Textauszug – Meinhard Rauchensteiner

Gegenverkehr


Meinhard Rauchensteiner hat Miniaturen geschrieben, die – so André Heller im Vorwort – „sprachlich präzise und lesenswert“ sind. Lesen Sie hier eine Kostprobe.
Foto: Ingo Pertramer


Soziales Gefälle

Wien hat zwei Seiten, welche eine abschätzig Transdanubien genannt wird, wohingegen die andere nicht Cisdanubien heißt, wie es sich eigentlich gehörte, sondern, zumal den dort Anrainenden, schlicht Wien.

Es soll solche »Wiener« geben, die noch nie einen Fuß auf das andere, das nördliche Ufer der Donau gesetzt haben. Demensprechend besuchen sie das Krapfenwaldlbad, eingefügt zwischen die Döblinger Villen und herausgeputzten Buschenschanken, die auch Tafelspitz auf der Speisekarte führen, und nicht das Gänsehäufel, das sie bestenfalls vom Hörensagen kennen und wo die Lángos ungestört den Charme und das beständige Öl der 1970er-Jahre versprühen.

Selbst in der Geologie schlägt sich diese tiefe Kluft nieder, nämlich zwischen dem steil aufragenden Leopoldsberg und dem sanft ansteigenden Bisamberg, die gemeinsam die »Wiener Pforte« bilden. Da hilft es wenig, dass der Bisamberg für sich in Anspruch nehmen kann, das östliche Ende der Alpen zu bilden; solche Feinheiten werden durch den Hinweis, dass anno 1683 das christliche Abendland von Kahlen- und Leopoldsberg errettet wurde, mit einer wegwerfenden Bewegung zunichtegemacht, und souverän besiegt das Historische die Natur.

Da hilft es auch wenig, dass der Bisamberg noch ins Treffen führen könnte, dass sich an seinem Fuße das »Erholungsgebiet Seeschlacht« findet, denn auch dies ist bei näherem Hinsehen ein Schotterteich umringt von Fertigteilhäusern für Abteilungsleiter in der IT-Branche.

Die Kluft der Wiener Pforte, durch deren Mitte immerhin die Donau fließt, geht so tief, dass selbst unter den beiderseitig beheimateten Winzern kaum Verbindungen existieren. Findet doch einmal eine Hochzeit zwischen einer Stammersdorferin und einem Nussdorfer statt, so bedeutet dies sozialen Auf-, für den Nussdorfer sozialen Abstieg. Folglich müssen Mannsbilder, die sich – Gott sei’s geklagt – doch hin und wieder in eine Drübige verschauten, danach trachten, sie herüberzuziehen, gleichsam aus dem Schlamm in die zwischen den Villen angesiedelten Winzerhöfe Cisdanubiens, pardon: nach Wien.

Es ist ein weiterer bitterer Triumph der Geschichte, dass noch anderthalb Jahrtausende nach seinem Verschwinden der römische Limes die Zivilisation von der Barbarei trennt.

Meinhard Rauchensteiner, geboren 1970 in Wien, studierte Philosophie, Geschichte, Theologie und Sprachwissenschaften und ist Abteilungsleiters für Wissenschaft, Kunst und Kultur im Stab von Bundespräsident Alexander van der Bellen. Er ist aber auch ein fleißiger Buchautor und Philosoph sowie ein profunder Joyce-Kenner sowie Lehrender an der Universität für angewandte Kunst in Wien. 


Meinhard Rauchensteiner: Gegenverkehr
Miniaturen, Czernin Verlag
ISBN: 978-3-7076-0740-6
132 Seiten
€ 15,–