„Der Grenzwald“ – Anmerkungen zu Heimito von Doderers Romanfragment zur Einstimmung auf den D-Day am 21. September

Nach dem Riesenerfolg des 1400-Seiten starken Romans „Die Dämonen“ 1956 plante Heimito von Doderer ein noch größeres Werk, das vier Teile umfassen sollte. Fast hätte Doderer ja schon den Nobelpreis errungen, in der deutschsprachigen Literatur machte ihm den Meistertitel niemand streitig. Er war jetzt 60 Jahre alt und hatte noch viel vor. Seinen Romankomplex nannte er im Tagebuch Roman No 7, in Anlehnung an den verehrten Ludwig van Beethoven und seine 7. Symphonie. Den ersten Teil stellte Doderer noch fertig – 1963 erschien mit „Die Wasserfälle von Slunj“ der „Kopfsatz“. Der zweite Satz „Der Grenzwald“ sollte aber unvollendet bleiben, den Doderer starb 1966 an einem zu spät erkannten Darmkrebs.

„Der Grenzwald“ erschien 1967 als Fragment und unterscheidet sich in vielfacher Hinsicht von Doderers bisherigem Werk. Der zweite Satz einer Symphonie ist für gewöhnlich ein langsamer. Wir erfahren von einigen jungen Männern, die bald schon in den Kriegsdienst einrücken müssen und bald auch schon in russische Gefangenschaft geraten. Sie landen in einem Lager im tiefsten Sibirien. Da sie aber allesamt Offiziere sind, geht es ihnen in der Gefangenschaft erstaunlich gut. Sie lernen Fremdsprachen – vor allem Russisch, können musizieren und sich mit Büchern oder mitgefangenen Gelehrten auch weiterbilden. Sogar ein Ausgang ist möglich und nach und nach übernehmen die Gefangenen auch viele Arbeiten im Lager aber auch im nahen Städtchen. Einer von ihnen – Heinrich Zienhammer aus einem (erfundenen) niederösterreichischen Dorf – wird sogar Verantwortlicher für die Holzbesorgung, denn aufgrund des Bürgerkriegs nach der Revolution liegt es mit der Organisation auch der notwendigen Infrastruktur schlimm im Argen. Im Lager gibt es aber natürlich die verschiedenen Nationalitäten der k.u.k. Monarchie, von der man freilich bereits hört, dass sie zerfallen ist. Und so wird Zienhammer Zeuge eines Massakers der Tschechen an den Ungarn, ja er soll diese sogar verraten haben. Aus den Tagebucheintragungen wissen wir, dass Zienhammer nach der Befreiung in Wien Angst hat, vor Gericht gestellt zu werden und einen Mitwisser umbringt. Der vorliegende Text des Romans behandelt freilich nur das Lagerleben und einen missglückten Versuch, mit der Eisenbahn wieder nach Deutschland oder Österreich zu kommen.

Was auffällt ist, dass Doderer im „Grenzwald“ einen für ihn ungewöhnlichen einfache Stil schreibt. Er setzt kurze Sätze ein, manche lässt er sogar bewusst unfertig. Es wirkt vielfach wie stenografiert. Natürlich arbeitet Doderer im „Grenzwald“ seine eigene Kriegsgefangenschaft in Sibirien auf – er war ja nicht weniger als 4 Jahre lang unfrei. Was man noch an dem 240-Seiten-Fragment auffällt: Doderer geht es immer mehr um Atmosphäre, um den Raum und weniger um die Personen. Zienhammer ist kein Verbrecher, sondern ein unscheinbarer Mitläufer, der aufgrund der Ereignisse schuldig wird. Im Tagebuch schreibt Doderer noch 1966: „Zienhammer ist ein wahrer Repräsentant unserer Zeit: ein Mann der routinehaften, impotenten Wurstigkeit, unansprechbar aber auch unangreifbar: es ist daher ganz selbstverständlich, daß er siegt, daß er vernichtet, was ihm in den Weg gerät.“

Und: „Das Tempo Null bleibt der Kern erzählender Prosa…“ Doderer war und ist vielleicht moderner, als viele nur oberflächliche Leser vermuten würden.

Am 21. September feiern wir wieder den D-Day für Doderer – und zwar um 18.30 Uhr im Justizpalast, denn es geht diesmal mit dem Historiker Alfred Pfoser und der Schauspielerin Chris Pichler um den Brand des Justizpalasts in den „Dämonen“. Eintritt frei, keine Anmeldung möglich.