In Steinhof stellt man sich Fragen über das Leben – Thomas Sautners „Pavillon 44“

Ein Mann, der sich für Jesus hält und Gottvater sucht, eine Greisin, die klüger ist als der Primar, eine junge Wut-Patientin und Dimsch, der mit seinem verstorbenen Freund redet – im Pavillon 44 kommen nur die interessantesten Fälle des psychiatrischen Krankenhauses, denn Primarius Lobell hat schon lange „Narrenfreiheit“, weil er ein persönlicher Freund des Wiener Bürgermeisters ist. Dabei ist er selbst seit Jahren von Psychopharmaka abhängig. Als sich Jesus und Dimsch für einen Tag aus dem Krankenhaus verdrücken, droht das System zusammenzubrechen – zumal Lobell gerade an diesem Tag vom Bürgermeister in einem Beisl mit Wein abgefüllt wird.

In Thomas Sautners opulenten Roman „Pavillon 44“ wird Steinhof und eigentlich ganz Wien zu einem psychologischen Grenzfall. Der in Wien und Niederösterreich lebende Autor psychologisiert sogar den eigenen Stand, indem er eine Schriftstellerin dort einquartiert, die für ihre Arbeit recherchiert und die natürlich selbst bald professionelle Hilfe zu brauchen scheint.

Das ist alles sehr unterhaltsam, wenngleich nicht immer originell. Sautner scheint bisweilen selbstverliebt in seinen Erzählstil. Aber er geht auch sehr sorgfältig mit seinem Personal um. Sogar der Busfahrer, der die Ausreißer in die City bringt, wird von Sautner liebevoll porträtiert. Und bei der Diskussion was denn eigentlich normal und was psychisch krank ist kann sich der Autor voll entfalten. In langen Spaziergängen um die eindrucksvolle Kirche am Steinhof von Otto Wagner diskutieren der Primar und die Schriftstellerin über Gott und die Welt. Auch ein karrieresüchtiger junger Nebenbuhler von Lobell, der alles mit Psychopharmaka für heilbar hält, darf nicht fehlen. Ein quasi philosophischer Roman für einige vergnügliche Lesestunden.

Thomas Sautner liest am 8. Oktober, 19 Uhr, in der Buchhandlung Seeseiten in der Seestadt aus seinem Roman.


Thomas Sautner: Pavillon 44
Picus Verlag
458 Seiten
€ 27,-

Thomas Köcks „Chronik der laufenden Entgleisungen“ im Schauspielhaus Wien

Bild: ©Lex Karelly

Zwei Tage vor der Nationalratswahl hatte im Schauspielhaus ein Stück Premiere, das sich konkret mit der politischen Stimmung in Österreich beschäftigt. Das Schauspielhaus Graz und das Schauspielhaus Wien baten den 1986 in Oberösterreich geborenen Dramatiker Thomas Köck, literarisch auf die Innenpolitik des Landes zu reagieren. Herausgekommen ist mit „Chronik der laufenden Entgleisungen“ eine Art Tagebuch, in dem der Autor versuchte, das speziell Österreichische am globalen Rechtsruck zu reflektieren. Österreich als Avantgarde des Nazismus sollte man vielleicht unter UNO-Mandat stellen und Menschen, die hier einreisen wollen, klar vor den Gefahren warnen ist etwa eine seiner Überlegungen. Dabei beginnt Köck durchaus persönlich, indem er von seiner Biografie und seiner Familie aus Arbeitern berichtet. Seiner Mutter riet die Gymnasiallehrerin, ihn sofort von der Schule zu nehmen, weil der Bub einfach nicht in die bürgerliche Klasse passe. Überhaupt wundert sich der Autor durchaus zurecht, dass soziale Zugehörigkeit heutzutage nicht mehr wichtig ist. Die Arbeiterklasse scheint verschwunden, es gibt nur noch das anonyme Volk.

Die Regisseurin Marie Bues hat den Text geschickt in 6 Personen aufgespaltet. In rot-weiß-roten Adidas-Trainingsanzügen sind sie im „Haus Österreich“ immer in Bewegung, ein Kubus strukturiert den Raum, auf den mit Leinwänden umspannten Wänden können auch Bilder projiziert werden. Dazu gibt es rhythmisierte Live-Musik von Lila-Zoé Krauß, die selbst ab und zu Texte spricht. Otiti Engelhardt, Kaspar Locher, Sophia Löffler, Karola Niederhuber, Mervan Ürkmez und Tala Al-Deen agieren mit maximaler Präsenz. Ein starker Abend zwischen Rechtsradikalen-Polizeieinsätzen (natürlich in Oberösterreich) und der MacDonalds-Empfehlung des Kanzlers, der leider wenig Hoffnung auf einen Wahlausgang macht, der Österreich weiterbringen könnte.

Infos & Karten: schauspielhaus.at

Ein Familien- und Entwicklungsroman des Nobelpreisträgers aus Sansibar – Abdulrazak Gurnahs „Das versteinerte Herz“

Salim wächst in armen, aber stabilen Familienverhältnissen in Sansibar auf – er besucht die Schule und die Koranschule. Da verlässt plötzlich sein Vater das Haus ohne Erklärung, während sein Onkel Amir im Gefängnis ist und Salims schöne Mutter öfters nachmittags verschwindet. Niemand klärt Salim auf, was wirklich vor sich geht. Und das macht auch die Spannung dieses Romans aus. Erst am Ende, als die Mutter bereits gestorben ist, klärt Salims Vater – Baba –  auf.

Salim ist auch der Erzähler der Geschichte. Wir folgen ihm zu seinem Studium und seinem Leben in London, wo er auch puren Rassismus erleben muss. Ausgerechnet eine aus Indien stammende Frau nennt ihn vor der Salim liebenden Tochter einen „muslimischen Nigger“. Doch Salim findet in London auch viele Freunde – die meisten sind wie er Einwanderer aus allen Teilen der Welt.

Abdulrazak Gurnah, 1948 in Sansibar, das heute zu Tansania gehört, geboren, erhielt 2021 den Nobelpreis für Literatur. Zu diesem Zeitpunkt war keiner seiner fünf in die deutsche Sprache übersetzten Titel mehr im Buchhandel verfügbar. Gurnah ist ein großartiger Erzähler, der in einer schnörkellosen Sprache die Hoffnungen und Ängste seiner Protagonisten vermitteln kann. Er lebt wie Salim in England und war lange Zeit Professor an der Universität in Kent.

In „Das versteinerte Herz“ (2017 im Original erschienen) erfährt man viel über das Leben in Sansibar und das eines Migranten in London. In seiner Heimat herrschen korrupte Politiker, das Volk wird durch staatlichen Terror in Abhängigkeit gehalten. In London erlebt Salim die Zeit des Balkankriegs und 9/11 – Misstrauen überall. Aber der Roman ist trotz des drückenden Geheimnisses kein Buch der Trauer. Salim muss seinen Weg finden, er ist einsam, findet aber immer wieder auch Menschen, die ihn aufheitern. Am Ende korrespondiert die Familiengeschichte mit Shakespeares „Maß um Maß“, in dem eine junge Frau ihren geliebten Bruder retten will und mit dem Mann schlafen soll, der ihn zum Tode verurteilt hat. Es geht um Schande und Liebe, Opfer und Enttäuschung – große Literatur!


Abdulrazak Gurnah: Das versteinerte Herz
Aus dem Englischen von Eva Bonné
Penguin Verlag
364 Seiten
€ 27,50

Molières „Der eingebildete Kranke“ im Akademietheater

Burgtheaterdirektor Stefan Bachmann brachte aus Köln seine bejubelte Neufassung von Molières „Der eingebildete Kranke“ (durch Plinio Bachmann und die Dramaturgin Barbara Sommer) mit und adaptierte sie für das Akademietheater. Da Regina Fritsch erkrankt war, musste Rosa Enskat einspringen, die schon in Köln die Titelrolle gespielt hatte. Und überhaupt sind fast alle Figuren konträr zu ihrem Geschlecht besetzt. Das bringt diesmal aber sogar besonderen Witz ins extrem kurzweilige Spiel (ein wehleidiger Mann wäre wohl ja gar zu realistisch…). In nur 100 Minuten erleben wir einen Molière in aktueller Sprache – ja eher in Parodie derselben, denn Bachmann bringt an dem Abend jede Menge Seitenhiebe auf heutige Modetrends wie politisch korrekte Sprechweise, auf Wissenschaftsgläubigkeit und Esoterikklimbim sowie sogar auf das Patriachat unter. Als die Produktion 2022 gespielt wurde, war Corona noch nicht verklungen, die harsche Kritik an der geldgierigen Ärzteschaft, die in diesem Stück angelegt ist, also nochmals brisanter. Aber wieder einmal erweist sich Molières Satire als zeitlos. Und das wunderbare Ensemble (Paul Basonga, Lola Klamroth, Melanie Kretschmann, Barbara Petritsch, Justus Maier, Tilman Tuppy und Ernest Allan Hausmann) weiß die Pointen zu setzen. Dafür braucht man fast kein Bühnenbild, eine Chaiselongue und einen Kübel zur Entleerung von Argans Darm, reichen. Dabei geigt allerdings – das darf auch nicht vergessen werden – eine auf Tod geschminkte Spielerin nachdenklich machende Musik.

Infos & Karten: burgtheater.at

„Liebes Arschloch“ von Virginie Despentes im Volkstheater

Bild: ©Marcel Urlaub

Ich muss zugeben, Virginie Despentes Roman „Liebes Arschloch“ habe ich im Vorjahr nach wenigen Seiten wieder weggelegt. Warum ein Buch über einen Aufreger in den Sozialen Netzen lesen – so plump sollte Literatur nicht sein. Jetzt also auf der großen Bühne. Der deutsche Regisseur Stephan Kimmig breitet die Vorwürfe und persönlichen Tragödien von nur drei Beteiligten – einen zu Selbstmitleid verkommenen Literaten, eine in die Jahre gekommene Schauspielerin und eine wütende junge Feministin – auf fast drei Stunden (mit Pause) aus. Das macht er teilweise auch sehr unterhaltend – vor allem weil die drei Darsteller – Birgit Unterweger als Diva, Paul Grill als sie anfangs beleidigender Schriftsteller und Irem Gökçen als seine Verlagsassistentin, die sich vor Jahren seiner sexuellen Belästigungen fast nicht erwehren konnte. Mit der Zeit ist es aber dann doch wie immer in den Sozialen Medien – es wird trotz der vielen Themen, die durchs Dorf getrieben werden – #metoo, Corona, Feminismus, Patriarchat, Hass im Netz und Alkohol- und Drogenmissbrauch – schnell langweilig. Dazu die üblichen Ingredienzien heutiger Inszenierungen. Es wird live auf die Leinwand übertragen, dazu viel – gute – Pop-Musik und die Drehbühne lässt munter zwischen den angedeuteten Wohnungen der Schauspielerin und des Literaten wechseln. Manchmal kommen sich die beiden sogar näher und tanzen zaghaft miteinander, man weiß freilich, dass sie sich nur schreiben, wenngleich gerade in diesen Szenen ihre große Einsamkeit spürbar wird. Aber vielleicht ist das ja das Problem heute: wir haben uns viel zu sagen, sprechen aber nicht mehr direkt miteinander.

Infos & Karten: volkstheater.at

Aufwachsen in Wien und München – Ljuba Arnautovićs bewegender Roman „Erste Töchter“

Der Vater gehörte zu jenen Unglücklichen, die nach der Zerschlagung der Demokratie durch die Austrofaschisten unter Dollfuß aus Wien nach Moskau geflohen waren, um dort in die Fänge des Diktators Stalin zu geraten. Karl wandert in den Gulag und kommt erst 1953 nach Wien zurück. Mit einer russischen Frau und de facto heimatlos, denn auch Deutsch spricht er nur noch schlecht. Dafür findet er immer wieder junge Frauen, die ihn heiraten. Die beiden Töchter parkt er zwischendurch in Waisenheimen – das scheint nicht nur heute ziemlich grausam. Und diesen beiden Töchtern – Lara und Lund – widmet Ljuba Arnautović, 1954 in Kursk geboren und seit 1987 in Wien lebend, im dritten Teil ihrer autobiografisch geprägten Trilogie ihr Hauptaugenmerk. Die Jüngere wächst in Wien auf, die Ältere gutbürgerlich in München. Die Jüngere wäre fast am Praterstrich verkommen, die Ältere wird von der Alternativszene geprägt. Sie bleiben aber mittels Briefe miteinander verbunden und finden als Erwachsene wieder zueinander. Arnautović erzählt eher nüchtern, wenngleich nicht chronologisch – die Ereignisse sprechen aber auch für sich. Nur ein schmaler Roman, aber trotzdem können wir die schwierigen Verhältnisse, in denen die Figuren – etwa auch Karls erste russische Frau in Wien – gut nachempfinden. Ein berührendes Buch. 


Ljuba Arnautović: Erste Töchter
Zsolnay
160 Seiten
€ 24,50

Klassiker des Feminismus im Akademietheater

©Lalo Jodlbauer

Virginia Woolfs Roman „Orlando“, 1928 erschienen, ist quasi die Wiederentdeckung der schon in der Antike stark diskutierten Thematik vom natürlichen und gesellschaftlichen Geschlecht. Damals gab es die heute fast schon gebräuchlichen Begriffe „Non Binary“ oder „genderfluid“ natürlich noch nicht. Aber der Roman ist zu einem der wichtigsten literarischen Werke des Feminismus geworden, denn mitten in der Erzählung vom nicht alternden Jüngling Orlando, die sich vom 16. Jahrhundert bis zur Woolfs Gegenwart erstreckt, wird der Held zur Heldin und erlebt, wie sich weniger in ihm als in seiner Person in der Gesellschaft alles ändert. Es gibt zahlreiche Adaptionen, einen erfolgreichen Film von Sally Potter und eine Oper von Olga Neuwirth.

Im Akademietheater lässt die schwedischen Regisseurin Therese Willstedt in der Bühnenfassung von Tom Silkeberg Orlando von 7 Darstellerinnen und Darstellern spielen. Das bringt witzige Szenen, in denen die Figuren sich sozusagen selbst kommentieren und verschiedene Aspekte ihres langen Lebens einbringen. Der Schock, als Orlando sich plötzlich als Frau erlebt, wird dadurch aber natürlich verkleinert. Elisabeth Augustin, Markus Meyer, Seán McDonagh, Stefanie Dvorak, Nina Siewert, Martin Schwab und Itay Tiran zeigen große Spielfreude, das Premierenpublikum dankt ihnen auch mit viel Applaus. Eine Zwei-Stunden-Fassung eines großartigen Prosawerkes, das man aber vielleicht doch lieber lesen sollte. Wann ist den Theatern eigentlich der Mut, genuin neue, für die Bühne geschriebene Werke, zu spielen abhanden gekommen?

Infos & Karten: burgtheater.at

Hamlet ist viele – Saisonstart an der Burg

©Lalo Jodlbauer

Mit „Hamlet“ in der Regie von Karin Henkel begann die neue Burgtheater-Ära unter Intendant Stefan Bachmann. Die Regisseurin hat dabei den Prinzen von Dänemark in 5 Figuren (2 Frauen, 3 Männer) aufgespalten, wobei jede Figur einen der vielen Charaktere Hamlets widerspiegelt – von draufgängerisch bis zu zögerlich abwartend und nachdenklich. Marie-Luise Stockinger, Katharina Lorenz, Tim Werths, Benny Claessens und Alexander Angeletta liefern das adäquat ab. Gleich zu Beginn stimmt Karin Henkel den Abend komödiantischer an, als man dieses vielleicht berühmteste aller Dramen erwarten würde. Ein riesiges Ensemble an Geistern mit weißen Leintüchern soll Hamlet zur Rache an den Vater bewegen, der Mörder Claudius gibt unvermutet Regieanweisungen. Und so chargiert diese Inszenierung fast 3 Stunden lang (inklusiver Pause) zwischen Dramatik und Klamauk. Hamlets Mutter Gertrud (Kate Strong) verfällt immer wieder ins Englische, niemand weiß warum. Michael Maertens als Brudermörder bringt den ihm eigenen Komödienton ein und appelliert immer wieder an die Vernunft. Dass die Hamlets auch alle anderen Figuren spielen, passt da gut in das Gesamtbild. Ein sicher kurzweiliger Abend mit etwas wenig Shakespeare und einer Prise Heiner Müller („Die Hamletmaschine“) als Botschaft von einer immer komplizierter werdenden Welt. Dass die finale Degenszene und somit das große Morden nur nacherzählt werden, enttäuscht dann aber doch.

Infos & Karten: burgtheater.at

Die Zeit anhalten – Kino auf der Bühne bei „Bullet Time“ am Volkstheater

©Marcel Urlaub

Ein Western am Theater? Warum nicht – Alexander Kerlin hat ein Stück über „Die Geburt des Kinos aus dem Geiste eines Mörders“ geschrieben, konkret geht es um den Fotografen Eadweard Muybridge, der im Auftrag des amerikanischen Eisenbahn-Milliardärs Stanford dessen schnelles Lieblingspferd Occident beim Galopp ablichten soll – und zwar so, dass geklärt werden kann, ob es einen Augenblick gibt, in dem das Pferd nicht mehr den Boden berührt. Das war im 19. Jahrhundert freilich ein technisches Problem, Verschluss und Fixierungsmaterial mussten erst entwickelt werden. Doch Muybridge wurde auch zum Mörder seines Nebenbuhlers, mit dem sich seine Frau in den langen Zeiten seiner Abwesenheit getröstet hatte. Die Gerichtsverhandlung in dessen Verlauf Muybridge freigesprochen wird, bildet die Klammer des Abends.

VT-Chef Kai Voges lädt uns in seinem Theater dabei zu einem Filmabend, eine riesige Leinwand beherrscht die Bühne, mehrere Kameras liefern Live-Bilder von den auf der Bühne gespielten Szenen. Das in historisch inspirierten Kostümen tapfer agierende Ensemble (Frank Genser, Lavinia Nowak, Anke Zillich, Evi Kehrstephan, Fabian Reichenbach, Uwe Rohbeck, Elias Eilinghoff, Uwe Schmieder, Claudia Sabitzer, Christoph Schüchner) wird zur Filmcrew. Oft sieht man sie gar nicht mehr, weil die Kameras sie verdecken.

Der Abend bietet gute Unterhaltung. Es ist natürlich witzig zu erfahren, dass man den ersten Zeitlupe-Bildern des galoppierenden Pferdes nicht traute und nach Betrug rief, während heute Fake News mit manipulierten Bildern fast schon die Regel sind. Der Regisseur scheint von der Fülle an Bezügen zu heute allerdings geradezu berauscht, das Finale gerät unnötigerweise allzu pathetisch.

Infos & Karten: volkstheater.at

Rauf und runter, schwarz und weiß – Colson Whiteheads Debütroman

Colson Whiteheads Debütroman „Die Intuitionistin“ über eine Fahrstuhlinspektorin in neuer Übersetzung.

Als 1999 der Debütroman von Colson Whitehead erschien, ahnte natürlich noch niemand, dass aus dem New Yorker ein vielbeachteter Bestsellerautor werden würde. Sein Vater – verriet er mir bei einem Interview in Wien – schlug die Hände zusammen, weil sein bestens ausgebildeter  (Harvard) Sohn, Schriftsteller werden wollte. Colson Whitehead ist zwar schwarz, aber entstammt der oberen Mittelschicht – sein Vater verdiente gut an der Börse. Glücklicherweise blieb Whitehead bei seiner Berufswahl und seit „The Underground Railroad“ gehört der 1969 Geborene zu den US-Bestsellerautoren. Dass Hanser jetzt diesen Erstling, der ursprünglich auf Deutsch bei Hoffmann und Campe erschienen ist, jetzt neu übersetzen ließ, erweist sich als ein Glücksfall. Denn 2024 liest man diesen vielschichtigen Roman anders als vor der Jahrtausendwende.

„The Intuitionist“ weist noch Elemente des postmodernen Romans auf, in seinen Themen ist er allerdings brandaktuell. Wir sind in einer sehr großen Stadt in den USA, die nicht genannt wird und in einer Zeit, als es noch keine Handys gab. Auch fotografiert wird noch analog, wahrscheinlich sind wir gar erst in den 50er-Jahren. Es geht um den Kampf zwischen zwei Richtungen innerhalb der Fahrstuhlinspektoren, den Empirikern und den Intuitionalisten. Erstere prüfen brav Motor, Aufhängung und Sicherheitseinrichtungen, zweitere führen eine Art Zwiegespräch mit dem Fahrstuhl, lauschen auf die Geräusche beim Anfahren und Bremsen und haben damit eine um 10 Prozent bessere Quote beim Aufspüren von Mängeln. Trotzdem gelten sie als Spinner und sind geächtet. Wer denkt da heute nicht an die Gläubigen der reinen Wissenschaft und die Anhänger alternativer Medizin. Lila Mae gehört den Intiutionalisten an und sie ist nicht nur die allererste weibliche Inspektorin, sondern auch noch schwarz. In der rassistischen Matschowelt hat sie daher einen doppelt schweren Stand – da nützt es nichts, dass sie bei der Arbeit keine Fehler macht und auch sonst nur durch Leistung auffällt.

Da stürzt just ein Lift in einem Regierungsgebäude, den sie kurz vorher inspiziert hatte, in die Tiefe. Etwas, das es nicht geben dürfte. Noch dazu ist gerade Wahlkampf für den Vorsitz der Inspektorengilde und der Fauxpas einer Intuitionistin kommt den überheblichen Empirikern gerade Recht. Die Intuitionisten sind indes schon lange auf der Suche nach den letzten Notizen ihres verstorbenen, legendenumwogten Theoretikers, der vor seinem Tod einen Fahrstuhl ganz ohne Mechanik entwickelt haben soll. Lila Mae sucht nach diesen Aufzeichnungen, zumal sie in den Schriften erwähnt sein soll. Spätestens hier ist der Roman mit seinen vielen Wendungen – Hausdurchsuchungen, Gefangennahmen, sogar Folter – zum Krimi geworden. Und man merkt bei jeder Zeile, dass Whitehead viel Spaß daran hatte, seine Leser rätseln zu lassen. Am Ende gibt es noch eine gute Pointe.


Colson Whitehead: Die Intuitionistin
Aus dem Englischen von Henning Ahrens
Hanser
272 Seiten
€ 26,80