Eine Stadt. Ein Buch. – 2021
Der Hase mit den Bernsteinaugen
„Eine Stadt. Ein Buch.“ Heuer werden ab 11. November 100.000 Exemplare von Edmund de Waals Bestseller „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ verteilt. Ein Interview mit dem in London lebenden Künstler & Autor.
Text: Helmut Schneider / Foto: Tom Jamieson
Edmund de Waal, 1964 in Nottingham geboren, war längst ein weltbekannter Keramikkünstler und Professor in London, als er von seinem Großonkel Iggy in Tokio 264 japanische Netsukefiguren erbte und plötzlich mit seiner Familiengeschichte konfrontiert wurde, die ihn auch wieder nach Wien brachte. De Waal ist ein Nachfahre der berühmten Ephrussis, die im Wien um 1900 an Reichtum den Rothschilds um nicht viel nachstanden. Das Palais Ephrussi gegenüber der Universität am Ring war bis zur Enteignung durch die Nazis das Stammhaus der Bankerfamilie. Wie durch ein Wunder waren die kleinen japanischen Netsukefiguren aus Elfenbein oder Holz – Tierfiguren wie eben der Hase mit den Bernsteinaugen, aber auch Menschenfigürchen – der Plünderung entgangen. Ein Dienstmädchen hatte sie in seiner Kittelfalte nach und nach in Sicherheit gebracht. De Waal recherchierte vier Jahre lang anhand der abenteuerlichen Reise dieser Netsuke – von Japan nach Paris, dann nach Wien und wieder retour – und somit auch des Hasen mit den Bernsteinaugen die Geschichte seiner Urahnen. Die Ephrussis stammten ursprünglich aus Odessa, wo sie mit dem Verkauf von Getreide reich geworden waren. Später schufen sie Bankhäuser und Dynastien in Paris und Wien, ehe sie von den Nazis in die ganze Welt vertrieben wurden. De Waals Mühe hat sich freilich gelohnt. „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ wurde 2010 zu einem internationalen Bestseller und Edmund de Waal ist seither nicht nur ein gefragter Künstler, sondern auch ein gefragter Autor.
Und durch diesen Bucherfolg wurde die Geschichte der Familie Ephrussi auch in Wien wieder bekannt. Das Jüdische Museum Wien stellte 2019/2020 die Familiengeschichte in der Ausstellung „Die Ephrussis. Eine Zeitreise“ dar. Das Kunsthistorische Museum zeigte Edmund de Waals Keramikarbeiten zuerst zu einer Schau im Theseustempel und lud ihn dann ein, eine persönliche Ausstellung mit Objekten aus der Schatzkammer zu kuratieren – „Edmund de Waal trifft Albrecht Dürer. During the Night.“ 2018 übergab Edmund de Waal den größten Teil seiner Netsuke-Sammlung dem Jüdischen Museum als Dauerleihgabe. Und im Vorjahr wurde Edmunds Vater Victor de Waal österreichischer Staatsbürger – ein Herzenswunsch des Vertriebenen.
Wir erreichten Edmund de Waal am Tag des EM-Spiels England gegen Deutschland („die ganze Familie sitzt vor dem Fernseher, aber nicht alle halten zu England …“) telefonisch in London.
wienlive: Wann waren Sie das erste Mal in Wien und wie haben Sie sich damals gefühlt?
Edmund de Waal: Das war vor 25 Jahren. Ich habe die Stadt nicht verstanden, war sogar ängstlich und irgendwie fremd. Das war ja lange bevor ich begonnen hatte „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ zu schreiben. Ich kannte einige Geschichten meines Großonkels Iggy in Japan und von meiner Großmutter, aber mein Vater wollte überhaupt nicht über seine Kindheit sprechen. Kurz: Wien war damals für mich ein sehr schwieriger und komplizierter Ort. Ich erinnere mich, dass ich vor unserem alten Familienhaus gestanden bin und ich mich sehr schlecht fühlte – so völlig von der Geschichte des Ortes ausgeschlossen. Ich traute mich auch gar nicht hineinzugehen.
Sie haben alle Ihre Netsuke dem Jüdischen Museum in Wien vermacht. Warum wollten Sie, dass sie in Wien bleiben?
De Waal: Wir haben in der Familie beschlossen, unser ganzes Archiv – also Papiere, Fotografien und Briefe – an das Jüdische Museum zu geben. Die Netsuke sind eine 10-jährige Leihgabe. Der Grund ist sehr einfach: Diese Figuren können sehr kraftvoll eine Geschichte über eine jüdische Familie in Wien erzählen. Ich liebe sie sehr und habe sie auch gerne bei mir, aber ich dachte, während der nächsten zehn Jahre könnten sie hier in Wien ihre Geschichten erzählen, was sie sicher wundervoll tun werden. Es ist also ein Statement.
Ihr Vater hat letztes Jahr die österreichische Staatsbürgerschaft bekommen. Warum war ihm das so wichtig?
De Waal: Er sagte sehr deutlich, dass er das für seinen Großvater tut, der als Flüchtling staatenlos starb, weil man ihm die österreichische Staatsbürgerschaft weggenommen hatte. Interessant ist, dass jetzt meine Brüder und auch ich um die Staatsbürgerschaft angesucht haben. Ich möchte Teil von Österreich sein – und zwar nicht nur symbolisch, sondern ich möchte wirklich mit diesem Land verbunden sein. Deshalb bedeutet mir auch die Einladung zu „Eine Stadt. Ein Buch.“ sehr viel.
„Der Hase mit den Bernsteinaugen“ war ein internationaler Hit. War das Buch in deutschsprachigen Ländern am erfolgreichsten?
De Waal: Ja, tatsächlich – ist das nicht außergewöhnlich? Einer der unglaublichsten
Momente in meinem Leben war, als ich 2010 anlässlich der Veröffentlichung des Buches eine Rede in Wien im Palais Ephrussi halten durfte. Die ersten beiden Besprechungen in Deutsch kamen heraus, ich fühlte, dass das Buch in der deutschsprachigen Welt gelesen und ernst genommen wurde. Absolut außergewöhnlich! Es ist für mich immer noch erstaunlich, dass eine Familiengeschichte eine so große Wirkung entfalten konnte.
Wer hat diesen genialen Buchtitel erfunden?
De Waal: Das war ich, aber wir hatten in der Familie eine lange Diskussion darüber.
Sie waren inzwischen schon oft in Wien. Gibt es etwas, worauf Sie sich besonders freuen, vielleicht ein Besuch in einem Kaffeehaus?
De Waal: Immer wenn ich in Wien bin, gehe ich sehr viel alleine herum – um mit meinem Vater, meiner Großmutter, meinem Großonkel in Verbindung zu treten, die zum Teil hier gelebt haben – das sind ganz private Orte. Aber natürlich bewege ich mich in Wien von einer Schale Kaffee zur nächsten. Schon bevor ich das Buch zu schreiben begonnen habe, war mein Verlangen nach Kaffee tief in mir verankert. Mein Vater, mein Großvater, mein Urgroßvater hatten alle ihre Lieblings-Kaffeehäuser. Ich werde von einem zum anderen gehen.