgefährdenden Taubheit. – Er. Ein weitgehend unzugänglicher Mensch, der um liebevolle Kontaktnahmen, Zuwendungen und mehr,
beinahe skurril (auch in seiner Musik) manchmal infantil bettelte. – Er. Einer, der Jahre hindurch und oft in einer Schreibe, die jeden Psychoanalytiker schockiert hätte, an Stücken arbeitete, welche dann wie aus einem Guss erschienen/erscheinen, als ein Komponist, der für seine Musiknachwelt wahrscheinlich prägender gewesen ist als andere je. Dabei formulierte er in den Groß-Kompositionen nichts, was zugleich nicht auch die ästhetischen Grund-Kriterien erfüllt: Musik als Typisierung, Stilisierung und Idealisierung von all dessen, was der Mensch überhaupt hervorbringen kann; Beethoven liegt da im Bett der Klassik zwischen Kant, Fichte, Schelling und Hegel, doch diese Meister des Denkens mit ein paar, jeweils neu zusammengesetzten und rhythmisierten Noten weit hinter sich lassend und beschämend. – Er. Beethoven (vielleicht mehr noch als Mozart, mehr noch als Bach und Schubert) vermag im Großteil seiner mehr als 250 innovativen Einzelstücke seine perfekt geformte Musik tatsächlich darzustellen als sinnlich gewordener Intellekt.

ALS BEGIERDE OHNE HERKÖMMLICHE KÖRPER
Mit über 5 Millionen an Zeichen als Basis (diese Notenköpfe und -hälse und Pausen und Taktstriche und so weiter), die zwar alles zum Inhalt haben und die sofort alles verbergen, locken wir sie nicht aus dem perfekten System he­raus, welches jedes Programm in EDV und Computern und Riesenrechnern locker hinter sich lässt, geradezu ebenfalls beschämt. Denn es handelt sich bei der Beethoven-Musik um Sicht(hör)barmachungen und zugleich vorweg schon um die Aufforderung dazu, nämlich Dingen zu begegnen, die zuvor (seit dem Urknall mindestens) gar nicht da gewesen.    


Otto Brusatti: „Die 11 Begierden des Herrn Ludwig van“ (Morio Verlag, 144 Seiten, € 12,-).