„Uns zusammen halten“ von Mirthe van Doornik – oder vom Aufwachsen in prekärer Lage & zwei Schwestern in den Niederlanden. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.
Am Beginn des Romans ist Kine 11 und Nico 15 und die kleine Schwester bewundert die größere, die cooler ist und Menschen mit Blicken töten kann. Am Ende taumelt Nico nach den Anschlägen von Nine Eleven aus purer Angst vor Gefahren und Unglücksfällen durch ihr Leben, während Kine zu studieren beginnt und im Job erfolgreich ist. Dazwischen das Drama eines Aufwachsens in höchst schwierigen Verhältnissen in einem Sozialghetto mit einer alkoholkranken Mutter, die bis zuletzt das Bild einer intakten Familie aufrecht erhalten will. Tageweise gibt es nur Nudeln mit Ketchup, manchmal ist gar nichts Essbares da, wenn das Geld nur noch für die Weinflaschen reicht, die die Mutter bis zum Abend braucht. Der Vater lebt längst woanders und kann nur sporadisch aushelfen.
Mirthe van Doornik arbeitet als Dokumentarfilmerin, der Roman „uns zusammenhalten“ ist ihr autobiografisch gefärbtes Debüt und ein Buch, das von Beginn an berührt. Doornik erzählt die Geschichte abwechselnd aus der Perspektive von Kine und Nico und trotz der vielen sozialen Katastrophen mit einem lakonischen Humor. Es wird klar was es heißt, nicht am allgegenwärtigen Wohlstand in einem der reichsten Ländern Europas teilhaben zu können – etwa mit aus den Sammelstellen für die Dritte Welt aufgeklaubten Kleidern in die Schule zu gehen oder im Supermarkt klauen zu müssen. Mutter Nina versucht immer wieder ihren Kindern auch etwas zu bieten. Sie gewinnen bei einem Bastel-Wettbewerb den Besuch im Disneyland oder machen einen Ausflug zu einer Hippiekolonie in Amsterdam. Zeitweise lebt ein Indianerfan in einem Tipi im Wohnzimmer bei ihnen. Aber die Tücken des Alltags holen sie immer wieder ein – Armut ist eine große Herausforderung und purer Stress.
Nach der emotionalen Stärke der Geschichte und der gelungenen erzählerischen Umsetzung müsste „uns zusammenhalten“ ein Bestseller werden.
https://wienlive.at/wp-content/uploads/2021/03/Bildschirmfoto-2020-04-15-um-14.31.27-1-300x138.png00Helmut Schneiderhttps://wienlive.at/wp-content/uploads/2021/03/Bildschirmfoto-2020-04-15-um-14.31.27-1-300x138.pngHelmut Schneider2022-02-11 16:18:232022-02-12 11:31:15Buchtipp: Uns zusammen halten, Mirthe van Doornik
Musik-Streaming – Wie sich meine Hörgewohnheiten nach einem halben Jahr veränderten. Text: Helmut Schneider
1976 gründete Richard Branson seinen ersten Plattenladen in der Londoner Oxford Street. In den 90er-Jahren – am Höhepunkt der CD-Welle – gab es in hunderten Ländern Virgin Megastores mit einem breiten Angebot an Musikträgern, auch in Wien existierte bis 2004 ein komfortabler Laden in der Mariahilfer Straße. Heute sind nur noch Reste des Megastore-Imperiums übrig, bekanntlich verdient der britische Milliardär und Abenteurer sein Geld heute unter anderem mit Weltraumtouristen. Denn wer Musik hören will, bedient sich jetzt meist eines Steamingdienstes.
Lange Zeit dachte ich, das wäre nichts für mich – vor allem weil ich der Qualität der Wiedergabe misstraute. Seit einem halben Jahr bediene ich mich nun eines Netzwerkplayers von NAD und eines Abos des angeblich hochwertigsten Musikstreaminganbieters Tidal. Das kostet bei Master-Qualität 20 Euro im Monat – aber sonst würde ich mich wohl jeden Tag fragen, warum ich mir in den Jahren eine hochwertige LINN-Anlage mit B&W-Boxen angeschafft habe. Wahrscheinlich werde ich nie wieder CDs kaufen, denn die Streaming-Qualität ist wirklich beachtlich. Bei Schallplatten sieht die Sache allerdings anders aus. Da schätze ich nach wie vor den „wärmeren“ Sound von Pressungen – vor allem von jenen vor dem Beginn der Digitalisierungswelle – ich kaufe daher fast ausschließlich gebrauchte Platten.
Was sich am meisten geändert hat, sind allerdings meine Hörgewohnheiten. Ich mag beispielsweise Filmmusik. Der amerikanische Komponist Bernard Herrmann (1911-1975) ist für mich in diesem Bereich der Maßstab, kaum jemand kommt an ihn, der die großen Hitchcock-Erfolge oder Scorseses „Taxi Driver“ komponierte, heran. Ein Genre, das wohl nicht so viele Menschen schätzen, denn nicht alles ist auf CD lieferbar oder kostet viel Geld. Auf Tidal steht nun wirklich viel von ihm auf Abruf bereit. Zum Vergleich schaue man sich auch an, wie wenig vom zurzeit wohl besten Filmkomponisten Thomas Newman auf CD oder Vinyl bei Amazon oder jpc.de angeboten wird. Mein Lieblingsscore „Angels in America“ ist überhaupt nicht verfügbar, auf Tidal aber sehr wohl.
Das „auf Abruf“ ist für mich übrigens auch nicht unwichtig, denn wer viele CDs besitzt (und nicht sehr ordentlich ist), findet das Gesuchte nicht immer gleich. Aber natürlich: kein Vorteil, wo nicht auch ein kleiner Nachteil wäre. Dadurch, dass man mit einem Antippen sofort zum nächsten Titel springen kann, muss man sich zur Geduld, die nötig ist, um ein größeres Werk zu genießen, verpflichten. Deshalb habe ich mit ein paar Ausnahmen auch weniger Klassik als sonst gehört. Natürlich nahm ich mir vor, die verschiedenen Interpretationen eines Lieblingsstück wie etwa Monteverdis Marienvesper zu vergleichen – was jetzt problemlos möglich wäre – aber irgendwie kam es bislang nicht dazu. Dafür lief etwa das neue Album von Igor Levit (On DSCH) in Dauerschleife. Auch das Jazzrepertoire ist wirklich beachtlich, da werden sich wohl nur echte Nerds beschweren können.
Wie alle Streamingdienste arbeitet natürlich auch Tidal mit Algorithmen, das heißt die wissen genau, was ich wie lange höre und schlagen mir Ähnliches vor. Was mir aber oft wirkliche Entdeckungen beschert. Gut sind auch die Funktionen wie Liedtexte zum Mitlesen oder diverse Kurzbios der Künstler. Jetzt weiß ich etwa, dass der Filmkomponist Jonny Greenwood (grad auf Netflix zu sehen ist „The Power of the Dog“) Multiinstrumentalist bei „Radiohead“ ist. Herrlich ist es aber auch im Frühwerk späterer Berühmtheiten zu stöbern, wo vieles noch wunderbar direkt oder verspielt ist. Und gut ist auch die Funktion Download von Alben, denn so lässt sich – ohne eine große Telefonrechnung zu produzieren – im Schwimmbad auf dem iphone Musik hören.
Mein Fazit: Wer wirklich viel Musik hört, für den zahlt sich das teure Abo aus, wer aber nicht so eine hohe Qualität braucht, kommt auch mit günstigeren Diensten aus.
https://wienlive.at/wp-content/uploads/2021/03/Bildschirmfoto-2020-04-15-um-14.31.27-1-300x138.png00wienlive Redaktionhttps://wienlive.at/wp-content/uploads/2021/03/Bildschirmfoto-2020-04-15-um-14.31.27-1-300x138.pngwienlive Redaktion2022-02-03 14:50:052022-02-03 14:50:08Ein halbes Jahr Musik
Elfriede Jelineks „Rechnitz (Der Würgeengel)“ im Theater in der Josefstadt. Text: Helmut Schneider / Foto: Philine Hofmann
Als man die Geschütze der Roten Armee schon hören konnte, feierte Gräfin Margit von Batthyány mit lokaler NS-Prominenz auf ihrem burgenländischen Schloss in Rechnitz noch ein orgiastisches Fest. Als krönenden Abschluss wurden dabei 180 ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter erschossen und verscharrt. Das Massengrab ist bis heute nicht gefunden. Nach dem Krieg setzte bekanntlich das Verdrängen ein. Erst viel später haben sich Historiker ausführlich mit diesem zynisch-schaurigen Massenmord der Nazis beschäftigt. Da waren die meisten Zeitzeugen im Ort schon tot.
Elfriede Jelinek hat aus diesem historischen Grauen ihr Stück „Rechnitz (Der Würgeengel)“ gemacht, das 2008 uraufgeführt wurde. Die deutsche Regisseurin Anna Bergmann hat es jetzt sehr effektvoll und stimmig im Theater in der Josefstadt inszeniert. Jelineks Text wird dabei kunstvoll überhöht – fast hat man den Eindruck, einer Oper beizuwohnen. Die Drehbühne wird dabei zum Mitspieler. Sona MacDonald hinterlässt im festlichen neongrünen Abendkleid als Gräfin einen gespenstigen Eindruck, zumal im Hintergrund gerade ein Massengrab geschaufelt wird. Auch das übrige Ensemble ist überzeugend. Ein gelungener Abend in der Josefstadt.
Kopenhagen, Indien, Korea und Schweden – Eva Tind geht in ihrem Roman auf die Suche nach dem „Ursprung“. Text: Helmut Schneider
Die 1974 geborene dänische Autorin Eva Tind ist in ihrer Heimat bereits ein Star, aber erst jetzt erscheint ein erster Roman von ihr auf Deutsch. In „Ursprung“ geht es um eine Kernfamilie, die allerdings die meiste Zeit getrennt voneinander lebt. Die international gefeierte Künstlerin Miriam hat Kai nach der Geburt der gemeinsamen Tochter Sui verlassen, weil sie ihre Karriere nicht behindern wollte. Kai ist Architekt in Kopenhagen und stürzt in eine Krise als ihn Tochter Sui mit nur 18 Jahren verlässt, um fortan für die Kunst zu leben. Kai fährt daraufhin zu einer alternativen Gemeinschaft nach Indien und wird dort eine Art Wunderheiler. Sui besucht ihre inzwischen alte Mutter, die in einem einsamen Waldgebiet in Schweden nur noch an ihrem Mausoleum – ein von einer unüberwindbaren Mauer umgebener Kreis – arbeitet. Anfreunden können sich die beiden aber nicht und so will Sui ihre Großeltern in Korea kennenlernen und gerät unvermutet auf die kleine Insel Marado, wo die Frauen das Sagen haben, weil sie als Perlenfischerinnen steuerfrei arbeiten können.
Die hier nur grob angerissene Handlung klingt reichlich konstruiert, aber Eva Tind schafft es, die Geschichte – trotz einiger Anleihen aus der Kolportage – doch recht plausibel zu präsentieren. Vor allem weil sie jedes Kapitel von einem der drei Hauptpersonen erzählen lässt. Und dass sich in einem Roman ordentlich was tut, ist ja auch kein Fehler. Das Thema wird dabei schon im Titel, der auch im Dänischen Ursprung heißt, angerissen. Irgendwann muss sich wohl jeder seiner Herkunft stellen. Tind macht das mit viel literarischem Geschick, es ist ein Vergnügen diesen Roman zu lesen, zumal man dabei als Leser viel herumkommt. Und am Ende stehen – wie bei jedem guten Roman – mehr Fragen als Antworten.
Eva Tind: Ursprung Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein Mare Verlag 320 Seiten € 25,70
https://wienlive.at/wp-content/uploads/2021/03/Bildschirmfoto-2020-04-15-um-14.31.27-1-300x138.png00Helmut Schneiderhttps://wienlive.at/wp-content/uploads/2021/03/Bildschirmfoto-2020-04-15-um-14.31.27-1-300x138.pngHelmut Schneider2022-02-03 14:22:292022-02-03 14:22:53Buchtipp – Eva Tind, Ursprung
„The Piper at the Gates of Dawn“ – das erste Studioalbum von Pink Floyd – zählt zu den wegweisenden Produktionen des Psychedelic Rock. Wer sich für die Pop- und Rockmusik der 1960er Jahre interessiert, sollte sich dieses Meisterwerk nicht entgehen lassen. Text: Andreas Cavar / Foto: Getty Images
Es muss wild zugegangen sein damals im Londoner UFO Club. Auch wenn der Klub nur zwischen 1967 und 1977 existierte, genoss er einen legendären Ruf. Hier traf sich jedes Wochenende die Underground-Szene der Metropole, um zu feiern und – nicht selten unter Drogeneinfluss – experimentelle Musik zu hören. Zu einer Art Hausband des Klubs entwickelte sich eine damals noch weitgehend unbekannte Band rund um den Musiker Syd Barrett namens Pink Floyd.
Menschen, die zum ersten Mal die frühen Aufnahmen von Pink Floyd hören, können sich nur wundern, wie sehr sich die Musik vom Sound späterer Jahre unterscheidet. Keine Spur von bombastisch inszenierten und bis ins kleinste Detail ausgefeilten Konzeptalben wie „The Wall“ oder von achtminütigen Gitarrensoli David Gilmours (der war damals noch gar nicht in der Band). Der Sound der frühen Jahre war vor allem von einer Person geprägt: Syd Barrett. Gemeinsam mit seinem Schulfreund Roger Waters hatte er die Band gegründet und komponierte zu Beginn so gut wie alle Songs. In der britischen Undergroundszene machte sich die Band schnell einen Namen. Die psychodelischen Klänge und abgedrehten Texte unterschieden sich deutlich von jener Musik, die zu dieser Zeit im Radio zu hören war und muss auch ganz ohne Drogeneinfluss wie von einer anderen Welt gewirkt haben. Kombiniert wurde der Sound mit ausgefallenen Lichteffekten – ebenfalls ein Novum in der damaligen Zeit.
Im März 1967 veröffentlichte die Band mit „Arnold Layne“ ihre erste Single. Schon hier zeigt sich, dass Barrett mit seinen Kompositionen einen völlig anderen Ansatz verfolgte als die meisten populären Bands dieser Zeit. Deren Songs drehten sich fast ausschließlich um das Thema Liebe – in „Arnold Layne“ beschreibt Barrett hingegen einen Fetischisten, der Nachts durch Wohngegenden schleicht, um Frauenkleidung von Wäscheleinen zu entwenden. Für das Lied wurde sogar eines der ersten Musikvideos überhaupt gedreht. Der Song erreichte immerhin die Top-20 der britischen Charts. Der ganz große Erfolg blieb aber wohl auch aufgrund der für damalige Verhältnisse heiklen Thematik aus. Der legendäre Sender Radio London weigerte sich sogar, den Song abzuspielen.
Von Februar bis Juni begab sich die Band in die legendären Londoner Abbey Road Studios, um ihr erstes Album „The Piper at the Gates of Dawn“ aufzunehmen. Das Werk zählt zu meinen absoluten Lieblingsalben und sei allen ans Herz gelegt, die sich für die Musik der 1960er Jahre interessieren. Fun fact: Zur gleichen Zeit nahmen die Beatles ebendort ihr legendäres Album „Sgt. Pepper“ auf, das ich schon an anderer Stelle erwähnt habe. Über die Frage, ob und wie stark sich die beiden Bands beeinflussten, kann nur spekuliert werden. Die Erinnerungen der Beteiligten gehen jedenfalls stark auseinander. Keyboarder Richard Wright erzählte in Interviews, dass es durchaus einen Austausch gab und man sich sogar gegenseitig Material vorspielte. Laut Bassist Roger Waters blieb die Beziehung zwischen den beiden Studionachbarn hingegen eher kühl – man wollte sich eben nicht in die Karten schauen lassen.
„Kindermärchen auf LSD“ ist so ziemlich die beste Beschreibung, die ich einmal über das Album gelesen habe. Schon der Titel bezieht sich auf Kenneth Grahames Kinderbuchklassiker „Der Wind in den Weiden“, dessen siebtes Kapitel die Überschrift „The Piper at the Gates of Dawn” („Der Pfeifer an den Toren der Morgendämmerung“) trägt. Grundsätzlich lassen sich die Songs in zwei Kategorien einteilen: Zum einen sind da die experimentellen Songs aus den Live-Shows der Band. Dabei wurde oft nur ein Akkord vorgegeben, um den herum die Band ausgiebig improvisierte. Für „Piper“ wurden diese Songs freilich in eine albumtaugliches Format gepresst. Zum anderen sind da märchenähnliche Geschichten von Zwergen und sprechenden Vogelscheuchen, in denen – so zumindest die gängige Interpretation – Barrett seine idyllische Kindheit in Cambridge wiederaufleben lies. „Arnold Layne“ findet sich ebensowenig auf der UK-Version des Albums wie die zweite und noch erfolgreichere Single „See Emily Play“. Statt auf radiotaugliche Singles zu setzen, trieb die Band lieber ihren experimentellen Live-Sound voran – durchaus zum Ärger der Plattenfirma sowie des Produzenten Norman Smith.
Wie sehr sich die Musik von Pink Floyd von den Werken anderer britischer Bands dieser Zeit unterschied, unterstreicht schon das erste Lied auf dem Album – die psychedelische Hymne „Astronomy Domine“. Zu Beginn hört man die Stimme von Pink Floyd-Manager Peter Jenner, der durch ein Megaphon die Namen von Sternen vorliest. Barrets E-Gitarre, das Orgelspiel von Wright und jede Menge Effektgeräte sorgen für einen psychedelischen Sound, dessen Stimmung sich immer wieder ändert.
Es folgt der wunderbar atmosphärische Song „Lucifer Sam“, dessen Riff perfekt in jeden James Bond-Film passen würde. Wer angesichts des Titels einen düsteren oder gar satanistischen Hintergrund befürchtet, der irrt: das Lied handelt von Barretts Siamkatze – „that cat’s something I can’t explain“. Der Song ist auch ein gutes Beispiel für Barretts humorvolle, fast kindliche Texte – „Hiding around on the ground. He’ll be found when you’re around“.
Mit „Matilda Mother“ folgt ein Highlight des Albums. Es ist einer der Songs, in denen Barrett wohl einen Blick auf seine Kindheit wirft. Dabei liest eine Mutter ihrem Kind Märchen vor, etwa über einen König, der einst über das Land herrschte – „oh mother, tell me more“ erschallt es bei jeder Strophe als Antwort. Wie bei fast allen Songs von Barrett ändert sich auch bei „Mathilda Mother“ mehrmals Stimmung und Rhythmus. Vor allem in der letzen Strophe, die von Barrett gesungen wird, nimmt das Lied kurz richtig Fahrt auf – „For all the time spent in that room. The doll’s house, darkness, old perfume. And fairy stories held me high on clouds of sunlight floating by“ – um dann am Ende mit Mantra-ähnlichen Gesängen und Wrights Orgelspiel langsam zu entschwinden.
Richtig abgedreht wird es mit dem Song „Flaming“, in dem uns Barrett auf eine Reise durch eine psychedelische Märchenwelt mitnimmt. „Sleeping on a dandelion“, „Traveling by telephone“ – hier scheint alles möglich. Zu den wohl legendärsten Songs der Frühphase von Pink Floyd zählt das Instrumentalstück „Interstellar Overdrive“, das den Live-Sound der Band gut abbildet. Tempo und Struktur – sofern überhaupt erkennbar – ändern sich auch in der Album-Version ständig. Ein fast zehnminütiger Rausch, in dem sich die Bandmitglieder so richtig austoben konnten.
Zwei meiner persönlichen Höhepunkte auf dem Album sind „The Gnome“ und das wunderbar verträumte Stück „Scarecrow“, zu dem es auch ein Musikvideo gibt (besonders die nicht gerade oscarreife Duellszene am Ende des Videos sollte man sich nicht entgehen lassen!). Hier zeigt sich auch gut, dass bei Barretts Songs meist die Akkorde dem gesprochenen Wort folgen und nicht wie üblich umgekehrt.
Das letzte Lied auf dem Album – „Bike“ unterstreicht einmal mehr Barretts Talent, abgedrehte und gleichzeitig charmante Texte zu schreiben – „I’ve got a bike, you can ride it if you like, it’s got a basket, a bell that rings and things to make it look good. I’d give it to you if I could, but I borrowed it“. Die Entengeräusche am Ende des Lieds haben übrigens keine tiefere Bedeutung. Wright verriet einmal in einem Interview, dass die Band von den vielen im Studio verfügbaren Soundeffekten so begeistert war, dass sie einige davon unbedingt in ihre Songs einbauen wollten.
„Piper at the Gates of Dawn“ erreichte Platz 6 der britischen Charts und machte die Band auch außerhalb der Underground-Szene bekannt. Heute gilt es als eines der wegweisendsten Alben des Psychedelic Rock und hat zahlreiche KünstlerInnen sowie Bands beeinflusst. David Bowie soll etwa ein großer Bewunderer Barretts gewesen sein. Vor allem imponierte ihm der Umstand, dass dieser ohne Scheu im britischen Akzent sang, während damals quasi alle Musiker auf der Insel versuchten, US-amerikanisch zu klingen.
Während Pink Floyd später zu einer der erfolgreichsten Rockbands in der Musikgeschichte aufstieg, entwickelte sich das Leben von Barrett in eine andere Richtung. Der exzessive Konsum psychedelischer Drogen richtete an seiner Psyche irreparablen Schaden an. Sein Verhalten schwankte zunehmend zwischen Chaos und totaler Lethargie. Wie Waters erzählt, starrte er oft stundenlang ins Leere und war nicht mehr ansprechbar. Sein Blick, der einst voller Lebensfreude war, wurde zunehmend leer und düster. Für alle, die ihn besser kannten, war er nicht mehr wiederzuerkennen, beschrieb Wright in einem Interview. Barretts fortschreitender Realitätsverlust machte es immer schwieriger, Songs aufzunehmen oder Konzerte zu spielen. Wright berichtete von einem US-Auftritt, bei dem Barrett weder sang noch einen einzigen Akkord spielte. Stattdessen stand er während der gesamten Show regungslos auf der Bühne, starrte ins Leere und stimmte die Seiten seiner E-Gitarre um. Als sich die Lage nicht besserte, wurde David Gilmour als Unterstützung in die Band geholt – ein Jugendfreund Barretts, der dessen Part übernehmen sollte. Anfang 1968 trennte man sich schließlich endgültig vom ehemaligen Band-Leader.
Nach zwei Solo-Alben, die Barrett unter großen Schwierigkeiten mit der Hilfe des Managers Peter Jenner und seinen ehemaligen Kollegen von Pink Floyd aufnahm, zog er schließlich zu seiner Mutter nach Cambridge, wo er bis zu seinem Tod 2006 abgeschieden von der Öffentlichkeit lebte und sich hauptsächlich mit Malerei beschäftigte.
Auf dem zweiten Pink Floyd Album „A Saucerfull of Sectrets“ ist Barrett nur noch mit einem Lied vertreten – dem grandiosen „Jugband Blues“, zu dem auch ein Video aufgenommen wurde. Die Komposition kann durchaus als eine Art Abschiedsgruß an die Realität verstanden werden. Der Text lässt darauf schließen, dass sich Barrett über seinen Zustand zumindest phasenweise durchaus bewusst war – „It’s awfully considerate of you to think of me here. And I’m most obliged to you for making it clear that I’m not here“. Am Ende des Videos blickt Barrett noch einmal mit leerem Blick in die Kamera und verabschiedet sich mit der vielsagenden Textzeile: „And what exactly is a dream? And what exactly is a joke?“
https://wienlive.at/wp-content/uploads/2021/03/Bildschirmfoto-2020-04-15-um-14.31.27-1-300x138.png00wienlive Redaktionhttps://wienlive.at/wp-content/uploads/2021/03/Bildschirmfoto-2020-04-15-um-14.31.27-1-300x138.pngwienlive Redaktion2022-01-28 10:54:372022-01-28 10:55:26Musikalische Meilensteine I
Der Buchtipp von Helmut Schneider: Wieviel von diesen Hügeln ist Gold von C Pam Zhang.
Chinesen kommen in den amerikanischen Western – wenn überhaupt – nur als Arbeiter beim Ausbau der Eisenbahn durch den ganzen Kontinent vor. Kaum bekannt ist, dass die erste Einwanderungswelle dem kalifornischen Goldrausch geschuldet ist. Reich wurden da bekanntlich nur wenige, die meisten landeten dann als schlecht bezahlte Grubenarbeiter im Kohlebergwerk. Die in Peking geborene, aber in den USA aufgewachsene Autorin C Pam Zhang hat diesen ziemlich rechtlosen Migranten jetzt ein höchst literarisches Denkmal gesetzt.
In ihrem Roman „Wie viel von diesen Hügeln ist Gold“ schildert sie wie das Geschwisterpaar Lucy und Sam im wilden Westen um ihr Überleben kämpft, nachdem Ba und Ma – also die Eltern – gestorben oder verschwunden sind. Erzählt wird aus der Perspektive der älteren zwölfjährigen Lucy, die immer im Schatten ihres Bruders Sam steht – dem Liebling von Ba. Dabei ist sie klug und lernwillig, doch die Armut der Familie und der überall herrschende Rassismus, der Hass auf die „Schlitzaugen“, setzt ihr enge Grenzen. Als Ba wirklich Gold findet, ist die Familie schon soweit, dass sie wieder zurück nach China wollen. Doch ein Überfall der neidischen Nachbarn macht den Plan zunichte. Und als dann auch noch der durch seine Alkoholsucht geschwächte Vater stirbt und die Mutter verschwindet – die Kinder glauben, sie ist auch verstorben – sind die beiden Geschwister ganz alleine. Mit Nelly, dem Pferd des Lehrers, das sie sich „ausleihen“, machen sie sich auf, eine freundlichere Umgebung zu suchen. Schon bald stellt sich allerdings heraus, dass Sam eigentlich ein Mädchen ist, das dem Wunsch des Vaters nach einem Sohn nur zu gerne nachgekommen ist. Ihre Sturheit wird sie freilich niemals ablegen.
Zhang beschreibt das Geschehen bildreich und poetisch aus der Sicht der Elfjährigen. Manches geht ins Groteske, etwa als die Kinder die bereits zerfallende Leiche ihres Vaters tagelang mitführen, weil sie den geeigneten Platz für das Begräbnis nicht finden. In den Dialogen werden oft auch Ausdrücke in Pidgin-Mandarin verwendet, aber immer so, dass man als Leser nicht überfordert wird. Die besten Szenen spielen mitten in der Prärie, wo die Mädchen den Elementen trotzen müssen. In der Stadt „Sweetwater“ (vermutlich San Diego) muss Lucy dann sogar als Prostituierte arbeiten, um die Schulden ihres „Bruders“ abzuarbeiten. Das und der spektakuläre Schluss sind dann vielleicht doch zu sehr alter Western…
https://wienlive.at/wp-content/uploads/2021/03/Bildschirmfoto-2020-04-15-um-14.31.27-1-300x138.png00Helmut Schneiderhttps://wienlive.at/wp-content/uploads/2021/03/Bildschirmfoto-2020-04-15-um-14.31.27-1-300x138.pngHelmut Schneider2022-01-21 09:45:032022-01-21 09:46:47Buchtipp – C Pam Zhang, Wie viel von diesen Hügeln ist Gold
WIENschräg – ein Satirebeitrag von Walter Posch. Foto: Pixabay
Der spröden Bezeichnungen wie T34 oder M60 für die bekanntesten Panzer des 2. Weltkriegs und der Nachkriegszeit überdrüssig geworden, gingen Militärs stattdessen dazu über, ihre Waffen lieber mit Tiernamen zu bezeichnen, um sich so deren Fähigkeiten mimetisch anzueignen.
So schmücken die tirilierende Lerche den Hubschrauber Alouette, die gutmütigen Haflinger und kräftigen Pinzgauer Geländefahrzeuge, und der schnelle und wendige Leopard gibt statt der gepanzerten, aber doch etwas behäbigen Schildkröte einem Panzer die Ehre.
Das neueste Baby militärischer Tierfreundlichkeit an der Schwelle des neuen Jahrtausends trägt überraschend den Namen eines Uraltlebewesens: Gecko, älter als die Gattung Mensch, für den Kampf gegen einen ganz neuen Feind, das Virus. Primär sich von Insekten ernährend, die wärmende Sonne der Tropen geniessend, ist das possierliche Tier erstaunlicherweise das Schildwappen der österreichischen Covid-Krisenkoordination geworden, wiewohl niemand so genau weiss, auf welche Fertigkeiten die martialische Waffe eigentlich verweist.
Die Vermutung, dass es bloss um einen hübschen Namen für einen nicht so hübschen Sachverhalt geht, wäre zu hart geurteilt, hat doch der stellvertretende Generalstabschef des Bundesheeres dem Virus einen unerbittlichen Kampf angesagt, den die erlauchte Expert*innenrunde gegen das Virus zu führen gedenkt.
Zunächst liegt aber nicht das unfreundliche Protein im Fokus der SOKO COVID, sondern jene unbelehrbaren und beharrlichen Virus-Leugner*innen, die wie Asterix in seinem gallischen Dorf der Übermacht der gegnerischen Phalanx aus Politik und Medien trotzen und sich sehr uneinsichtig zeigen, wenn es darum geht, sich freiwillig impfen zu lassen.
Eine solche Unbotmässigkeit sich nicht gefallen lassen zu wollen, setzt das Imperium Austriacum konsequenterweise auf den Impfzwang gegen die Widerspenstigen, wobei die austriakischen Zensoren eine Million Strafbescheide samt allfälliger Einsprüche administrieren werden müssen. An die Sinnhaftigkeit einer Exekution mittels polizeilicher Zwangsgewalt mag aber selbst der Imperator Carolus Magnus nicht glauben.
Da kommen die austriakischen Legionäre mit ihrer Geheimwaffe Gecko ins Spiel, an dessen militärische Fähigkeiten zunächst niemand glauben mochte. Wenn nämlich ein Feind den Gecko am Schwanz festhält, befreit sich dieser, indem er seinen Schwanz einfach abtrennt. Und so löst sich auch ein altes anthropologisches Rätsel. Statt auf militärische Gewalt gegen unzivilisierte und wissenschaftsungläubige radikale Horden zu setzen, befreit sich das Imperium elegant wie der Gecko und zieht einfach seinen Schwanz ein. Alea iacta est!
https://wienlive.at/wp-content/uploads/2021/03/Bildschirmfoto-2020-04-15-um-14.31.27-1-300x138.png00wienlive Redaktionhttps://wienlive.at/wp-content/uploads/2021/03/Bildschirmfoto-2020-04-15-um-14.31.27-1-300x138.pngwienlive Redaktion2022-01-13 11:47:132022-01-13 11:47:15WIENschräg Nr. 4
Nach dem Tod geht’s in der Bitwelt munter weiter: Neal Stephensons fast 1200 Seiten lange Zukunftsvision„Corvus“. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.
An der amerikanischen Westküste liebäugeln bekanntlich Milliardäre schon lange mit dem Gedanken, dem Tod seinen Stachel zu ziehen und in irgendeiner Form weiterzuleben. Es müsste doch möglich sein das, worauf es ankommt, nämlich unsere Gedanken und Gefühle quasi auf eine Festplatte zu laden und zu konservieren. Der amerikanische Cyberpunk-Autor Neal Stephenson, der auch schon für Jeff Bezos beratend tätig war und selbst Softwarefirmen gegründet hat, ist für Romane mit epischer Breite bekannt. In seinem neuesten Werk beschäftigt er sich nun in aller Ausführlichkeit mit der Frage nach der Möglichkeit eines digitalen Weiterlebens nach dem Tod. Nun, es ist wirklich erstaunlich, welche Probleme sich abseits der Tatsache, dass so etwas zur Zeit noch nicht möglich ist, da auftun.
Der Roman „Corvus“ beginnt mit dem unerwarteten Tod des schwerreichen Videogame-Unternehmers Richard Forthrast, genannt Dodge, bei einer Routineoperation in Seattle. Dieser hatte nämlich verfügt, dass sein Gehirn für eine Transformation in die Computerwelt konserviert und vorbereitet werden soll und einen Vertrag mit der Firma des gerissenen Unternehmers El Shepherd abgeschlossen. Dank der Entwicklung von Quantencomputern wird das schließlich auch möglich und Dodges Nichte Sophia wird als einzige dazu berechtigt, das Gehirn ihres Onkels hochzufahren. Die Lebenden wissen allerdings niemals genau, was sich fortan in der Bitwelt abspielt, sie sehen nur die Verbindungen, die die einzelnen Toten – Dodge war nur der erste, das Weiterleben wird bald zum Geschäftsmodell – miteinander eingehen. Als Leser ist man da besser dran, denn gut die Hälfte des Romans spielt eben eben dort im Bit-Universum und bald wissen wir – die Verstorbenen kommen mitnichten ins Paradies (der englische Originaltitel des Romans „Fall, or, Dodge In Hell“ verheißt ja schon nichts Gutes), die ganze Misere des Struggle for Life setzt sich im Jenseits fort, Kriege inbegriffen.
Interessant sind aber Details, denn irgendwann überlegen die Lebenden etwa, wie sie das elektronische Leben etwas herunterfahren können, nachdem bereits die Hälfte ihrer Serverfarmen mit der Aufrechterhaltung der jenseitigen Aktivitäten blockiert sind. Lustig ist auch wie der Schurke El die ganze Nation spaltet, indem er einen Atomangriff auf eine unbedeutende amerikanische Stadt im Hinterland inszeniert – einfach dadurch, dass er die Onlineverbindungen des Städtchens kappt. Schließlich glauben viele in den USA nicht einmal den Bewohnern selbst als diese erzählen, dass in der Stadt mit Ausnahme eines Serverausfalls nichts passiert ist. So einfach wird ein Unfall zu einer Glaubenssache.
Im Mittelpunkt des Romans steht natürlich Corvus – Forthrasts treuer Mitarbeiter und Erbeverwalter, dem es mit allerlei Tricks gelingt, immer die Fäden in der Hand zu halten. Zwischenzeitlich verliebt er sich in eine behinderte Kletterin und Start-up-Gründerin. Das ist immer gute Unterhaltung mit Fragen, die sich und vielleicht einmal stellen werden. Die Kämpfe in der Bitwelt, die in einer Art getragener Märchensprache geschildert werden, hätten allerdings stark gekürzt werden müssen.
Neal Stephenson: Corvus Aus dem Englischen von Juliane Gräbener-Müller Goldmann Verlag ISBN: 978-3-442-31542-0 1150 Seiten € 30,90
„Lady in the Dark“ von Kurt Weill in der Volksoper. Eine Theaterkritik von Helmut Schneider. Foto: Barbara Pálffy/Volksoper Wien
Das muss man sich erst einmal trauen, bei einem Publikum, das sich ein Musical erwartet: Ohne einen Takt Musik verfolgen wir in Kurt Weills „Lady in the Dark“ minutenlang die erste Sitzung einer sich offenbar in einer Art Burnout befindlichen Frau bei ihrem Psychoanalytiker. Liza Elliott , die Herausgeberin einer großen Frauenzeitschrift in New York, hat einen Zusammenbruch als sie erfährt, dass ihr Geliebter sich endlich von seiner Frau scheiden lassen kann und sie heiraten will. Dr. Brooks, ganz Freudianer, lässt sie frei assoziieren und erst dann wird die Szene zum Musical, wir sind natürlich mitten in einem Traum in dem Miss Elliot ganz anders ist als im Leben, nämlich selbstsicher und entscheidungsfreudig.
Kurt Weill wollte nach seiner von den Nazis erzwungenen Migration nach New York von Europa nichts mehr wissen und ein amerikanischer Komponist werden. Er schrieb zahlreiche Musicals. Bei „Lady in the Dark“ holte ihm dann doch wieder die Vergangenheit ein, denn die Psychoanalyse, die bekanntlich in der Geburtsstadt seiner Ehefrau Lotte Lenya erfunden worden war, galt gerade in New York als der letzte Schrei. Ein Musical, das im Wesentlichen aus psachoanalytischen Sitzungen besteht, ist freilich ein kühnes Unterfangen. Das Werk wurde am 23. Jänner 1941 am Broadway uraufgeführt und brachte es auf immerhin 467Aufführungen.
In der Volksoper spielt man nun dieses Zwitterding zwischen „Musical“ und „Play“ recht ansprechend, wobei die Musicalpartien zweifelsfrei die gelungeneren sind. Die Regie von Matthias Davids und das Bühnenbild von Hans Kudlich geben sowohl Raum für Glamour als auch für ernste Gespräche. Sehr gut gefällt der riesige Spiegel über der Couch, die freilich wie ein riesiges Doppelbett ausschaut und so auf gewisse Defizite im Leben von Liza Elliott hinweist.
Julia Koci in der Titelrolle kann mühelos zwischen Business-Frau und Glamour-Girl wechseln. Ben Connor gibt den draufgängerischer Filmstar Randy Curtis, Marie-Christiane Nishimwe die Assistentin Elinor Foster, Robert Meyer den Dr. Brooks. Insgesamt gab es keine Enttäuschungen. Auch das Orchester unter James Holmes brachte Weills Musik zum Funkeln – sogar zwei Hits waren dabei. Ein ungewöhnlicher Musicalabend und eine lange entbehrte Möglichkeit, Kurt Weills Musik abseits seiner in Deutschland entstandenen Erfolgsstücke zu entdecken.
https://wienlive.at/wp-content/uploads/2021/03/Bildschirmfoto-2020-04-15-um-14.31.27-1-300x138.png00Helmut Schneiderhttps://wienlive.at/wp-content/uploads/2021/03/Bildschirmfoto-2020-04-15-um-14.31.27-1-300x138.pngHelmut Schneider2021-12-20 14:24:412021-12-20 14:24:43Theaterkritik – „Lady in the Dark“ in der Volksoper
Yaa Gyasi: „Ein erhabenes Königreich“. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.
In einem Labor in Stanford macht Gifty Mäuse süchtig und untersucht für ihre Promotion dann jene, die das Suchtmittel auch dann noch haben wollen wenn sie dafür einen Stromschlag riskieren müssen. Aus einer aus Ghana eingewanderten Familie stammend hat Gifty es geschafft – immer Bestnoten schon in ihrer Schule in Alabama, Studium in Harvard und dann weiter nach Stanford. Aber der Preis war hoch, Gifty kann nicht gut mit anderen Menschen, als Jugendliche geht sie voll in der evangelikalen Kirche auf, die sie praktisch von einem Tag auf den anderen mit der Wissenschaft tauscht. Die emotionale Kälte hat sie von ihrer Mutter geerbt, die – nachdem der Vater wieder zurück nach Ghana gegangen ist – zwei Jobs braucht, um die Familie halbwegs über die Runden zu bringen. Und dann ist da noch ihr geliebter Bruder Nana. Der Mädchenschwarm und Basketball-Star wird nach einem Sportunfall Opfer der Opioid-Krise. Er gewöhnt sich rasend schnell an die ofiziell zugelassenen Schmerzmittel und wird wie viele tausende andere – in den USA sollen 450.000 Menschen dadurch umgekommen sein – abhängig. Schließlich steigt er auf das billigere Heroin um und stirbt an einer Überdosis.
Yaa Gyasi wurde zwar 1989 in Ghana geboren, wuchs aber schon in den USA auf. Sie wurde 2016 mit ihrem ersten Roman „Heimkehr“ bekannt, der bereits mehrere Preise abstaubte. „Ein erhabenes Königreich“ umfasst mehrere Themen wie den Rassismus in den USA, Religion und Wissenschaft oder Drogen, ist im Kern aber ein migrantischer Familienroman. Besonders eindringlich wird Giftys Mutter beschrieben. Die hart arbeitende Migrantin versäumt keinen Gottesdienst, unterstützt die Kirche wo immer möglich und wird dabei doch immer als Außenseiterin behandelt. Nach dem tragischen Tod Nanas verfällt sie in eine tiefe Depression und verlässt monatelang nicht ihr Bett. Als Gifty dann in Stanford arbeitet, hat sie einen weiteren Schub und legt sich bei Gifty völlig antriebslos ins Bett. Ahedonie nennt das die Wissenschaftlerin, die sich manchmal wünscht, sie könnte mit optisch-elektrischen Hilfsmitteln wie bei ihren Mäusen direkt das Gehirn ihrer Mutter stimulieren.
Als Kind schrieb Gifty ihr Tagebuch direkt an Gott gewandt. So bringt sie Ordnung in ihr verwirrendes Leben. Das Arbeiten als Forscherin fällt ihr dann leicht, es gelingt ihr bereits als Studentin in wissenschaftlichen Magazinen zu veröffentlichen. Gyasi schafft es dabei, uns sowohl für Religion als auch für Forschung zu interessieren, ihr Roman ist ein sehr gelungenes und sehr gut lesbares Porträt einer jungen Frau mit problematischer Vergangenheit.