Buchtipp: „Philadelphia Underground“
Der Kunst-Thriller
Der Urlaub ist zwar schon lange vorbei, Zeit zum Schmökern sollte aber immer sein, egal ob Thriller, Sachbuch, biografische Einblicke oder opulenter Bildband. Das Debüt des Kaliforniers Augustus Rose ist ein rasant erzählter, comic-
artiger Roman, in dem ausgerechnet Marcel Duchamp eine große Rolle spielt.
Text: Helmut Schneider / Foto: Piper/Augustus Rose
Gut, geklaut hat Lee schon immer, weil sie das so perfekt konnte, aber dass sie auf der Highschool mit Drogen im Spind erwischt wurde, war ein Unfall und Schuld ihrer besten Freundin Edie. Ab dann nimmt die Geschichte des seltsamen, vorerst relativ harmlosen Mädchens mit schwacher Mutter und nervendem Stiefvater in Philadelphia aber so rasant Fahrt auf wie ein D-Zug. Lee flieht aus dem Jugendgefängnis und kommt in ein Quartier voller Jugendlicher, die tagsüber betteln geschickt werden, und das „Kristallburg“ genannt wird. Im ersten Stock des Hauses werden jene, die sich bewähren, von einer Art spirituellem Führer einer speziellen Behandlung unterzogen. Bevor das passiert, haut Lee freilich wieder ab und hat fortan mehr Angst vor dieser Sekte als vor der Polizei. Denn diese Société Anonyme veranstaltet außerdem spektakuläre, als Rave getarnte Kunstfeste, bei denen immer wieder Mädchen verschwinden, um später als willenlose Zombies aufzutauchen. Werden sie als Sex-Sklavinnen missbraucht? Die Figuren, die dann auftauchen, haben merkwürdige Namen wie der Stationsvorsteher, der Priester oder der Leichenträger. Und nach und nach wird klar, dass sie alle der Phantasie von Marcel Duchamp entsprungen sind. Konkret aus seinem „Großen Glas“ mit dem rätselhaften Titel „Die Neuvermählte/Braut wird von ihren Junggesellen entkleidet, sogar“.
Zwischendurch eine Liebesgeschichte
Augustus Rose ist ein Experte für Subkultur, Metaphysik und natürlich Marcel Duchamp. Im Buch und auf seiner Homepage (augustusrose.me) finden sich viele Hinweise zur Sekundär-literatur. Was „Philadelphia Underground“ (ein englischer Titel, aber im Original heißt das Buch „The Readymade Thief“) so einzigartig macht, ist seine rasante Erzählweise. Seine Pro-tagonistin stürzt atemlos von einem Unglück ins andere und niemals weiß sie mit Sicherheit, wer ihr Freund und wer Spion oder Feind ist. Augustus Rose hat seinem Debüt quasi die Dramaturgie eines Thrillers oder einer TV-Serie verpasst – mit Cliffhanger noch und nöcher. Wäre ein Wunder, klopften da nicht längst schon Produzenten bei ihm an.
Denn auch eine Liebesgeschichte vergönnt uns der Autor, wenngleich eine komplizierte. Nach der Kristallburg stößt Lee auf dem gefährlichen Rave auf Tomi und findet in seiner WG Unterschlupf. Tomi ist ein Künstler und öffnet Lee buchstäblich die Welt der Kunst, indem er sich mit ihr im Kunstmuseum einschließen lässt, wo sie eine auch erotisch spannende Nacht verbringen. Und dann ist Lee auch noch schwanger …
Der Betrachter macht die Kunst
Erstaunlich ist auch, wie viel Rose in diesem Thriller an Kunsttheorie unterzubringen versteht. Für Marcel Duchamp war der Betrachter ein wichtiger Teil des Kunstwerks, seiner Ansicht nach produziert jeder, der sich ein Kunstwerk anschaut, sozusagen sein eigenes Kunstwerk in diesem Prozess. Und natürlich gab und gibt es viele Interpretationen zum „Großen Glas“, denn Duchamp liebte es, seine Adepten an der Nase herumzuführen. Die Mitglieder der Société Anonyme glauben jedenfalls daran, dass sich mit Hilfe von Duchamps Werk endlich die Gegensätze von Quantenmechanik und dem Einstein’schen Modell des Universums auflösen lassen. Man braucht nur die Maschine von Duchamp endlich in Gang zu setzen. Deshalb machen sie auch Jagd auf Lee, denn die hat aus einer Laune heraus einen wichtigen Teil des Kunstwerks mitgehen lassen.
„Philadelphia Underground“ ist jedenfalls mit Sicherheit ein Buch, das man, einmal angefangen, nicht mehr aus der Hand legen mag.