3 Menschen am Dach eines Hochhauses – Isabella Straubs Roman „Nullzone“

Die einen wohnen in einem schiefen Gemeindebau-Hochhaus, die anderen haben viel Geld angezahlt, um rundherum in einem futuristischen Wabenbau unterzukommen. Das Stadtentwicklungsgebiet, in dem beides angesiedelt ist, trägt den verstörenden Namen Nullzone. Beim Wohnen offenbaren sich auch heute noch die sozialen Klassen.

Die Wiener Autorin Isabella Straub bringt eine Hausmeisterin mit Medikamentenproblem, einen Paketzusteller, der Unternehmer – Drohnenzusteller – werden will, und einen Zukunftsforscher, der Dauergast in einer Startup-Castingshow ist, zusammen. Abwechselnd nehmen wir als Leser an ihren Sorgen teil. Dramatik bekommt die Geschichte, weil das Hochhaus umzufallen droht – eine Sanierung würde jedes Budget sprengen, aber die Bewohner desselben gehen natürlich trotzdem für ihre lieb gewordene Einöde auf die Straße.

Die drei Hauptpersonen haben natürlich alle ihre Macken. Zukunftsforscher Gabor will eigentlich gar nicht in seine Wabe umziehen. Er wurde bloß von seiner Frau in das Projekt genötigt. Außerdem hat er den Verdacht, an einer schweren Krankheit zu leiden. Paketzusteller Rachid leidet unter der Trennung von seiner Freundin, gefällt sich im Macho-Boss-Gehabe und hat leider wenig im Kopf, während die Hausbesorgerin Elfi noch immer hofft, ihr verschwundener Sohn würde zurückkommen. Rührend kümmert sie sich aber um eine halb-demente Nachbarin. Am Ende kommen alle aus verschiedenen Motiven auf dem Dach des Hochhauses zum Showdown zusammen, wo Rachid Gabor beweisen will, dass seine Drohne einsatzfähig ist.

Isabella Straub ist ein unterhaltsamer Roman über das Zusammenleben in einer Großstadt gelungen, ihr Personal ist interessant. Man ahnt, welche Schicksale in den bereits jetzt bestehenden Waben schlummern.

Straub wird ihren Roman auch bei Rund um die Burg (9./10. Mai) vorstellen.


Isabella Straub: Nullzone
Elster & Salis, 372 Seiten, € 26,50

In den Schlund der Society – Stefanie Sargnagels „Opernball“ im Theater Rabenhof

Bild: ©Ingo Pertramer

Die Wiener Schriftstellerin Stefanie Sargnagel erkundete im Vorjahr im Auftrag des Rabenhof Theaters und Johann Strauss 2025 tatsächlich den Opernball. Ihre Beobachtungen mündeten jetzt in dem Theaterabend „Opernball – Walzer, Wein und Wohlstandsbauch“. Und so erleben wir in der Regie von Christina Tscharyiski Laura Hermann, Martina Spitzer, Skye MacDonald und Jakob Gühring in Blütenroben – sie sehen echt aus wie ein Blumenarrangement – beim Besuch des berühmtesten Balls der Welt. Sie spielen neben der Autorin eine kleptomanische Kellnerin und einen Strauss-Experten mit Rededurchfall (irgendwie musste das ja rein…). Die wirklich fetzige Musik kommt von der Band Salò, die mit einer Art New Wave-Punk für beste Stimmung sorgt. Das Publikum nimmt die Satire auf die Bussi-Bussi-Society dankbar auf, wir erleben ein gar nicht so feines Gerangel um gute Sicht auf die Eröffnung, den gescheiterten Versuch der Crew in die viel lustigere Mitarbeiter-Kantine zu kommen und am Ende öffnet sich auf einer Loge ein Höllenschlund. Der Opernball ist natürlich eine Klassengesellschaft, die wahren Promis sitzen ja gut geschützt in ihren Logen. Das Premierenpublikum feierte die Crew sehr ausgiebig. In Wirklichkeit ist aber vielleicht die Fernsehübertragung des Balls (hab ich allerdings noch nie gesehen) die noch viel größere Satire…

Infos & Karten: rabenhof.at

Pflegekraft trifft Karrierefrau – Susanne Gregors „Halbe Leben“

Der neue Roman der in Wien lebenden aus der Slowakei stammenden Autorin Susanne Gregor beginnt gleich mit einem Absturz. Bei einem Spaziergang mit Paulína, der Betreuerin ihrer Mutter, fällt Klara in eine tiefe Böschung und kommt ums Leben. Die folgenden Seiten erzählen dann das Davor. Und das ist interessant, denn Gregor versteht es, Alltagsszenen so zu verdichten, dass die dahinter liegenden Probleme in den Familien verständlich werden. Denn natürlich hat auch die slowakische Pflegekraft Paulína daheim eine Familie, die sie jeweils für zwei Wochen verlassen muss. Denn so ist der Deal mit der Karrierefrau Klara, die schon mit ihrer halbwüchsigen Tochter überfordert war und sie deshalb von ihrer Mutter betreuen ließ. Doch Mutter Irene ist nach einem Schlaganfall selbst pflegebedürftig und Klaras Mann Jakob ein Träumer, der recht unenergisch als Fotograf arbeitet. Als Paulína kommt, scheint sich alles zum Besten zu entwickeln. Sie und Klara sind gleichaltrig, vielleicht kann sich gar so etwas wie eine Freundschaft entwickeln.

Susanne Gregor, deren Vorgängerromane „Das letzte rote Jahr“ und „Wir werden fliegen“ schon sehr positiv aufgefallen sind, weiß gekonnt das Verhältnis der beiden Frauen zueinander zu entwickeln. Zwischendurch machen wir als Leser auch einen Abstecher in die Gedanken der zunehmend dementer werdenden Mutter Irene. Niemand hat böse Absichten und doch entstehen Kränkungen, ihre Lebenswelten sind einfach sehr verschieden. Und beide haben immer wieder das Gefühl zu versagen – vor allem natürlich in ihrer Mutterrolle. Mit „Halbe Leben“ ist Gregor ein Roman gelungen, der dem komplexen Frauenleben heute gerecht wird.

Susanne Gregor wird ihren Roman auch bei RUND UM DIE BURG (Freitag, 9. Mai und Samstag 10. Mai) präsentieren.


Susanne Gregor: „Halbe Leben“
Zsolnay Verlag, 190 Seiten, € 24,50

Ein Fest der Schauspielkunst: „Egal“ und „Ellen Babić“ von Marius von Mayenburg im Akademietheater.

Bild: ©Monika Rittershaus

Zwei Einakter, die man in der Folge auch einzeln im Akademietheater buchen kann. In „Egal“ spielen Caroline Peters und Michael Wächter ein Paar mit zunächst ungewöhnlicher Arbeitsteilung. Sie ist die erfolgreiche Karrierefrau, die gerade von einer Geschäftsreise aus Italien zurückkommt, während er auf die Kinder aufpassen muss und gar nicht zu seiner Arbeit – er ist Übersetzer – finden konnte. Streit lauert da hinter jeder Banalität, sogar das mitgebrachte Geschenk (schlechtes Gewissen?) wird zum Anlass. Doch Marius von Mayenburg ist ein Theaterprofi und weiß, dass das keinen Abend trägt und so wechseln mittendrin die beiden ihre Rollen – er kommt heim und sie darbt zu Hause. Zusätzliche Konflikte kommen auf, als sie oder er plötzlich ein Angebot bekommt, ins Ausland zu übersiedeln und dort richtig viel Geld zu machen. Thomas Jonigk hat das sehr flüssig und abwechslungsreich und sogar mit Slapstickelementen inszeniert. Das Publikum feiert zurecht die beiden Schauspieler – Caroline Peters kehrt ja mit dieser Rolle an die Burg zurück.

Mehr spannend, denn lustig der zweite Einakter: Ellen Babić ist eine Schülerin, die sich bei einer Klassenfahrt betrinkt, am WC zusammenbricht und dann die Nacht bei der Lehrerin Astrid (Dörte Lyssewski) verbringt. Die ist allerdings seit Jahren in einer Beziehung mit einer ehemaligen Schülerin – Klara (Maresi Riegner). Eine Beziehung, die eben auch auf einer Klassenfahrt begonnen haben soll. Der schleimige Direktor (Jörg Ratjen) kommt bei dem Paar zu Besuch, um von einer Beschwerde des Vaters von Ellen Babić zu berichten. Die Sache könnte ein Kriminalfall werden. Gespielt wird im nämlichen modern-praktischen Bühnenbild, wirklich aufgeklärt wird die Sache aber nicht. Dafür sehen wir auch hier beste Schauspielkunst. 

Infos und Karten: burgtheater.at

Tito-Partisanen und Winnetou – Clemens Meyers Monumentalroman „Die Projektoren“

Die 1050 Seiten dieses Romans sind sowohl ein Lesevergnügen als auch ein Bergwerk für Germanistik-Seminararbeiten. Clemens Meyers „Die Projektoren“ schafft nämlich zweierlei – eine spannende Handlung zu erzählen und Sätze zu finden, die nachwirken. Dabei schert sich Meyer erfrischend wenig um drohende Kitschvorwürfe. Da hat endlich wieder einmal einer einen Roman geschrieben, der Position bezieht.

„Die Projektoren“ beleuchtet die dunkelsten Kapitel der Geschichte des Balkans. Schon der 1. Weltkrieg hatte hier seinen Ausgangspunkt, aber im Roman sind wir vor allem im blutigen Partisanenkrieg gegen die Nazis und die mit ihnen verbündeten kroatischen Ustascha-Faschisten, im Tito-Kommunismus und später im Bürgerkrieg nach dem Tod des Diktators. Als logischer Abschluss dient das Flüchtlings-Leid auf der sogenannten Balkanroute. Und als Kontrastprogramm sind wir bei den ungemein erfolgreichen deutschen Karl-May-Verfilmungen dabei, die um die Plitvicer Seen herum gedreht wurden. Da kämpfen zwar auch Indianer ums Überleben, aber das Publikum durfte eben auch „echte“ Helden anhimmeln. Ein Franzose – Pierre Brice – spielte den Winnetou, ein Amerikaner – Lex Barker – den Deutschen Old Shatterhand.

In „Die Projektoren“ werden viele Geschichten erzählt – so reist etwa Pierre Brice mit einem jugoslawischen Schauspieler, der im Film Winnetous Vater spielt und ein veritabler Schürzenjäger ist, durch die USA, um echten Indianern bei ihrem Kampf um mehr Rechte zu unterstützen. Als Hauptperson dient Meyer aber ein Mann, der immer nur als der Cowboy genannt wird, weil er ein kariertes Halstuch trägt. Der diente als Halbwüchsiger den Partisanen als Meldegänger, sitzt dann aber trotzdem Jahre auf der berüchtigten Gefängnisinsel und macht sich bei den May-Dreharbeiten als Komparse und Übersetzer unentbehrlich. Denn just vor seiner Haustüre auf einer Schäferhütte kämpfen Mays Helden ihre gerechten Kämpfe. Am Ende sucht er seine Nichte mitten auf den Schauplätzen des IS-Terrors im Iran, wo er zur Unterhaltung der Dorfbewohner Winnetou-Filme zeigt – Karl May hatte ja auch einige Orient-Abenteuer hinterlassen. Sehr wichtig sind aber auch die gar nicht harmlosen Spiele blutjunger Neonazis in der damaligen DDR. An der Seite der Kroaten ziehen diese später im Balkankrieg gegen die Serben. Die verschiedenen Handlungsstränge lassen sich freilich kaum nacherzählen – da fällt einem Wiener natürlich gleich Doderers Ausspruch ein: „Ein Werk der Erzählungskunst ist es umso mehr, je weniger man durch eine Inhaltsangabe davon eine Vorstellung geben kann“, verlautbarte der Autor 1966. In den „Projektoren“ löst eine groteske Szene die nächste ab.

Als Schlüsselszene könnte man den historischen Vortrag, den Karl May 1912 in Wien gehalten hat und bei dem angeblich Adolf Hitler unter den begeisterten Zuhörern gewesen sein soll. Der Titel: „Empor ins Reich des Edelmenschen“, denn der Schilderer unzähliger Kämpfe soll in Wirklichkeit ein großer Humanist gewesen sein. „Die Projektoren“ ist ein Roman, bei dem man nach der letzten Seite das Gefühl hat, ihn gleich noch einmal lesen zu müssen.


Clemens Meyer: Die Projektoren
S. Fischer, 1056 Seiten, € 36,00

Publikumsdialog statt innerer Monolog – „Fräulein Else“ frei nach Schnitzler im Volkstheater

Bild: ©Marcel Urlaub

Arthur Schnitzlers Novelle „Fräulein Else“ gilt neben „Leutnant Gustl“ als Prototyp des literarischen inneren Monologs. Eine junge Frau wird von ihrem bankrotten Vater genötigt, einen reichen Kunsthändler anzupumpen, um Gefängnis und Schande von der Familie abzuwenden. Der will allerdings einen „Deal“ – eine Viertelstunde soll Else nackt vor ihm stehen. Bei Schnitzler nimmt sie sich daraufhin mit Veronal das Leben. Aber funktioniert das heute noch, nach Weinstein & Metoo? Regisseurin Leonie Böhm und Schauspielerin Julia Riedler versuchen im Volkstheater eine Antwort.

Dabei startet ihre Else gleich zu Beginn einen Dialog mit dem Publikum. Banalitäten werden ausgetauscht, Else fragt nach Veronal, spricht die Souffleuse als Tante an, einen jungen Mann als ihren Cousin.  Aus dem inneren Monolog wird ein äußerer. Dazu ist eine enorme Bühnenpräsenz notwendig, die Julia Riedler auch aufbringt, als Requisite dient nur ein Kronleuchter. Nach und nach kommen aber die Umstände des Deals zutage, der Kunsthändler als schmieriger Typ, der seine Knie an ihre presst entlarvt. Aber Else darf ausschweifen: wie wäre es, wenn alle bei ihrer Entkleidung dabei wären – würde ihm das den Spaß versauern? Wenn sie dann nur mit Unterhose bekleidet vor ihm steht, käme er vielleicht sogar zur Selbsterkenntnis und er sieht ein: „Mein Verhalten war ja megatoxisch!“ Das ist dann wieder so absurd, dass es komisch rüberkommt. Am Ende öffnet sich der Eiserne Vorhang und Else darf in ein Nebelmeer tanzen.

Schnitzler hat in „Fräulein Else“ den Frauenkörper brutal als Ware dargestellt – einmal schauen kostet 30.000 Kronen. Diese Kapitalismuskritik geht an diesem Abend vielleicht doch etwas unter. Das Premierenpublikum jubelte Schauspielerin und Regisseurin dennoch frenetisch zu.

Infos & Karten: volkstheater.at

Dialog zwischen Wien und München – Daniel Glattauers Roman „In einem Zug“

Ein Buchtipp von Otto Brusatti

Er reizt wieder seinen Plot aus (Stichwort „Nordwind“). Ein erzählender Mann, diesmal schon ein Kleinwenig jenseits seiner Lebensmitte und von Schreibhemmungen geplagt (seit vielen Jahren nun schon, noch dazu eine für Liebesromane; sowie dauernd ihm gegenüber eine leicht aggressive, straffe, jüngere Frau (tätig zwischen Psycho und Marathon). Sie sitzen voreinander im Zug, zufällig, so scheint es. In den anstehenden viereinhalb Stunden über die Westbahnstrecke von Wien nach München kommt man ins Reden und mehr. Es entstehen langsam Offenheiten. Man tauscht sich immer mehr aus über Zwischenmenschliches, über die seit Dezennien glücklich laufende Ehe des einen sowie über die wechselnden Beziehungen der anderen.

Glattauer schreibt in der Einheit des Ortes und (fast) der Zeit, er – zugegeben – versteht es virtuos, Dialoge vom Vertrautwerden bis zu einer ersten Erotik zu formulieren; zudem wechselt er oft aus dem Gespräch in das Parallel-Denken des Mannes, witzig und ironisch und beklommen. Kaum Aktuelles kommt vor, aber die beiden Menschen (nur gelegentlich unterbrochen) breiten etwas aus voreinander – und sie breiten dabei sich vor allem selbst und viel vom eigenen Scheitern aus. Der Mann ist am Weg, im Verlag zur Verantwortung gezogen zu werden; er ahnt, es müsste alles dort in München schiefgehen. Die Frau wird immer begieriger zu erfahren, wie denn eine gute Beziehung tatsächlich laufen könne, so lange und so treu, wie ihr (zu) oft versichert wird. Zudem kommen einige Alkoholprobleme heraus, zudem wird es immer schwerer, sich weiterhin ohne geradezu kindliche Scheu mit dem Faktor Sex auseinanderzusetzen.

Der Schluss des Buches soll überraschen und verblüffen. Er ist dennoch irgendwie erwartbar gewesen. Der Dialog läuft sich ab Salzburg langsam fest, nachdem er etwa in Amstetten oder noch in Attnang-Puchheim blühte.  

Ein Lesebuch, ein feines, eines zum Dranbleiben während 200 Seiten. Man nimmt den beiden Protagonisten zwar bald nicht mehr alles ab. Der Mann ist ja doch ein bisschen ein Lulli und kein cooler Bestseller-Autor, die Frau reagiert wie die Erfolgs-Tussies in bemühten Magazinen. Manchmal möchte man aber, ganz am Schluss, sogar doch noch wissen, wie es weitergehen würde/könnte/sollte. Und das ist ja für solche Geschichten-Bücher ein großes Kompliment.


Dialog zwischen Wien und München – Daniel Glattauers Roman „In einem Zug“. Ein Buchtipp von Otto Brusatti.

Daniel Glattauer: In einem Zug
Roman, Dumont, 204 Seiten, € 24,50

Eine Geschichte für jeden Tag im Jahr – Monika Helfer: Wie die Welt weiterging

Kurzgeschichten besitzen in der deutschsprachigen Literatur leider nicht die Anerkennung, die sie verdienen und die sie etwa in den angelsächsischen Ländern haben. Dabei sind stark verdichtete Geschichten manchmal viel interessanter als dicke Romane.

Die Vorarlberger Autorin Monika Helfer beweist in ihrem neuen Band Meisterschaft. Die 365 Kurzgeschichten – eine für jeden Tag im Jahr – wirken oft autobiographisch. Dabei geht es in vielen auch sehr phantastisch zu – Männer werden zu Bodyguards, Ohrringe werden gesucht, ein Urgroßvater ist mit der Aufsicht über ein Kind überfordert und eine grazile Frau wird als Fitnesstrainerin von einem Kunden schlecht behandelt. Aus Situationen entwickeln sich Gespräche oder umgekehrt. Schlagertexte oder Werbesprüche aus der Kindheit gewinnen eine andere Bedeutung.

Die meisten Geschichten hat Helfer für die Vorarlberger Nachrichten geschrieben, deshalb haben sie auch oft die gleiche Länge von etwa anderthalb Buchseiten. Aber das genügt der Autorin auch für ihre wunderbare Prosa und die Entwicklung ihres Personals, das manchmal an Franz Kafka erinnert.

Das Konzept eines Buches, das man nicht in einem durchliest, hat ja Potenzial. Ich habe selbst immer Fernando Pessoas „Das Buch der Unruhe“ neben dem Bett liegen. Die Gedanken des fiktiven Hilfsbuchhalters Soares sind wie ein Tagebuch der Erkenntnis über die Tücken des Lebens.


Was war J. Strauß jun. und was nicht? – Ein Essay von Otto Brusatti

Text: Otto Brusatti | Bild: ©KHM-Museumsverband, Theatermuseum

Er hat nun selbst Anteil am leichten Furor des so beliebten Jahresbedenkens oder -erinnerns, nach Bruckner und Kafka, nach Schönberg und Kant, Lenin, Marco Polo, Marlon Brando, Strindberg, Munch, Lord Byron, Puccini, Parkinson oder Uschi Glas und so fort. Aber zugegeben: Die Kulturpolitik braucht Hinweise, Haken, leicht sentimental-vermittelbare Daten, sie benötigt Genies und Stars, tolle Typen oder Verbrecher, dann aber Dutzende vor allem von solchen, welche das Kreative im Menschen zum Höhepunkt der Schöpfung hinaufgebracht haben. Man braucht sie, um jeweils aktuell seltsame Feier-Budgets ausschütten zu können (sozusagen: denn nur so geht im Kulturellen, vor allem in Österreich, was weiter). Aber jetzt! 2025: Der sogenannte Sohn, bezeichnenderweise verstorben wenige Monate vor der vorletzten Jahrhundertwende, dieser Johann Strauß (wir schreiben den nun gelegentlich dergestalt, halt einfach nostalgisch und nicht ganz korrekt, aber solch eine Überlieferung gibt es eben auch, eine mit dem scharfen „ß“), hat den Zweihunderter im Oktober.

Okay, er war einer der kreativsten Musiker aller Zeiten, Völker und Kulturen. (Hier darf man so einen Maximaltopos durchaus verwenden.) Wien, die Strauß-Stadt Nr. 1, macht nun ein zum Teil etwas seltsam programmiertes Strauß-Jahr mit dem Schani. Geschenkt. Es wird viel Geld für zum Teil nicht sofort einsichtige Projekte und deren Ausführende aufgewendet. Auch geschenkt. Kitsch wird sich nicht vermeiden lassen, schräge Nostalgie auch nicht, und der Tourismus braucht seine Turbos. Es sollte hoffentlich der Bedeutung dieses Mannes schon entsprechen. Wien, wo und von wo die Bühnen-, Orchester- und Tanzunterhaltungswerke von Strauß plus Familie noch allemal als unangefochtener Welthit tradiert werden, will sich halt fein-schräg herausputzen. Und das geschieht jedenfalls anständiger als noch vor Jahrzehnten.

Damals hat man etwa zu den Jubiläumsdaten, also vor 50 oder 25 Jahren, gerade einmal Ausstellungen plus ein wenig neue Literatur und Medienarbeit zu einem der weltweit wirkungsvollsten Kapiteln der Wiener und österreichischen Kultur- und Kunstgeschichte ermöglicht, gefördert und diese aus rein wirtschaftlichen Erwägungen international zu platzieren versucht. Mehr nicht. Man hat daneben Jahrzehnte hindurch die notwendige, voraussetzende und für die Strauß-Stadt eigentlich selbstverständliche Quellenarbeit an seinem und seiner Familie riesigen Nachlass vernachlässigt, nein, weitgehend trotz Betteleien seitens der Wiener Musikwelt ausgehungert und mickrigen Sponsoren überlassen. Geschenkt nun auch diesmal und 2025. Dieser Maestro Strauß ist sozusagen unbefleckt spannend geblieben! Das sei einmal vorweg behauptet, nein, festgestellt.

Den ganzen Essay können Sie im aktuellen Heft lesen. Otto Brusatti bereitet ein Buch über Johann Strauß vor, das noch im Frühjahr erscheinen und Beiträge diverser Autorinnen und Autoren (u.a. von Elfriede Jelinek) beinhalten wird.

Eine Familie auf der Flucht – Micha Lewinskys „Sobald wir angekommen sind“

Ein Zwischenfall auf NATO-Gebiet in Europa lässt Schlimmes befürchten – wird gar mit Atomwaffen geantwortet? In Zürich läuten für den wenig erfolgreichen Drehbuchautor Ben Oppenheim die Alarmglocken. Auch seine von ihm kürzlich getrennte Frau Marina macht sich Sorgen und so bucht sie für Ben und die zwei Kinder Moritz und Rosa einen Flug nach Brasilien. Obwohl Ben längst eine andere Freundin – die erfolgreiche Künstlerin Julia – hat. Der Hintergrund: Jüdische Familien sind aufgrund der Lehren aus der Geschichte stets fluchtbereit. Werden Ben und Marina in Recife wieder ein Paar?

Micha Lewinsky ist eigentlich Filmregisseur, „Sobald wir angekommen sind“ ist sein erster Roman. Und er packt nicht wenig in die Story: Jüdische Selbstzweifel, Ehekrise, Kindererziehung, neue Liebe. Aus der Sicht von Ben erzählend bleibt er dabei aber immer auf der humorvollen Seite und scheut sich nicht, seinen Protagonisten blöde aussehen zu lassen. Ben weiß ja selbst, dass er einiges vergeigt hat. Sein Drehbuch über Stefan Zweig in Brasilien wird von seiner Produzentin abgelehnt, Neues fällt ihm nicht ein. Zwischen Frau und Geliebter kann er sich nicht entscheiden, wahrscheinlich bleibt er sowieso allein zurück. Wir folgen ihm auf seiner Flucht ebenso wie bei seinen Selbsttäuschungen. Stilistisch ist der Roman sicher nicht der Hammer, aber mit seinen vielen Reflexionen über das Judentum, Männer in der Krise oder grundsätzlich die Situation unserer Welt ist das Buch mit Vergnügen zu lesen.


Micha Lewinsky: Sobald wir angekommen sind
Diogenes, 280 Seiten, € 26,50