Theaterkritik – Alles, was der Fall ist

Wittgenstein auf der Bühne


Wittgenstein auf der Bühne: „Alles, was der Fall ist“ im Akademietheater.
Text: Helmut Schneider / Fotos: Marcella Ruiz Cruz


Heuer jährte sich im April der Todestag des einzigen österreichischen Philosophen von Weltrang. Wobei Ludwig Wittgensteins Einfluss wahrscheinlich noch immer überall sonst mehr anerkannt wird als bei uns. Besonders im englischsprachigen Raum bedeutete der „Tractatus logico-philosophicus“ eine Zäsur im philosophischen Denken.

Im Akademietheater nahm sich erfreulicherweise das Regie-Duo „Dead Centre“ (Ben Kidd & Bush Moukarzel) Wittgensteins an. Allerdings erschienen den beiden die zentralen Thesen des Philosophen aus der Erkenntnisphilosophie nicht so interessant. Sie machten aus dem Denken darüber, was überhaupt gedacht und beschrieben werden kann, ein Problem der Ethik.

ALLES, WAS DER FALL IST Dead Centre nach Ludwig Wittgenstein Akademietheater Uraufführung am 08.06.2021 Regie: Ben Kidd & Bush Moukarzel Bühne & Kostüme: Nina Wetzel Videodesign: Sophie Lux Sounddesign & Musik: Kevin Gleeson Licht: Marcus Loran Dramaturgie: Andreas Karlaganis Mit: Philipp Hauß, Alexandra Henkel, Andrea Wenzl, Tim Werths, Johannes Zirner Live-Kamera: Mariano Margarit

Konkret zeichneten sie mithilfe einer Green Box sowie Videotechnik den realen Fall der Amokfahrt eines Jugendlichen in Graz 2015 nach – immer betonend, dass man aus den Tatsachen nicht die Ursachen der Wahnsinnstat ablesen könne. Von der Steiermark geht es da etwa in den Grenzwald von Bosnien, wo sich die Familie des Attentäters 1993 zur Flucht aufmachte. Dazwischen werden Szenen aus Macbeth eingestreut, in denen es ebenfalls um gut oder böse geht. Aber natürlich kann auch Shakespeare sich im Sinne der Logik nicht exakter ausdrücken als die Flüchtlingsfamilie.

Philipp Hauß gibt dabei den Erzähler und Arrangeur, der im Puppentheater die Szenen aufbaut. Andrea Henke, Andrea Wenzl, Tim Werths und Johannes Zirner spielen wechselnde Rollen, zwischendurch auch Shakespeares Hexen. Das ist streckenweise sehr unterhaltsam, die einfachen optischen Effekte entfalten durchaus Wirkung. So wirklich schlau wird man aus den Ideen aber nicht. Am Ende heißt es dann aber sowieso erwartungsgemäß „Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt.“


Satire

Der Hofmeister oder Vorteile der Privaterziehung


wienschraeg. Ein Beitrag von Walter Posch.


„Der Hofmeister oder Vorteile der Privaterziehung“ lautet der Titel des Klassikers von Jakob Michael Reinhold Lenz, in dem der Stürmer und Dränger die Schulmisere des 18. Jahrhunderts sehr drastisch thematisiert und in dem die Protagonisten kopulieren, geschwängert werden, sich duellieren, sich zu ersäufen versuchen, sogar sich kastrieren.

Erfreulicherweise hat sich das Prekariat der Lehrpersonen seither stark verändert, wenngleich die Versuche, die Berufsgruppe zu reglementieren und das eigene Scheitern an ihr abzureagieren, immer wieder fröhliche Urständ feiert.

So wird es verständlich, dass die solcherart sich gedemütigt und übergangen fühlende zuständige Gewerkschaft seit einiger Zeit den ministeriellen Entwurf für neue Lehrpläne für die Pflichtschulen „mit Nachdruck“ ablehnt. Aus ähnlicher Frustration hat auch der Autor das „ß“ seinerzeit aus seiner Tastatur verbannt.

Insbesonders stösst sich die Gewerkschaft an der Umbenennung der Fächer „Musikerziehung“ zu „Musik“, „Bildnerische Erziehung“ zu „Kunst und Gestaltung“ et cetera, weil sie im neuen Fächernamen den Begriff „Erziehung“ vermisst.

Auf ORF.at vom 18. Mai kommt die gewerkschaftliche Kritik so daher:

„Bei der Änderung von Fach- und Gegenstandsbezeichnungen, welche unabdingbar mit der Modernisierung der Lehrpläne in Bezug gebracht wird, ist auf den wichtigen Begriff ‚Erziehung‘ (…) zur Gänze verzichtet worden (exemplarisch: Bildnerische Erziehung wird zu Kunst und Gestaltung)“, monieren die Lehrervertreterinnen und -vertreter in ihrer Stellungnahme.

Nun mag man das Ministerium ob seiner Begutachtungsentwürfe kritisieren, nicht immer sind diese „Literatur“, aber im gegenständlichen Fall scheint da mit Verweis auf Lenz und dessen Erziehung ein Rollentausch zwischen Obrigkeit und Rechtsunterworfenen stattgefunden zu haben, abgesehen von Verbesserungen, den Spracherwerb betreffend, der nicht nur Schüler*innen mit mangelnden Deutschkenntnissen zugutekommen würde, sondern auch zukünftigen Pflichtschulgewerkschafter*innen offensteht.


Buchtipp – Keith Gessen, Ein schreckliches Land

Ein Idiot in Moskau


Keith Gessen lässt im Roman „Ein schreckliches Land“ einen russischstämmigen Amerikaner Russan im Krisenjahr 2008 erleben.
Text: Helmut Schneider


Die Karriere des Ich-Erzählers Andrew Kaplan will nicht so recht starten, er kann keine Professorenstelle in New York ergattern und muss sich mit öden Anfängerkursen begnügen. Da wird er von seinem Bruder nach Moskau gebeten, um ihrer betagten Großmutter zur Seite zu stehen – er soll also dort zurück, wo er geboren ist. Doch schon bald erkennt er, dass er auch als muttersprachiger Russe mit russischen Eltern in einen völlig anderen Kulturkreis zurechtkommen muss. Er kommt sich sehr oft wie ein Idiot vor. Im ersten Drittel des Romans gelingt es dem passionierten Eishockeyspieler etwa nicht, in einer russischen Hobbymannschaft mitspielen zu dürfen. Zudem erkennt er bald, dass es eine Kunst darstellt mit den wenigen eigenen Mitteln im teuren Moskau über die Runden zu kommen. „Es ist ein schreckliches Land“ erzählt ihm seine Oma bei jeder Gelegenheit – die alte Dame lebt mitten im Zentrum weil ihre Mutter dereinst bei einem Film mitwirkte, der Stalin gefallen hat – worauf alle mit einer Wohnung belohnt wurden. Ab dann ging es mit der Familie allerdings bergab, nur mit Glück überlebten sie die Schreckenszeit.

Keith Gessen hat eine ähnliche Herkunft wie sein Protagonist Andrew. 1975 in Moskau geboren wuchs er in den USA auf und gründete die anerkannte literarische Zeitschrift n+1 und arbeitete für verschiedene Publikationen. 2009 erschien sein erster Roman „All die traurigen jungen Dichter“ auf Deutsch. In „Ein schreckliches Land“ ist natürlich nicht alles in Moskau schlecht. Vor allem findet Andrew nach langem Bemühen Anschluss an ein Hockey-Team und an eine politische Gruppe, die sich für die entrechteten Arbeiter einsetzt. Wir schreiben 2008 und Russland gerät in den Strudel der Finanzkrise, weil fossile Rohstoffe eine Zeit lang weniger nachgefragt sind. Andrew ist dabei selbst für einen Amerikaner zu naiv um zu verstehen, dass man in Moskau nicht so einfach gegen Putin demonstrieren kann. Am Ende steuert alles einer Katastrophe zu.

Gessen schildert auf fast 500 Seiten ziemlich genau das gesellschaftliche Leben in Russland wo zwar fast alle wissen, dass ihr Präsident ein Scharlatan ist, aber trotzdem alle an ihm festhalten – weil er zumindest einer von ihnen ist und sie sich eine nicht korrupte Regierung gar nicht vorstellen können. Der Roman liest sich sehr gut, obwohl Gessen noch den kleinsten Cafébesuch genau beschreibt. Selbst die Reparatur eines verstopften Abflussrohrs  beschreibt er vergnüglich. Wäre der Autor aber nicht ein solcher Kenner der Verhältnisse, würde man ihm allerdings die Verwendung von Klischees vorwerfen. Aber vielleicht ist Putins Russland ja längst ein zur Realität gewordenes Klischee.


Jubiläumsjahr

Thomas Bernhard im Jubiläumsjahr


Theaterkritik von Helmut Schneider: „Die Jagdgesellschaft“ im Akademietheater und „Der Theatermacher“ im Volkstheater.
Text: Helmut Schneider / Fotos: Nikolaus Ostermann,Volkstheater ; Susanne Hassler-Smith


Eine Etüde in rot liefern uns Regisseurin Lucia Bihler und Bühnenbildnerin Pia Maria Mackert in ihrer Interpretation von Thomas Bernhards gesellschaftlichen Endzeitdrama „Die Jagdgesellschaft“ im Akademietheater. Die Figuren stecken in Latexkostümen (Kostümbildnerin Laura Kirst), die an Renaissancemoden erinnern und bewegen sich auch mehr oder weniger gekünstelt. Holzknecht Asamer (Jan Bülow) schlurft mit gewaltigen Handschuhen und meterlangem Haar über die Bühne wie Riff Raff aus der Rocky Horror Picture Show. Und alles wird in rotes Licht getunkt.

Wie Riff Raff aus der Rocky Horror Picture Show – Jan Bülow in „Die Jagdgesellschaft“ im Akademietheater.

Der Alarmismus scheint auch angebracht, denn das riesige Gut steht vor dem Ende. Der Wald wird von Borkenkäfern gefressen und der Gutsbesitzer (Martin Schwab) ist nicht nur herzkrank, sondern auch vom Grauen Star befallen. Zumindest kann er sein Unglück nicht mehr sehen, hofft seine Frau, gespielt von Maria Happel, die ihre Leiden dem Schriftsteller (Markus Scheumann) klagt.

Das alles ist recht hübsch anzuschauen, mit der Zeit – der Abend dauert 2 Stunden – ermüdet das Untergangsschauspiel aber zusehends, zumal die Handlung wie meist bei Bernhard nur in den Dialogen vorangetrieben wird. Immerhin ein Statement, wie man sich eine Bernhard-Interpretation heute vorstellt. 

Im Volkstheater beginnt Kay Voges seine erste Saison nach dem Umbau mit Bernhards „Der Theatermacher“, konkret mit einer Neufassung seiner erfolgreichen Inszenierung 2018 in Dortmund. Das bietet zunächst einmal die Chance, seine neuen Schauspieler kennenzulernen. Nun, die Neuen – Nick Romeo Reimann, Anna Rieser, Uwe Rohbeck, Andreas Beck, Anke Zillich – schlagen sich ganz wacker. Es beginnt ganz traditionell mit den Klagen des Theatermachers über die Provinz und den Niedergang des Theaters und endet in einer Art Slapstick-Endlosschleife, denn Vogel lässt das Stück immer wieder neu anfangen – die Darsteller wechseln die Rollen, die Stimmungen wechseln fast minütlich – zum „Blutwursttag“ sind wir dann mitten in einem Horrorstreifen. Das ist anfangs noch witzig, wird aber durch die rasanten Wiederholungen der Dramenfetzen zusehend nervig, zumal sich keine echten neuen Perspektiven ergeben. Fast so als traute man dem Text von Bernhard die alte Sprengkraft nicht mehr zu. Und das obwohl gerade jetzt seine Österreich-Analysen treffender denn je erscheinen. Dem Publikum hat das Ganze bei der Premiere Spaß gemacht – man war ja wohl schon lange vom Theater entwöhnt.

Eine Art Slapstick in Endlosschleife. – „Die Theatermacher“ im Volkstheater.

Buchtipp – Sarah Moss, Geisterwand

In der englischen Sumpfwildnis


Der Roman „Geisterwand“ von Sarah Moss zeigt, wie dünn die Kruste der Menschenrechte im Alltag ist.
Text: Helmut Schneider / Fotos: Sophie Davidson,Piper Verlag


Silvie ist 17 und noch ziemlich kindlich, denn wir sind in den 90er-Jahren. Ihr in die englische Frühgeschichte verliebter Vater zwingt sie, die Ferien mit ein paar Studenten und einem Archäologie-Professor bei einer Art Seminar mitzumachen, bei dem alle versuchen, für ein paar Tage wie die ersten Bewohner der Insel zu leben. In Zelten und als Nahrung nur das, was gesammelt oder gejagt wird. Sehr schnell werden dabei die traditionellen Rollenmuster schlagend: die Männer gehen auf die Jagd, die Frauen suchen Kräuter und Muscheln und die Mutter kümmert sich um das Feuer und den Kochtopf.


Sarah Moss erzählt in unspektakulärer Sprache vom Ungeheuerlichen.

Die 1975 in Glasgow geborene Schriftstellerin Sarah Moss erzählt ihre nicht sehr lange, aber umso eindrucksvollere Geschichte aus der Sicht von Silvie, der Tochter des autoritären Busfahrers und Hobbyforschers. Schon bald merken wir, dass dieses Mädchen anders ist als die nur wenig älteren Studentinnen und Studenten mit denen sie die Moorlandschaft durchstreift. Und wenig später wissen wir auch warum. Ihr Vater ist ein unberechenbarer Tyrann, der seine Frustrationen an der Familie auslässt – nur mühsam kann die Mutter ihre blauen Flecken verbergen und wir werden Zeuge, wie Silvie von ihm grausam verprügelt wird. Die nimmt das als gegeben hin, was soll sie denn auch tun, wo sie doch völlig von ihm abhängig ist. Erst als das Ritual einer Opferung nachgespielt werden soll – mit Silvie am Altar einer Opferwand –, zieht eine Studentin die Notbremse.

Sarah Moss ist mit ihrem Roman „Geisterwand“ (Berlin Verlag, € 20,60) die eindrucksvolle Darstellung der durch Abhängigkeiten gestützte Gewalt in der Familie gelungen. Das traditionelle Männerbild ist in den 90ern längst zerbröckelt, viele Jobs, in denen es männliche Kraft braucht wie etwa im Bergwerk, gibt es nicht mehr.  Um das deutlich zu machen, hat Moss eine unspektakuläre Sprache gefunden, die das Ungeheuerliche dieser Geschichte nur umso stärker spürbar macht. 


„Geisterwand“ von Sarah Moss
160 Seiten, € 20,90
ISBN: 978-3-8270-1413-9

Theaterkritik – Into the Woods

Aufregung im Märchenwald


Aufregung im Märchenwald: Die Volksoper spielt Sondheims Musical „Into the Woods“. Ein bunter Abend.
Text: Helmut Schneider / Fotos: Barbara Pálffy,Volksoper Wien


In dem 1987 uraufgeführten Musical „Into the Woods“ verbindet der Veteran der New Yorker Szene Stephen Sondheim, der 2020 seinen 90. Geburtstag feierte, Märchen der Gebrüder Grimm zu einer zusammenhängenden Handlung, die nach dem Schluss dieser Märchen im Buch noch weiter geht. Im Volkstheater spielt man dieses Musical trotz des beibehaltenen englischen Titels auf Deutsch, vielleicht weil man eine familiengerechte Fassung im Sinn hatte. Nun, die von Michael Kunze übertragenen Texte, sind auch nicht weiter so literarisch als dass man dies bemängeln müsste.

Souverän
Oliver Tambosi und Simon Eichenerger ist in dem charmant nostalgischen Bühnenbild (Frank Philipp Schlößmann) jedenfalls ein flotter und bunter Abend gelungen. Das gutgelaunte Ensemble bringt die melodisch ansprechende, doch ohne eigentlichen Hit auskommende Show souverän auf die Bühne. Nachdem im ersten Teil die diversen Märchen auserzählt werden und alles in Wohlgefallen endet, treten im zweiten Teil neue Konflikte auf. Die ärgste Bedrohung im Märchenreich stellt eine Riesin dar, die nur mit vereinten Kräften besiegt werden kann. Als Erzähler und „geheimnisvoller Mann“ kann auch Hausherr Robert Meyer im Märchenwald glänzen. Viel Applaus gab es für alle, besonders aber für die Hexe Bettina Mönch, die eine Verwandlung von einer hässlichen Alten zur Sexy Hexi hinlegen darf. 


„Into the Woods“ von Stephen Sondheim
Volksoper Wien

Theaterkritik – Bunbury

Zwei Gentlemen


Oscar Wilde Fast Forward & gedehnt: „Bunbury“ im Akademietheater in der Inszenierung von Antonio Latella.
Text: Helmut Schneider / Fotos: Susanne Hassler Smith


In „The Importance of Being Earnest“ führen zwei Gentlemen  zwecks Vertuschung ihrer Ausschweifungen  ein Doppelleben – so etwas geht in Komödien in der Regen zum Gaudium des Publikums schief. Im Akademietheater spielt man Oscar Wildes Bühnenhit freilich so, als ob man sich für die Handlung nicht sehr interessierte. Szenen werden endlos wiederholt, Regieanweisungen vom Butler gelesen und viel Energie steckte man in die „Aufklärung“, dass der Autor nicht nur schwul war, sondern dafür auch noch zu schwerem Kerker verurteilt worden ist. Als ob das Menschen, die ins Akademietheater kommen, nicht längst schon wüssten. In ausgewiesenen „gay moments“ küssen Männer Männer und Frauen Frauen.



Dabei steht Antonio Latella ein engagiertes Ensemble zur Verfügung, das den Wortwitz der Komödie auch angemessen präsentieren könnte. Regina Fritsch, Andrea Wenzl, Florian Teichtmeister, Mavie Hörbiger, Mehmet Ateşçi, Tim Werths und Marcel Heuperman haben eben auch Theatermomente, die ihre Präsenz aufflackern lassen. Nach Gesangseinlagen, harmlosen Späßen und akrobatischen Körperübungen soll das Publikum selbst die Schlussworte im Chor vorlesen. Da natürlich alle brav Maske tragen, ist auch die letzte Idee des Abends keine gute.

INFO: https://www.burgtheater.at/produktionen/bunbury


Buchtipp – Robin Robertson, Wie man langsamer verliert

Städte sind eine Art Krieg


„Wie man langsamer verliert“ – der wunderbare Nachkriegstext des Schotten Robin Robertson über einen Weltkriegsheimkehrer in Los Angeles.
Text: Helmut Schneider / Fotos: Hanser Literaturverlage; Niall McDiarmid


1946 landet der kanadische D-Day-Veteran Walker in New York und findet sich in der großen Stadt nicht wirklich zurecht. Als Hafenarbeiter hält er sich über Wasser, abends versucht er vergebens, in den Bars seine Erinnerungen an das große Töten zu betäuben. Seine Leidenschaft für den Film und der Tipp eines seiner Idole – Hollywood-Regisseur Robert Siodmak – das er zufällig in einer Bar trifft, verschlägt ihn nach Los Angeles, wo zumindest das Klima viel besser ist. Und er findet sogar einen Job bei einer Lokalzeitung. Doch weiterhin sieht er auf Schritt und Tritt Obdachlose, Verfall und als Lokalreporter auch wieder viele Tote. Wieder lungert er in den Bars herum, geht ins Kino und sucht die Nähe zu den vielen Filmsets in der Stadt. Aber er ist die Summe aller seiner Erlebnisse und nach und nach erfahren wir, dass er über alle Maßen Schreckliches erlebt hat.


Autor Robin Robertson ist an der schottischen Nordküste aufgewachsen.

Poesie
Robin Robertson, aufgewachsen an der schottischen Nordküste, ist bislang nur als Verleger und Verfasser von Gedichten in Erscheinung getreten. Mit „The Long Take – A Way to Lose More Slowly“ stand er dann 2018 auf der Shortlist für den renommierten Man Booker Prize. Und „Wie man langsamer verliert“ (Hanser) ist tatsächlich auch eine Mischung aus Gedicht und Roman, der Text ist wie ein Poem geordnet, die Übergänge sind assoziativ. Aber Robertson schafft es dabei so nebenbei eine Geschichte zu erzählen – eine Geschichte der Verluste. Eingestreut in den Text sind zwischendurch immer wieder Kriegserlebnisse, wir erleben Grausamkeiten und skurrile Szenen im tödlichen Kriegsalltag – etwa wenn die angreifenden Feinde noch Kinder sind oder wenn Walker sich aus einer Kriegsgefangenschaft wieder befreit. Aber auch die Nachkriegszeit ist voll von Verlusten. Das Viertel, in dem Walker in einer bescheidenen Unterkunft haust, wird nach und nach abgerissen, wir sind in Downtown L.A. und Bunker Hill wird das zukünftige Wirtschaftszentrum der Stadt – gebraucht werden jetzt Parkhäuser und keine Hotels. „Sie nennen es Fortschritt, dabei ist es in Wirklichkeit nur Gier“, stellt ein Ex-Kamerad Walkers einmal lakonisch fest. Und an Silvester denkt Walker wieder einmal „Städte sind eine Art Krieg“. Selbst Rassismus ist im sonst eher liberalen Kalifornien an allen Ecken zu erleben, Schwarze sind auch hier Freiwild.

Das Tolle an diesem Buch ist aber wie Robertson seine Gedanken in einer auch durch die tadellose Übersetzung (Anne-Kristin Mittag) wirkenden Poesie erfahrbar macht. Ein Film Noir in Buchform, wir fühlen und riechen mit, wenn Walker seine Wanderung durch das von Prostituierten, Raufbolden und nicht immer freundlichen Journalistenkollegen bevölkerte Nachkriegsamerika antritt. Zwischendurch darf er für sein Blatt auch noch zu einer Reportage über Obdachlose in den USA nach San Francisco reisen, aber das Bild des Elends und der Verzweiflung ist immer dasselbe – nur das nebelige Wetter ist anders. Ein Buch, das lange nachwirkt.


„Wie man langsamer verliert“ von Robin Robertson
Preis: € 25,00
ISBN: 978-3-446-26571-4
256 Seiten

Buchtipp – Steffen Kopetzky, Mondschau

Pockenausbruch an der Eifel


Auch 1962 gab es eine Seuche in Deutschland: Steffen Kopetzky (Bild) erzählt in „Monschau“ höchst spannend über einen Pockenausbruch an der Eifel.
Text: Helmut Schneider / Foto: Creative Commons (CC BY-SA 4.0)


Als ein Außendienstmitarbeiter bei den Rither-Werken aus Indien die Pocken mit nach Hause mitbringt, ist in dem kleinen Ort Monschau an der belgischen Grenze Feuer am Dach. Die Fabrik ist der größte Arbeitgeber und außerdem ist gerade Karneval-Zeit – da kann man doch nicht einfach alles zusperren. Die Diskussionen sind uns vertraut, doch Steffen Kopetzky bringt uns in seinem genau recherchierten Roman aus dem Jahr 1962 doch auch vor Augen, wie wenig Staaten damals wie heute auf Pandemien vorbereitet sind. Damals gab es etwa noch keine Schutzanzüge – der für die Seuchenbekämpfung engagierte Arzt in Ausbildung muss etwa einen umgebauten Stahlarbeiter-Anzug tragen und wankt als Raumfahrer durch die idyllische Berglandschaft. Und die Erbin der Rither-Werke schleicht sich einfach mit einer Karnevals-Krankenschwestern-Tracht ins längst abgesperrte Krankenhaus weil sie ihre Freundin besuchen will – die völlig Naive muss dann natürlich für Wochen in Quarantäne drinnen bleiben.

Der Erzählkunst des Autors ist es zu verdanken, dass wir auf 350 Seiten gleich mehrere durchaus komplexe Schicksale miterleben können. Kopetzky erzählt nicht nur eine Liebesgeschichte im noch verklemmten Nachkriegsdeutschland, sondern dröselt auch noch die zahlreichen Stränge, die zwischen dem 3. Reich und dem Wirtschaftswunder laufen, auf. Der mächtige Chef der Rither-Werke (Vorbild war die Otto Junker GmbH) war Liebkind der Nazis und ein Profiteur des Systems von Zwangsarbeitern. In seinem Unternehmen hat er sich mit Kriegsversehrten eine treue Gefolgschaft aufgebaut. Abhängig ist er nur von den Investoren im nahen Luxemburg, wo eine Alte Dame nach dem Vorbild Dürrenmatts, alle Fäden in der Hand hält. Dazu schnüffelt ein lästiger, unsympathischer Journalist der „Quick“ herum, der unschwer als Johannes Mario Simmel zu erkennen ist. Mit Jazzmusik, Sartre (Vera, die Erbin studiert in Paris) und vielen Details (der griechischstämmige Jungarzt kann etwa kein Moussaka kochen, da Melanzani in Deutschland zu dieser Zeit unbekannt sind) wird eine Atmosphäre geschaffen, in die der Leser wie in einen Mantel schlüpfen kann.

Und Kopetzky hält die Spannung wie in einem Krimi bis zuletzt aufrecht. Man wird da etwa an die frühere Meisterin dieses Genres Vicki Baum erinnert. Viele Fragen müssen schließlich beantwortet werden: Kriegen sich die beiden Verliebten aus gänzlich anderen Kreisen am Ende, gelingt es die Seuche einzudämmen und mit welchen Verlusten und entgeht der Ex-Nazi seiner Entlarvung? Schließlich fällt im Winterwald sogar noch ein Schuss. Aber mehr sei hier nicht verraten.


„Monschau“ von Steffen Kopetzky
Gebundene Ausgabe, 352 Seiten
ISBN: 978-3-7371-0112-7
Preis: 22,00€

AusBlick

St. Corona


Geheimprojekt. Uns kam ein Vorhaben der Bundesregierung zu Ohren, an dem bereits fieberhaft gearbeitet werden soll …
Text: Walter Posch / Foto: iStock by Getty Images / Bearbeitung: Wolfgang Halamiczek


Adlerturm.
Wie gut informierte Kreise zu berichten wissen, plant Bundeskanzler Sebastian Kurz angesichts der bevorstehenden Impfkampagne im Gedenken der voraussichtlichen Überwindung der Corona-Pandemie ein geradezu sensationelles Bauprojekt. Der seit 500 Jahren Rudiment gebliebene Nordturm des Stephansdoms, auch Adlerturm genannt, soll eine neue Spitze erhalten. Es ist daran gedacht, die die Pummerin beherbergende Haube des Nordturms mit einer kühnen Stahl-Glas-Konstruktion zu überbauen, die von innen magentarot ausgeleuchtet werden soll und an der Spitze eine im Durchmesser 2,88 Meter große Corona-Kugel trägt. An der Finanzierung wird sich die Magenta Telekom beteiligen, die im Gegenzug die Lizenz für das Betreiben einer 5G- Sendestation in der Corona-Kugel erhalten soll. Über Details der Finanzierung wurde nichts verlautbart. Wie man aus kirchlichen Kreisen hört, soll der kunstaffine Dompfarrer Toni Faber vom Projekt sehr angetan sein, und auch der sonst zurückhaltende Kardinal Schönborn signalisiert vorsichtige Zustimmung angesichts einer leuchtenden purpurnen Turmspitze. Das Vorhaben sei somit nicht nur ein großartiges Erinnerungsprojekt an die Solidarität und das geduldige Durchhalten der Bevölkerung während der schwierigen Zeit der Massenquarantäne und des stummen Ausharrens in Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit, sondern gleichzeitig das erste nachhaltige Technologieprojekt der Bundesregierung zur Resurrektion der darniederliegenden Ökonomie, das Tausenden von Arbeitslosen langjährige Beschäftigung sichert. Nachdem trotz Impfungen und millionenfacher Tests ein Ende der Pandemie wegen immer aggressiverer Virusmutanten nicht genau abzusehen ist und damit auch nicht ein definitives Ende der verfassungsrechtlichen Einschränkungen, will man hinsichtlich des offiziellen Eröffnungstermins im Lichte der gewonnenen Erfahrungen des letzten Jahres vorsichtig bleiben und avisiert vorerst den 100. Todestag von Bundeskanzler Dollfuß am 25. Juli 2034 als Tag der voraussichtlichen wiederherstellung der Demokratie.