Buchtipp – Heimito von Doderer, Die Dämonen
Heimito von Doderers „Die Dämonen“
„Die Feder des Schriftstellers ist oft klüger als er selbst, wie mitunter das Pferd gescheiter als der Reiter.“ Helmut Schneiders Buchtipp: Heimito von Doderers „Die Dämonen“.
Auch wenn „Die Strudlhofstiege“ Doderers bekanntester und meistgelesener Roman geblieben ist, sind „Die Dämonen“ in Wirklichkeit ein leichter zu lesendes Werk. Man darf sich nur nicht von den fast 1400 Seiten abschrecken lassen.
Die Dramatik ist indes eine ähnliche: Während sich in der Strudlhofstiege alles auf den Unfall der Mary K am 21. September 1925 zuspitzt, ist es bei den Dämonen der Brand des Justizpalastes am 15. Juli 1927 sowie dessen Vorgeschichte, die Ermordung zweier sozialdemokratischen Demonstranten – eine davon ein Kind – im burgenländischen Schattendorf.
Einige der Figuren aus der Strudlhofstiege wie Mary K. oder Rene Stangeler kommen auch in den Dämonen prominent vor. Auch zeitlich sind die Dämonen quasi eine Fortsetzung. „Die Dämonen“ spielen zwischen dem Herbst 1926 und dem Hochsommer 1927 überwiegend in Wien und dessen näherer Umgebung, sowie in der Wiener Sommerfrische (Rax, Semmering), dem Burgenland und auf einer Kärntner Burg.
Auch in den Dämonen löst Doderer am Ende einige Konflikte auf und gönnt den meisten ein Happy End – am Schluss gibt es fast wie in einer Telenovela gleich mehrere Hochzeiten. Ursprünglich sollte der Roman „Dicke Frauen“ heißen, da einer der Chronisten eine Zeitlang besessen von ebensolchen ist. Es herrschte damals in den 20er-Jahren eben ein völlig anderes Frauenideal, nämlich das der sportlichen, burschikosen Frau.
In den Dämonen gibt auch echt unsympathische Figuren, nämlich den Kammerrat Levielle und den Hochstapler Imre Gyurkicz sowie einen Mörder mit dem bezeichnenden Namen Meisgeier. Doderer ist einerseits ein intellektueller, andererseits auch ein hemdsärmeliger Erzähler. Vieles wirkt nicht aufgeschrieben, sondern direkt erzählt. Die Sprachmelodie des Wienerischen ist durchgängig bestimmend.
Die Dämonen des Titels sind nach Doderers Erklärung die Weltanschauungen, quasi eine Fortsetzung des mittelalterlichen Aberglaubens. Der Historiker René Stangeler entdeckt nämlich auf einer Kärntner Burg, wohin er als Archivar eines Erben bestellt ist, eine Handschrift über eine recht seltsame Hexenaustreibung. In Wirklichkeit ging es dem damaligen Burgherrn nämlich um die Befriedigung seiner voyeuristischen Gelüste, die Auspeitschung der Hexen erfolgte mit Samtpeitschen. Auf Seite 1023 heißt es dann: „Damals nannte man es einen Dämon“. Und weiter: „Heute deklariert man das falsch, als ob es vernünftiger Herkunft wäre: eine Weltanschauung.“
Und das passt auch gut zu der Darstellung der historischen Ereignisse rund um den Justizpalastbrand nach dem skandalösen Fehlurteil im Schattendorf-Prozess. Doderer, der selbst ein studierter Historiker war, schildert das Gemetzel der Wiener Polizei an den Demonstranten (84 Todesopfer) als historisch falsch als ein Missverständnis, an dem weder der Republikanische Schutzbund noch die Einsatzkräfte Schuld tragen. Der Abschaum Wiens – der „Ruass“ – soll sich einen Spaß daraus gemacht haben, die Polizei herauszufordern.
Die am wenigsten glaubhafte Figur in dem Roman ist demnach auch der Arbeiter Kakabsa, der eine junge Dame vor einer Buchhandlung vor dem Sturz rettet und daraufhin ausgerechnet eine lateinische Grammatik kauft, um in der Folge brav Latein zu lernen. Sein Bildungseifer lässt ihn zu einem Gelehrten aufsteigen, der schließlich die große Bibliothek eines Fürsten verwalten soll. Am Ende gewinnt er schließlich noch die Hand der von allen verehrten Mary K.
Trotz der Fülle an Handlungssträngen ist der Roman sehr vergnüglich zu lesen. Es wäre eine wundervolle Aufgabe für einen Drehbuchschreiber, daraus eine TV-Serie zu machen – mit tollen Rollen wie der etwas patscherten späteren Millionenerbin Quapp oder den dicken Damen im Wiener Café. Und die einbeinige Mary K., deren Schönheit weiterhin auf die Gesellschaft ausstrahlt, wäre eine Glanzrolle für jede Schauspielerin. Dazu jede Menge Intrigen, versuchte Lieben, Halbweltfiguren und sogar ein spektakulärer Mord. Was will man mehr?
„Die Dämonen“ von Heimito von Doderer, C.H. Beck Verlag
1360 Seiten
ISBN: 978-3-423-10476-0
€29,80