Eine Arbeiterfamilie im Sauerland – Martin Beckers Standortbestimmung seiner Herkunft in „Die Arbeiter“

Eine Arbeiterfamilie im Sauerland – Martin Beckers Standortbestimmung seiner Herkunft in „Die Arbeiter“

Sagt heute noch jemand barabern oder hackeln? In Deutschland heißt das malochern und bedeutet hartes, körperliches Arbeiten. In den 70er-Jahren waren noch etwa 40 Prozent der Menschen in Österreich und Deutschland Arbeiter, heute sind es gerade einmal noch unter 20 Prozent. Viele Jobs sind verschwunden, aber sehr viele wurden einfach aus dem Arbeitsrecht rausgerechnet, man nennt das Scheinselbständigkeit. Der Neoliberalismus hat übernommen. Nicht geändert hat sich, dass Menschen dieser Klasse durchschnittlich etwa 5 Jahre früher sterben.

Martin Becker wurde 1982 in einer Kleinstadt im Sauerland geboren. Sein Vater war Bergmann und wechselte nach einem Unfall in eine Fabrik, wo er ebenfalls mit schwerem Gerät hantieren musste. Die Mutter versuchte sich als Schneiderin für ein Versandhaus. Geld war immer knapp. Wenn es sich ausging, fuhr man an die Nordsee, übernachtete aber nicht am Strand, sondern billiger im Landesinneren und ernährte sich von Dosensuppen. Den Traum vom Eigenheim erfüllte man sich mit immensen Schulden, das Reihenhaus wurde niemals abbezahlt. Als der Kinderwunsch sich nicht erfüllen wollte, nahm das Paar ein Waisenkind auf – allerdings verschwiegen die Behörden, dass Lisbeth schwer behindert zur Welt gekommen war. Als den Eltern ihr Verhalten seltsam vorkam, bot man ihnen an, das Kind wieder zurückzunehmen – was die Arbeiterfamilie empört ablehnte.

Martin Becker – der Autor lässt uns nie im Unklaren, dass es seine Geschichte ist, die er hier erzählt – kommt als Nachzügler zur Welt, sein Bruder Kristof ist da schon der Vernünftige in der Familie. Becker wird Autor, aber anders als seine französischen Kolleginnen/Kollegen Annie Ernaux oder Didier Eribon, die die Autofiktion zur Kunstform erhoben haben, bleibt er ziemlich unsentimental nahe am Geschehen. Er schreibt sich frei von seiner Wut auf die Eltern, versucht zu verstehen und weiß immer ganz genau, dass deren Geschichten und Sehnsüchte auch seine sind.

Bald schon zerfranst die Familie an ihren Widersprüchen. Mutter ist aufbrausend bei ihrer Jagd nach Schnäppchen, Vater meistens still, am Wochenende trinkt er Korn – für Andersdenkende hat man wenig Verständnis, aber immerhin wählt man immer SPD und keine Rechtsradikalen. Alle sind viel zu dick. Erst am Schluss, als die Brüder sich ihrer Verantwortung für die siechen drei Verwandten stellen müssen, werden Gespräche versucht. Gefühle haben keinen Platz in dieser Wirklichkeit.

„Die Arbeiter“ ist ein nachdenklich machendes Buch über einen schweigenden Teil unserer Bevölkerung, ihre Träume und Wünsche. Am Strand der eiskalten Nordsee stehend, versichert man sich dennoch immer, was für ein schönes Leben man doch hat.


Martin Becker: Die Arbeiter
Luchterhand
302 Seiten
€ 22,70