Stephen King wurde 75 – sein neues Buch ist ein Fantasyroman
Stephen King ist nicht nur einer der erfolgreichsten Autoren aller Zeiten, sondern längst auch ein Phänomen der Pop-Kultur. Über die zahlreichen Verfilmungen – „Shining“, „Carrie“, „Christine“, „Es“ um nur einige zu nennen – kennen ihn auch Menschen, die noch keine Zeile von ihm gelesen haben. In seiner 2000 erschienenen Autobiografie „Das Leben und das Schreiben“ berichtet er sehr offen über seine Anfänge als er als junger Autor eine Familie ernähren musste und dabei alkohol- und drogenabhängig wurde. An das Schreiben einiger Romane aus dieser Zeit kann er sich gar nicht mehr erinnern. Seiner Frau zuliebe ging er in eine Entzugsklinik und ist seither trocken.
Alkoholsucht kommt aber in seinem bekanntlich höchst umfangreichen Werk sehr oft vor. Etwa in „Shining“ – in Kubricks Verfilmung steht Jack Nicholson mehrmals in der Bar bevor er über seine Familie herfällt. Auch in seinem neuesten Roman – den 900-Seiten Fantasyriegel „Fairy Tale“ – verfällt der Vater des Erzählers Charlie nach dem Unfalltod seiner Frau dem Alkohol. Es gelingt ihm zwar mithilfe der Anonymen Alkoholiker wieder auf Spur zu kommen, doch Charlie lebt in ständiger Angst vor einem Rückfall seines Vaters.
„Fairy Tale“ ist ein – im Lockdown geschriebener – untypischer Stephen King-Roman, denn Fantasy ist nicht seine Domäne. Aber viele Themen, die das King-Universum ausmachen, sind auch in diesem Buch vorhanden. Hauptperson ist der 17jährige Charlie – einerseits Baseball-Star und 100 Kilo-Prügel, andererseits aber ist er hochsensibel und vielfach auch noch ziemlich kindlich. Sein Leben nimmt jäh eine Wendung, als er einem alten Nachbarn das Leben rettet als dieser von der Leiter fällt und sich nicht mehr ins Haus schleppen kann, um Hilfe zu rufen. Der alte Kauz Mr. Bowditch hat auch eine ebenso alte Schäferhündin namens Radar und bald schon sind der Hund und Charlie dicke Freunde. Als Mr. Bowditsch immer schwächer wird, vertraut er Charlie sein Geheimnis an. In Wirklichkeit ist er weit mehr als 100 Jahre alt – seine Verjüngung und seinen Reichtum verdankt er einer Art zweiten Welt, deren Eingang sich geradewegs im Schuppen auf seinem riesigen Grundstück befindet. Dieses Reich ist zwar von der Anlage her ziemlich märchenhaft, allerdings hat sich dort eine Katastrophe ereignet, die aus der Märchenwelt ein Horrorreich werden ließ. Um wenigstens Radar vor dem nahen Tod zu bewahren, steigt Charlie schließlich in diese alternative Welt hinunter.
Bevor er dies tut, vergehen schon einmal locker 200 Seiten und auch die detaillierten Beschreibungen der Anderwelt sind nicht immer spannend. „Fairy Tale“ gehört sicher nicht zu den besten Werken des Autors, dafür kann man aber das Erfolgsgeheimnis des Stephen-King-Universums sehr gut studieren. Natürlich spielt King mit unseren starken emotionalen Bindungen an unsere Haustiere. Wir leiden seitenweise mit der alten Hündin. Für amerikanische Leser sind auch die vielen Baseball-Sport-Szenen wichtig. Zwar wird schließlich in der Anderwelt ein höchst grausames Spiel auf Leben und Tod aufgezogen, die sportlichen Referenzen sind freilich für die Geschichte essenziell. Und andauernd spielt King auf literarische Vorlagen an – sei es alte Volksmärchen oder das Horroruniversum von H. P. Lovecraft. Klar kommt es in „Fairy Tale“ letztendlich zu einem Kampf zwischen den Guten und den bösen Monstern, die „Game of Thrones“-Mechanismen und Tricks beherrscht King allerdings weit nicht so gut wie den reinen Horror wie er ihn etwa in „Es“ beschrieben hat. Am besten ist er aber sowieso wenn er ganz nahe an den menschlichen Abgründen bleibt und sich der Horror aus der Psychologie der Protagonisten ergibt. Trotzdem: Happy Birthday für einen Autor, der sehr, sehr viele Menschen zum Lesen gebracht hat.
Stephen King: Fairy Tale
Aus dem Amerikanischen von Bernhard Kleinschmidt
Heyne
880 Seiten
€ 28,80