100 Jahre „Die Strudlhofstiege“ – der D-Day für Doderer als Matinee im Theater in der Josefstadt mit Franz Schuh und Martina Ebm am 21. September

Gleich im ersten Satz der Strudlhofstiege wird der Roman zeitlich festgelegt. Am 21. September 1925 wird Mary K von der Straßenbahn ein Bein abgefahren. Wie es dazu kommt, erfahren wir allerdings erst gegen Schluss. Man kann also die Strudlhofstiege als das Werk eines einzigen Tages bezeichnen – allerdings mit unzähligen Rückblenden und zahlreichen Metageschichten. Deshalb feiern wir seit 5 Jahren unseren D-Day für Doderer immer am 21. September. Und heuer eben mit dem Jubiläum 100 Jahre des Handlungstags der Strudlhofstiege. Am 21. September wird der bekannte Wiener Philosoph Franz Schuh mit wienlive-Herausgeber Helmut Schneider in den Sträuselsälen des Theaters in der Josefstadt über Doderer diskutieren. Die beliebte Josefstadt-Schauspielerin Martina Ebm wird einige Stellen aus der Strudlhofstiege lesen. Karten: josefstadt.org

Angeblich kannten die kleine Strudlhofstiege im Wien des Jahres 1951 – als der Roman erschien – nur die anwohnenden Alsergrunder. Der Verlag presste Doderer deshalb auch den Untertitel „Melzer und die Tiefe der Jahre“ ab, damit man das Buch verkaufen könne. Erst der Erfolg des Romans machte die 1910 eröffnete Fußverbindung im Stil des Jugendstils aus Mannersdorfer Kalkstein dann genauso berühmt wie ihren Verfasser. Wobei man sicher nicht falsch liegt, wenn man behauptet, dass sehr viele Heimito von Doderers „Die Strudlhofstiege“ nur dem Namen nach kennen. Die 900 Seiten, die der Wiener Schriftsteller seinen Lesern zumutet, haben es nämlich in sich. Wie bei vielen berühmten Werken der Literatur dürfte es zwei Lager geben, nämlich jene, die diesen Roman mit Innbrunst lieben und beim Lesen viel Spaß haben und jene, die ihn nach wenigen Seiten entnervt weglegen.

Das beginnt schon damit, dass sich der Inhalt des Romans kaum wiedergeben lässt, was den Autor sogar diebisch freute. „Ein Werk der Erzählungskunst ist es um so mehr, je weniger man durch eine Inhaltsangabe davon eine Vorstellung geben kann“, notierte er über seinen Roman. Dabei gehört es zum Faszinierendsten dieses Textes, dass „Die Strudlhofstiege“ auch sehr viele Ingredienzien von damaligen Kolportageromanen enthält – wir erleben eine Ehetragödie, die in Selbstmord endet, einen spektakulären Unfall, natürlich Liebesgeschichten & Sex, einen versuchten Schmuggel zwecks Zollbetrug, eine Frau, die es pikanterweise doppelt gibt und eine Bärenjagd.

Andererseits hat das Buch tatsächlich keine Hauptperson. Major Melzer, der im Untertitel genannt wird, ist über lange Strecken abwesend und Doderer verweigert ihm im Roman sogar einen Vornamen. Überhaupt scheint der Autor als Erzähler immer gegenwärtig und präsent. Er lässt uns quasi glauben, dass er die vielen Geschichten und Anekdoten von denen er berichtet, selbst von irgendwo erfahren hat und nur aufschreibt.

In fast kindischer Boshaftigkeit ist Doderer natürlich alles andere als politisch korrekt. Ja, er hält viele seiner Figuren – auch Melzer – für geradezu dumm oder zumindest unwissend. Nicht nur, aber gerade auch Frauen. Melzers spätere Frau Thea wird als Lämmchen beschrieben, das man auf die Weide stellen muss, wo sie dann ab und zu „Bäh“ machen darf. Andererseits finden gestandene Frauen gleich alle Männer als „dumm und umständlich“. Einmal regt der Erzähler gar Wörterbücher für Frauen und Wörterbücher für Männer an – samt Übersetzungshilfen, da die beiden Geschlechter ja pausenlos aneinander vorbeireden. Dann beschreibt Doderer wieder einen Mann als „Schlagetot … mit dem Mund eines Negers“. Fraglich, ob so ein Roman heute erscheinen könnte.

Doderer stößt schon auf der allerersten Seite des Buches etwas an, das er ganz am Ende auflöst, nämlich den Straßenbahnunfall der Mary K, bei der diese am 21. September 1925 ein Bein verliert und der zufällig vorbeikommende Melzer ihr durch im Krieg trainierte Schlagfertigkeit – er bindet ihr das Bein ab – das Leben rettet. Der ganze Roman ist auf dieses eine Ereignis hingeschrieben, wobei sich die Spannung aus der Frage ergibt, ob denn alles so zufällig geschehen ist. Denn Melzer hatte Mary K. vor 15 Jahren einen Heiratsantrag nicht gestellt. Ihrer beider Leben wäre dann – vermutlich ohne Unfall – anders verlaufen. Und just als Melzer 1925 Mary K. versorgt, ist seine spätere Frau Thea neben ihm und hilft. Doderer scheint in allen seinen Romanen vom Spannungsfeld zwischen Schicksal und Bestimmung geradezu besessen zu sein. Als Erzähler hält er die Fäden in der Hand, seine Figuren lässt er indes in Zufälligkeiten taumeln. Die Zwillingsschwestern werden zufällig von einer Frau entdeckt, die jemanden am Bahnhof abholt, ein Brief wird von der Falschen geöffnet und so weiter und so fort.

Seine Figuren gehören dem vermögendem Bürgertum sowie dem Kleinbürgertum an, Arbeiter, also Proletarier – 1925 sind wir immerhin mitten im „Roten Wien“ –  kommen in dem Roman keine vor. Und noch etwas ist bemerkenswert. Obwohl zwei Hauptakteure – Major Melzer als auch René von Stangeler – im 1. Weltkrieg an der vordersten Front waren, bleibt der Krieg seltsam ausgespart. Wir wissen nur, dass Melzers Lebensmensch – Major Laska, mit dem er auf Bärenjagd am Balkan war, – in den Armen Melzers stirbt. Auch die Wirtschaftskrise und die Inflation jener Zeit werden höchstens gestreift – nur einmal wird eine politische Mission zur Rettung der österreichischen Währung erwähnt. Alle beschriebenen Figuren scheinen von 1911 bis 1925 nur älter geworden zu sein, sonst hat sich in ihren Lebensumständen kaum etwas geändert. Dabei hat Doderer „Die Strudlhofstiege“ teilweise mitten im 2. Weltkrieg geschrieben, wo er als Reservist im Hinterland seinen Dienst ableistete und sogar zeitweise in Kriegsgefangenschaft geriet. Seine finanzielle Lage war ebenso prekär, als Schriftsteller als der er sich seit seiner russischen Gefangenschaft im 1. Weltkrieg sah, war er nahezu unbekannt und er war als 50jähriger noch von Zuwendungen seiner Mutter abhängig.

Wienroman oder Großstadtroman?

Doderers Roman ist voll mit genauen Ortsangaben, nicht nur die Strudlhofstiege als Schauplatz von teilweise dramatischen Szenen zieht sich durch das gesamte Werk, auch der Althanplatz (heute Julius-Tandler-Platz), wo sich der Unfall ereignet, die Porzellangasse, der Tennisplatz im Augarten, Graben und Kohlmarkt oder das damals noch biedermeierliche Lichtenthal-Viertel am Alsergrund werden immer wieder genannt. Und überall braust der Verkehr, namentlich die Straßenbahnen verbreiten gehörigen Lärm. Nun war Wien 1911 bekanntlich die sechstgrößte Stadt der Welt, aber spürt man das im Roman? Eher nicht, denn Menschenmassen lässt Doderer nicht zusammenkommen. Definiert man Großstadtroman als ein Werk, in dem die moderne Stadt sozusagen Mitspieler ist (genannt wird immer etwa Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“), wird man kaum fündig. Klar gibt es einen Genius Loci, nachgerade auf der Strudlhofstiege, und die Figuren haben unzweifelhaft etwas Wienerisches, was besonders deutlich wird, wenn Doderer etwa einen deutschen Major reden lässt. Sein Personal ist tief in der Kultur Wiens verwurzelt – seien sie nun ehemalige k.u.k.-Beamte oder sogar Angehörige der ungarischen Botschaft, weil sie eben einen Job brauchen und den zugehörigen Pass haben. Das Wien Doderers ist also nur in Ansätzen eine hektische Großstadt, man verbringt hier im Sommer – und „Die Strudlhofstiege“ spielt nur im Sommer, Wien „zerrinnt“ vor Hitze – die Tage gerne in den Bergen an der Rax oder an der Donau in Greifenstein und Kritzendorf.

Am 21. September, 11 Uhr, feiern wir im Theater in der Josefstadt Heimito von Doderer mit einem D-Day für Doderer.

Foto: (c) Heribert Corn / Zsolnay