Der Waffenbesitz gehört zur DNA der USA – Paul Austers Essay „Bloodbath Nation“
Die Zahlen sind so ernüchternd wie in der politischen Debatte der USA wirkungslos: Die USA haben mehr Menschen im eigenen Land durch Schusswaffen verloren als sie Tote in allen ihren Kriegen – vom Unabhängigkeitskrieg angefangen – zu beklagen haben. Insgesamt kommen aktuell jedes Jahr fast 40.000 Menschen in den USA durch Schussverletzungen ums Leben, etwa genauso viele wie bei Autounfällen. Der bekannte Schriftsteller Paul Auster hat jetzt einen Essay zu diesem Thema veröffentlicht, wohl auch um sich selbst zu erklären, wie ein derartiger Wahnsinn möglich ist. Dabei beginnt Auster sehr persönlich. Er erzählt, wie das Abfeuern einer Waffe für ihn als Teenager nichts Besonderes war und er sogar – ohne Übung – ein Meister im Tontaubenschießen wurde. Freilich hatte er dann andere Interessen, Waffen gehörten für ihn nicht zum Alltag. Seine Familie hasste zudem Waffen. Erst sehr spät erfährt er den Grund dafür, nämlich dass in einer sehr verdrängten Familiengeschichte ein Revolver eine wichtige Rolle spielte. Seine Großmutter hat nämlich seinen Großvater im Affekt erschossen – damals, gleich nach dem 1. Weltkrieg, fand sie einen Richter, der sie aufgrund temporärer Unzurechnungsfähigkeit freisprach.
Auster gibt auch zu, dass er vielleicht anders denken würde, wenn er im Süden der USA aufgewachsen wäre, wo Waffenbesitz einfach zum Alltag gehört. Er erklärt, wie die USA aus einer Miliznation entstanden ist, wo die Bürger ihre Waffen stets griffbereit haben mussten. Bis zur Bürgerrechtsbewegung, als viele weiße Amerikaner sich vor „Black Power“ fürchteten, war die inzwischen berüchtigte Waffenlobbyvereinigung NRA ein kleiner Verein für Sportschützen. Die aller Vernunft spottende Bewaffnung der US-Staatsbürger – es gibt längst mehr Schusswaffen als Einwohner – ist also gar noch nicht so alt. Frustrierend Austers Einschätzung der Zukunft: Selbst wenn es einmal eine Regierung mit großer Mehrheit geben würde, die europäische Gesetze und Prämien für jene, die ihre Waffen abgeben, durchsetzen könnte – eine solche ist aber sowieso nicht in Sicht – würde alles ähnlich sinnlos sein wie das Verbot von Alkohol während der Prohibition, zumal man heute mittels 3D-Drucker einfach selbst Waffen herstellen kann.
Interessant ist Austers Schilderung des einzigen Falls, in dem ein Attentäter durch einen beherzten Mann mit einer Waffe gestoppt wurde – denn die NRA und ihre Anhänger behaupten ja immer, dass man Waffen brauche, um Amokläufern das Handwerk zu legen. Der damalige „Held“ war schwer geschockt, weil er auf Menschen schießen musste, der Attentäter flüchtete zunächst auch noch im Auto, ehe er sich schwer verwundet das Leben nahm. Und erhellend ist auch Austers Vergleich von Schusswaffen mit dem zweiten Heiligtum der USA, dem Auto. Denn beim Individualverkehr ist es durch strenge Gesetze und Auflagen nach und nach gelungen, die Todeszahlen drastisch zu senken. Sicherheitsgurte wurden etwa in den USA lange vor Europa Pflicht.
Ein wichtiges Buch – auch wenn man sich als Europäer natürlich nicht wirklich angesprochen fühlt und Auster keine Lösung dieses Problems für die USA zeigen kann.
Gespenstig sind die im Buch abgebildeten Fotos von Austers Schwiegersohn, des US-Fotografen Spencer Ostrander, der Schauplätze bekannter Waffengewalt-Massaker in den USA in Schwarz-Weiß fotografiert hat – menschenleere Supermärkte, Schulen, religiöse Einrichtungen, die nach den Tragödien geschlossen wurden.
Paul Auster: Bloodbath Nation
Mit Fotos von Spencer Ostrander
Aus dem Englischen von Werner Schmitz
Rowohlt
180 Seiten
€ 27,50