Interview mit Michael Ludwig

Held? Meine Mutter


Bürgermeister Michael Ludwig über Echt Wien – von „Drahdiwaberl“ bis zu „Faschierte Laberln“, warum der soziale Zusammenhalt zu Wien gehört und warum ihm auf die Frage nach Wiener Helden sofort seine Mutter einfällt.
Text: Helmut Schneider / Fotos: Lukas Beck


Michael Ludwig ist in Neubau aufgewachsen, als dieser Bezirk noch finster und grau und voll mit alten Kleinstbetrieben war. Als er dann mit seiner alleinerziehenden Mutter nach Floridsdorf in eine Gemeindewohnung kam, konnte er zum ersten Mal „Licht, Luft und Sonne“ erleben – wie das Motto des Wohnbauprogramms des Roten Wien hieß. Nicht nur als Wiener Bürgermeister, sondern auch als studierter Historiker kennt er seine Stadt und seine Bewohner ganz genau.

wienlive: Fangen wir mit dem Wienerischen an. Was ist Ihr Lieblingsausdruck?
MICHAEL LUDWIG: Ich habe viele, es gibt ja auch so viele wunderbare Wiener Wortschöpfungen – von Drahdiwaberl bis Schmauswaberl. Das Wienerische kann in vielen Bereichen viel mehr ausdrücken als das Hochdeutsche.

Sie sind in Neubau aufgewachsen und dann nach Floridsdorf übersiedelt. War das sozusagen ein Kulturschock für einen Jugendlichen?
LUDWIG: Dazu muss man wissen, dass sich die Bezirke damals noch ganz anders dargestellt haben. Der 7. Bezirk meiner Kindheit war noch stark von Gewerbe und kleineren Industriebetrieben geprägt. Meine Mutter war Hilfsarbeiterin in einer Fabrik, die sich in einem Gründerzeithaus auf drei Stockwerken befunden hat. Dieser Betrieb ist mir sozusagen nach Floridsdorf nachgezogen und ist heute ein international agierendes erfolgreiches Unternehmen. Schon allein dadurch sieht man, dass sich in den Bezirken viel geändert hat. Der 21. Bezirk war lange Zeit landwirtschaftlich geprägt, hatte aber auch Großindustrie mit 2.000 Beschäftigten und mehr. Heute ist er ein sehr attraktiver Wohnbezirk. Beide Bezirke haben also eine sehr starke Wandlung erfahren. Es ist interessant zu sehen: Eine Großstadt wie Wien ist ein lebendiger Organismus, der einer ständigen Veränderung unterworfen ist.

Aber sprachlich haben sich die Bezirke mehr angeglichen, das berühmte Meid­linger „l“ stirbt aus, oder?
LUDWIG: Das ist wahrscheinlich den elektronischen Medien geschuldet. In meiner Kindheit war es noch etwas Besonderes, wenn eine Familie einen Fernseher hatte. Im Laufe der Jahrzehnte sind viele Sender dazugekommen und das wirkt sich auf den Sprachgebrauch aus. Aber erfreulicherweise gibt es eine starke Renaissance der Wiener Begriffe und ich freue mich, dass das Wienerlied in seiner traditionellen, aber auch vor allem in seiner modifizierten Form großen Anklang findet.

Was ist sozusagen die Essenz von Wien, das Echte?
LUDWIG: Ich glaube, dass sich Wien von anderen, gesichtslosen Metropolen sehr stark durch das Mitei­nander, durch die Art und Weise, wie die Wienerinnen und Wiener miteinander leben, unterscheidet. Die Wienerinnen und Wiener sind sehr fleißige Menschen – aber sie feiern auch gerne und finden viele Anlässe für Feste und Veranstaltungen. Es gibt eben nicht nur Heurige, sondern auch viele Zusammenkünfte mit Literatur oder Musik, beispielsweise in Kaffeehäusern – daneben viele Open-Air-Events. Die Wiener Bevölkerung arbeitet gerne, aber feiert auch gerne. Das ist typisch für das gesellschaftliche Klima in unserer Stadt.

Sehr wichtig für das Wiener Gemüt ist sicher auch das Essen. Was ist Ihr Lieblingsessen?
LUDWIG: Mir schmeckt eigentlich alles aus der Wiener Küche. Die Wiener Küche ist ja auch deshalb so beliebt, weil sie von den Vorspeisen über markante Hauptspeisen bis zum Dessert überall etwas bietet. Wien ist ja auch die ein­zige Stadt, nach der eine Küche benannt ist. Die Wienerinnen und Wiener essen nicht nur gerne, sondern auch gerne gut.

Was würden Sie spontan bestellen?
LUDWIG: Fleischlaberln mit Erdäpfelsalat und nachher Zwetschgenknödel oder Kaiser­schmarren oder eine dieser wunder­vollen Torten, die es in dieser Form nur in Wien gibt.

Sie kommen als Wiener Bürgermeister natürlich auch viel herum – fällt Ihnen eine mit Wien vergleichbare Stadt ein?
LUDWIG: Jede Stadt hat ihren Reiz, aber Wien ist schon eine ganz besondere Stadt, weil sie eine Verbindung ist von Metropole und gleichzeitig sehr kleinteiligen, kleinräumigen Grätzelstrukturen, in denen sich die Wienerinnen und Wiener zu Hause fühlen. Es soll ja Menschen geben, die einen Trennungsschmerz empfinden, wenn sie eine Bezirksgrenze überschreiten müssen. Wir sind eine sehr weltoffene, internationale Stadt und trotzdem eine Stadt, in der das Regionale eine sehr große Rolle spielt. Vierzehn Prozent der Grund­fläche werden etwa immer noch landwirtschaftlich genutzt, und als einzige Millionenstadt der Welt besitzen wir sogar einen attraktiven, hochqualita­tiven Weinbau.

Haben die Wiener – Stichwort „lieber Augustin“ – ein besonderes Talent, mit Krisen umzugehen?
LUDWIG: Ich denke schon, und das hängt damit zusammen, dass Wien im Zentrum Euro­pas im Laufe der Jahrhunderte viele Krisen überstehen musste, wir haben da eine gewisse Resilienz entwickelt. Und wir besitzen einen gesunden Zukunftsoptimismus – verbunden mit dem, was man Wiener Schmäh nennt. Wir nehmen manches augenzwinkernd zur Kenntnis und schauen, dass wir uns in einer solchen Situation behaupten können.

„Sudern“ gehört aber auch zu Wien …
LUDWIG: Kritik ist nur dann erlaubt, wenn sie aus den eigenen Reihen kommt. Kommt es zum Wien-Bashing von außen, rücken die Wienerinnen und Wiener zusammen – vor allem dann, wenn die Kritik ungerechtfertigt ist.

War das ein Problem in der Corona-Zeit?
LUDWIG: Ich habe als Wiener Bürger­meister immer großen Wert darauf gelegt, dass wir im Einvernehmen mit der Bundesregierung agieren, weil ich der Meinung bin, dass sich eine Krise diesen Ausmaßes nicht für parteipolitischen Hickhack eignet. Umso mehr waren wir enttäuscht, dass ab dem Zeitpunkt, als die Krise sich etwas abgeflacht hat, sofort wieder unqualifiziertes Wien-Bashing eingesetzt hat. Das hat die Wiener Bevölkerung nicht verdient und da melde ich mich als Bürgermeister auch lautstark zu Wort.

Das Spektrum von Wienern reicht quasi von Kreisky bis zum Mundl. Den typischen Wiener gibt es vielleicht gar nicht, oder?
LUDWIG: Das ist ja eben typisch für Wien, dass das Spek-trum zwischen so weit auseinanderliegenden Polen liegt – und Kreisky und Mundl haben ja bekanntlich auch mit viel Widerstand kämpfen müssen. Mir fällt da natürlich auch der „Herr Karl“ von Helmut Qualtinger oder der „Bockerer“ ein.

Wer war oder ist für Sie ein Wiener Held?
LUDWIG: Mir fällt da eher eine Heldin ein, nämlich meine Mutter, die sich als Hilfsarbeiterin und Alleinerzieherin in schwierigen Situationen behauptet hat – und das in einer Zeit, in der es noch viel schwerer war, Beruf und Familienleben unter einen Hut zu bringen. Es war nicht selbstverständlich, dass ich studieren durfte.

Abschließend: Was ist Ihrer Einschätzung nach Ihre größte Leistung bisher als Wiener Bürgermeister?
LUDWIG: Dass ich das Miteinander in der Stadt in den Vordergrund gerückt habe, weil ich denke, dass wir die großen Herausforderungen, die auf uns zukommen – nicht nur in der Corona-Zeit –, nur gemeinsam meistern können. In Wien leben natürlich viele unterschiedliche Kulturen miteinander. Klar gilt daher auch: keine Toleranz für Intolerante.