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Angst, Armut, Glück und große Momente

„Ich war immer schon ein bisserl anders“


Ihre Kindheit im zerbombten Wien war von Angst, Armut und Entbehrungen geprägt, aber ebenso von vielen glücklichen Stunden und großen Momenten, wie Chris Lohner, 76, in ihrem neuen Buch erzählt.
Text: Andrea Buday / Foto: Inge Prader


„Ich bin ein Kind der Stadt“, nennt sie ihr inzwischen 13. Buch, in dem sie über eine Zeit schreibt, die es längst nicht mehr gibt. Immer schon wollte sie diese Erinnerungen in einem Druckwerk verewigt wissen – diese spannenden Jahre, die sie sehr geprägt haben. Nach wie vor sind ihr viele Ereignisse sehr gegenwärtig. Noch genau kann sich Chris Lohner, die übrigens im Juli ihren unglaublichen 77. Geburtstag feiert, an Wärmestuben, das Tröpferlbad, das viergeteilte Wien, den täglichen Löffel Lebertran, an g’sunde Watschen, Bassenawohnungen sowie an den Brennnessel- Spinat bzw. die Sauerampfer-Suppe der Großmutter erinnern. Und natürlich an den 15. Mai 1955. „Mir kommen die Tränen, wenn ich daran denke, denn es war so berührend. Alle haben applaudiert und man spürte: ein ganz besonderer Moment“, sagt die Autorin.

wienlive: Sie schreiben, Sie waren rachitisch und unterernährt, aber irgendetwas Essbares fand sich immer …
CHRIS LOHNER: Wir hatten sehr nette Nachbarn, die Portners, die einen Schrebergarten in Meidling besaßen, wo sie Gemüse anbauten, das sie mit uns teilten. Manchmal wurden wir Kinder auch dorthin eingeladen und dann durften wir Beeren essen. Das war wie im Märchen. Andererseits kannten wir keinen Riesenhunger, weil wir ja gewohnt waren, sehr wenig zu essen.

War es in Wien nicht leichter?
LOHNER: Ganz im Gegenteil. In der Stadt war es viel ärger als auf dem Land, wo man immer wieder einmal einen Erdapfel oder ein kleines Stückerl Brot bekam. Darum ist ja meine Großmutter zum Beispiel auf den Laaerberg gegangen, um dort Sauerampfer zu pflücken oder Brennnesseln, die sie dann verkocht hat.

Dann kamen aber die CARE-Pakete aus den USA …
LOHNER: Das war großartig! Wie Weihnachten und Ostern zusammen. Später wurde ich dann Ehrenmitglied von CARE.

Sie erzählen auch von Bassenawohnungen, also Klo und Wasser auf dem Gang, sowie von Bettwanzen.
LOHNER: Wir wurden jeden Morgen auf rote Punkte, also Wanzenbisse, kontrolliert und wenn welche gefunden wurden, streute man hochgiftiges DDT aufs Bett. Man hatte nichts anderes und niemand dachte sich etwas dabei. Jeder machte das, weil ja alle Wanzen hatten.

Sie halfen gemeinsam mit Ihrer Schwester auch eifrig im Haushalt mit, Stichwort Waschtag.
LOHNER: Das war selbstverständlich. Einmal pro Woche war Waschtag. Wir sind in den Keller, wo ein Kessel mit kochendem Wasser stand, in den wurden zuerst Schmierseifenflocken und dann die Wäsche reingegeben, dann lange mit einer Holzstange umgerührt und zuletzt hievte man die Wäsche in den Kaltwassertrog zum Schwemmen. Waren noch Flecken zu sehen, kam die Waschrumpel zum Einsatz. Danach hieß es, alles auswinden und rauf auf den Dachboden zum Trocknen. Also nichts von wegen Waschmaschine etc. Hausfrau zu sein bedeutete in meiner Kindheit etwas ganz anderes als heute mit all den Geräten, die die Arbeit erleichtern.

Nicht nur Nahrung war Mangelware, sondern auch Kleidung. Man trug, was man kriegte – wie u. a. auch zu große Schuhe.
LOHNER: Die Schuhe hatten Größe 38, waren also viel zu groß, und damit sie gleich passten, trug ich drei Paar dicke Socken. Und das Schlimmste: Diese Haferlschuhe waren nicht umzubringen, die hielten ewig. Ich hasse seither Haferlschuhe (lacht)!

Und dann gab es noch zehn Meter lila Stoff mit schwarzen Punkten, der Ihnen auch keine Freude bereitete.
LOHNER: Ja! Mein Vater war der Schnäppchenjäger in der Familie, der immer etwas kaufte, weil es billig war, unabhängig davon, ob man es brauchte oder nicht. Einmal kam er eben mit diesem lila Stoff daher und meine Mutter nähte uns Stufenröcke, die, sobald sie zu kurz wurden, mit neuem Stoff verlängert wurden. Das sah scheußlich aus, weil der Stoff des Rocks durch das viele Waschen bereits völlig ausgebleicht war, aber was sollte man machen. Nein zu sagen hätten wir uns nicht getraut. Wir wären ja nicht einmal auf die Idee gekommen!

An Ihr erstes ganz neues Kleidungsstück können Sie sich vermutlich ganz genau erinnern, oder?
LOHNER: Natürlich! Ein roter Dufflecoat von Texhages mit 16. Das glich einer Sensation, die sich nicht beschreiben lässt. Wir haben ja immer nur irgendetwas Umgenähtes, Aufgetrenntes oder Wiederverwertetes getragen. Meine Schwester war ja noch ärmer dran, denn sie erbte alles von mir (lacht).

Sie hatten eine sehr innige Beziehung zu Ihrer Schwester?
LOHNER: Wir waren zwar sehr verschieden, sie war die Ruhigere, sehr schlau und pfiffig, ich war die Freche (lacht). Sie hatte aber auch die leichtere Position innerhalb der Familie, weil bei mir wurde ausprobiert, wie es geht, und bei Elfi wussten sie es bereits. Das erste Kind ist quasi immer das Versuchskaninchen. Ich habe ihr den Weg geebnet. Natürlich war ich auch Vorbild, aber ebenso Neidpfosten.

Sie wuchsen im zerbombten Wien mit Not und Entbehrungen auf, beschreiben Ihre Kindheit aber als eine sehr glückliche.
LOHNER: Wir waren zwar arm, aber gleichzeitig in vielerlei Hinsicht sehr reich. Unsere Eltern haben sich mit uns beschäftigt, mit uns gespielt und waren für uns da. In der Volkshochschule, die mein Vater leitete, durfte ich Kurse besuchen. Ich lernte Töpfern, Französisch und Nähen, zudem gingen wir ins Kino und wir unternahmen regelmäßig Ausflüge aufs Land wie etwa Wandern im Wienerwald. Uns Kinder langweilte das, aber meine Liebe zur Natur verdanke ich meinen Eltern. Denn wir waren so oft als möglich im Freien.

Sie schreiben, dass Sie oft als anstrengendes Kind bezeichnet wurden. Warum?
LOHNER: Weil ich immer alles wissen wollte und alles selber ausprobieren musste. Ich habe mich nicht damit abgefunden, dass man mir sagte, dem wäre jetzt so. Einmal malte mir meine Mutter, während ich schlief, rote Punkte ins Gesicht, weil ich bestraft werden sollte. Ich hatte nämlich Erde in ein Schwimmbecken geschüttet, um für meine Kröte bestmögliche Bedingungen zu schaffen. Alle durften draußen im Garten spielen, ich musste im Bett bleiben. Am Abend entdeckte ich auf einmal, dass ein paar Punkte verwischt waren, und da gestand mir meine Mutter dann, dass diese aufgemalt waren. Nur damit ich einmal eine Ruhe geb’ (lacht).

Sie waren aber nicht nur tierlieb, sondern haben sich mit 13 auch bereits für alte Menschen engagiert.
LOHNER: Ich mochte alte Menschen sehr und darum bin ich in ein Altersheim und habe gefragt, ob ich zu Weihnachten vorlesen dürfte. Woher ich das hatte? Mein Vater war ein großer Altruist. Er half jedem, der zu ihm kam, und wies niemanden ab. Das hat mich schon sehr geprägt. Ich half auch jedem über die Straße, ob er wollte oder nicht (lacht). Ich war immer schon ein bisserl anders.

Wenn Sie an Ihre Kindheit denken und die Kids von heute sehen, was denken Sie da?
LOHNER: Ich würde gerne in Schulen gehen und ihnen sagen, dass es auch anders geht. Man braucht so wenige Dinge, um Freude zu empfinden … Ich war jetzt gerade auf Jamaica und da habe ich so viele dicke Kinder gesehen. Erschreckend. Junkfood müsste viel teurer sein als hochwertige Nahrungsmittel, dann würden sich die Menschen gesünder ernähren.

Welchen Wert hat Essen für Sie heute?
LOHNER: Ich werfe keine Nahrungsmittel weg und ich gebe mir nie mehr auf meinen Teller, als ich essen kann.

Gestatten Sie mir noch eine Frage: Sind Sie ein gläubiger Mensch?
LOHNER: Nein, überhaupt nicht, auch wenn ich katholisch erzogen wurde. Ich glaube an die Menschen und an das Jetzt. Der Tod ist das Ende. Ich bin auch für Sterbehilfe und habe mich daher in Deutschland, wo diese vor kurzem legalisiert wurde, bei „Ex International“ angemeldet. Als denkender Mensch habe ich doch das Recht, selbst zu bestimmen, wann ich gehen möchte. Das ist mein Urrecht und das finde ich ganz wichtig.


Trotz Hunger, Not und Entbehrungen blickt Chris Lohner auf eine sehr glückliche Kindheit zurück, die sie in ihrem neuen Buch auch schildert. Hugo Portisch, ein langjähriger Freund, verfasste das Vorwort. „Ich bin ein Kind der Stadt. Wienerin seit 1943“, €19,80 echomedia Buchverlag.