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Buchtipp – Heimito von Doderer, Die Dämonen

Heimito von Doderers „Die Dämonen“


 „Die Feder des Schriftstellers ist oft klüger als er selbst, wie mitunter das Pferd gescheiter als der Reiter.“ Helmut Schneiders Buchtipp: Heimito von Doderers „Die Dämonen“.


Auch wenn „Die Strudlhofstiege“ Doderers bekanntester und meistgelesener Roman geblieben ist, sind „Die Dämonen“ in Wirklichkeit ein leichter zu lesendes Werk. Man darf sich nur nicht von den fast 1400 Seiten abschrecken lassen.

Die Dramatik ist indes eine ähnliche: Während sich in der Strudlhofstiege alles auf den Unfall der Mary K am 21. September 1925 zuspitzt, ist es bei den Dämonen der Brand des Justizpalastes am 15. Juli 1927 sowie dessen Vorgeschichte, die Ermordung zweier sozialdemokratischen Demonstranten – eine davon ein Kind – im burgenländischen Schattendorf.

Einige der Figuren aus der Strudlhofstiege wie Mary K. oder Rene Stangeler kommen auch in den Dämonen prominent vor. Auch zeitlich sind die Dämonen quasi eine Fortsetzung. „Die Dämonen“ spielen zwischen dem Herbst 1926 und dem Hochsommer 1927 überwiegend in Wien und dessen näherer Umgebung, sowie in der Wiener Sommerfrische (Rax, Semmering), dem Burgenland und auf einer Kärntner Burg.

Auch in den Dämonen löst Doderer am Ende einige Konflikte auf und gönnt den meisten ein Happy End – am Schluss gibt es fast wie in einer Telenovela gleich mehrere Hochzeiten. Ursprünglich sollte der Roman „Dicke Frauen“ heißen, da einer der Chronisten eine Zeitlang besessen von ebensolchen ist. Es herrschte damals in den 20er-Jahren eben ein völlig anderes Frauenideal, nämlich das der sportlichen, burschikosen Frau.

In den Dämonen gibt auch echt unsympathische Figuren, nämlich den Kammerrat Levielle und den Hochstapler Imre Gyurkicz sowie einen Mörder mit dem bezeichnenden Namen Meisgeier. Doderer ist einerseits ein intellektueller, andererseits auch ein hemdsärmeliger Erzähler. Vieles wirkt nicht aufgeschrieben, sondern direkt erzählt. Die Sprachmelodie des Wienerischen ist durchgängig bestimmend.

Die Dämonen des Titels sind nach Doderers Erklärung die Weltanschauungen, quasi eine Fortsetzung des mittelalterlichen Aberglaubens. Der Historiker René Stangeler entdeckt nämlich auf einer Kärntner Burg, wohin er als Archivar eines Erben bestellt ist, eine Handschrift über eine recht seltsame Hexenaustreibung. In Wirklichkeit ging es dem damaligen Burgherrn nämlich um die Befriedigung seiner voyeuristischen Gelüste, die Auspeitschung der Hexen erfolgte mit Samtpeitschen. Auf Seite 1023 heißt es dann: „Damals nannte man es einen Dämon“. Und weiter: „Heute deklariert man das falsch, als ob es vernünftiger Herkunft wäre: eine Weltanschauung.“

Und das passt auch gut zu der Darstellung der historischen Ereignisse rund um den Justizpalastbrand nach dem skandalösen Fehlurteil im Schattendorf-Prozess. Doderer, der selbst ein studierter Historiker war, schildert das Gemetzel der Wiener Polizei an den Demonstranten (84 Todesopfer) als historisch falsch als ein Missverständnis, an dem weder der Republikanische Schutzbund noch die Einsatzkräfte Schuld tragen. Der Abschaum Wiens – der „Ruass“ – soll sich einen Spaß daraus gemacht haben, die Polizei herauszufordern.

Die am wenigsten glaubhafte Figur in dem Roman ist demnach auch der Arbeiter Kakabsa, der eine junge Dame vor einer Buchhandlung vor dem Sturz rettet und daraufhin ausgerechnet eine lateinische Grammatik kauft, um in der Folge brav Latein zu lernen. Sein Bildungseifer lässt ihn zu einem Gelehrten aufsteigen, der schließlich die große Bibliothek eines Fürsten verwalten soll. Am Ende gewinnt er schließlich noch die Hand der von allen verehrten Mary K.

Trotz der Fülle an Handlungssträngen ist der Roman sehr vergnüglich zu lesen. Es wäre eine wundervolle Aufgabe für einen Drehbuchschreiber, daraus eine TV-Serie zu machen – mit tollen Rollen wie der etwas patscherten späteren Millionenerbin Quapp oder den dicken Damen im Wiener Café. Und die einbeinige Mary K., deren Schönheit weiterhin auf die Gesellschaft ausstrahlt, wäre eine Glanzrolle für jede Schauspielerin. Dazu jede Menge Intrigen, versuchte Lieben, Halbweltfiguren und sogar ein spektakulärer Mord. Was will man mehr?


„Die Dämonen“ von Heimito von Doderer, C.H. Beck Verlag

1360 Seiten
ISBN: 978-3-423-10476-0
€29,80

Buchtipp – Heimito von Doderer, Die Wasserfälle von Slunj

Ein Buchtipp von Helmut Schneider. Heimito von Doderer: Die Wasserfälle von Slunj


Für viele ist dieser letzte erschienene Roman (1963) Doderers gelungenstes Prosawerk. „Die Wasserfälle von Slunj“ sind „Doderer im Goldenen Schnitt, sind Doderer in Vollendung, sie sind die Essenz seines Schreibens…“ findet etwa Schriftstellerkollegin Eva Menasse im Nachwort der Jubiläumsausgabe.

Nun, die „Die Wasserfälle von Slunj“ sind mit knapp 400 Seiten zunächst einmal viel weniger umfangreich als „Die Strudlhofstiege“ (900 Seiten) und „Die Dämonen“ (1350 Seiten). Und sie haben daher naturgemäß auch viel weniger Personal. Allerdings waren sie auch bloß als erster Teil eines Romanprojektes gedacht, das Doderer sich in Analogie zu Beethovens 7. Symphonie vierteilig dachte. Da der Autor allerdings wenig später 1966 verstarb, sind nur noch Entwürfe von den weiteren Teilen übriggeblieben.

Wir erleben das Schicksal der englischen Industriellenfamilie Clayton ab den 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts. Rasch erzählt Doderer von der Heirat des jungen Robert Clayton mit Harriet und ihrer Hochzeitsreise auf den Kontinent, wo sie auch in Wien Halt machen – noch nicht wissend, dass sie sehr bald schon dort leben werden. Denn für die Maschinenfabrik Clayton empfiehlt sich eine Firmenzentrale in Mitteleuropa. Besonders beeindruckt ist das Paar aber von den Wasserfällen, den Wassermassen im kroatischen Slunj. Und genau dort wird ihr Sohn Donald, der 9 Monate später geboren wird, dann auch viele Jahre später ums Leben kommen. Die Fälle bilden sozusagen die Klammer des Romans. Dazwischen hat Doderer aber eine Fülle von Schicksalen gespannt – vom Aufstieg des einfachen Buchhalters Chwostik zum eigentlichen Firmenchef bis zum einfachen Volk der Hausmeister und Prostituierten, der Salondamen und Museumswärter. Die Kunst des Erzählers ist es, die jeweiligen Leben in wenigen Szenen auszustellen und dabei die Leser auch noch bestens zu unterhalten. Doderer ist unzweifelhaft einer der humorvollsten Autoren, die die österreichische Literatur je hervorgebracht hat.

Das dunkle Zentrum des Romans aber bildet der Industriellensohn Donald Clayton. Er lernt mühelos, ist technisch begabt und kann alle an ihn gestellten Anforderungen zur Zufriedenheit erfüllen. Allerdings redet er schon als Kind kaum und als er sich dann eine Partnerin fürs Leben suchen sollte, versagt er natürlich kläglich. Doderer gelingt dabei eine der witzigsten Szenen der Literatur. Während sich die von ihm verehrte Monica in ihrem Schlafzimmer bereits nackt auszieht und Donald dies auch andeutet, glaubt dieser, sie wolle erst noch einen Brief schreiben und betrachtet eine halbe Stunde lang wortlos den anbrechenden Starkregen. Wenig später kommt Donald dann bei einem ähnlichen Setting fast ums Leben. Doderer hat das Inszenieren solcher Parallelen spürbar Spaß gemacht. Das Scheitern und die Katastrophe Donalds so kurz vor dem Ersten Weltkrieg hat möglicherweise auch noch als Beispiel für ein viel größeres kommunikatives Versagen Bedeutung. Die Qualität dieses Romans liegt eben auch darin, dass er viele Deutungen zulässt.

„Die Wasserfälle von Slunj“ können sicher als ein Appetitmacher zum Romanwerk Heimito von Doderers herhalten. Und sie sind – auch wenn Doderer die großen politischen Probleme der Zeit seltsam ausspart – zweifelsohne eine schillernde Darstellung der Wiener Gesellschaft vor dem Ende der Donaumonarchie. 


„Die Wasserfälle von Slunj“ von Heimito von Doderer, C.H.Beck Verlag

€ 24,90
ISBN: 978-3-406-69960-3

Buchtipp – Marco Missiroli, Treue

Mittelschicht in mittleren Jahren in Mailand


Marco Missirolis Roman „Treue“ (Wagenbach Verlag) über ein Paar auf der Suche nach seinen Bedürfnissen soll heuer noch auf Netzflix als Serie herauskommen.
Buchtipp von Helmut Schneider.


War da was, oder war da nix? Als der Literaturdozent Carlo seiner Studentin Sofia auf der Damentoilette zu nahekommt, wird das als Hilfeleistung nach einem Schwächeanfall erklärt. Seine Ehefrau Margherita – obwohl nur mäßig eifersüchtig – will sich diese Sofia zwar ansehen, nimmt die Sache aber auch nicht wirklich ernst. Zumal sie gerade in erotische Träumereien mit ihrem Physiotherapeuten Andrea schwelgt. Wir sind im Jahr 2009, also mitten in der Weltwirtschaftskrise, als sich der Immobilienmarkt in Mailand von der Krise unbeeindruckt zeigt und Margherita ist Maklerin. Sie sichert auch das Familieneinkommen, denn Carlo verdient als Dozent fast nichts und als Redakteur von Reiseprospekten nur mäßig. Trotzdem wollen sie ihre Traumwohnung kaufen – ein sonnendurchflutetes Appartement im letzten Stock ohne Lift. Im zweiten, 2018 spielenden Teil des Romans wird Margheritas Mutter Anna – die 5. Hauptperson – dann auf der Treppe zu diesem Appartement dann böse stürzen und sich einer Operation unterziehen müssen.

WELTERFOLG
Marco Missirolis Roman „Treue“ ist ein Welterfolg und wird Ende des Jahres in einer Serie-Adaption bei Netflix gestreamt. Man kann vermuten, dass das damit zusammenhängt, dass in diesem Buch das Personal und die Zielgruppe perfekt zusammenpasst. Die Mittelschicht in den westlichen Ländern in den mittleren Jahren samt ihren Sorgen und Sehnsüchten mit den obligaten Ehebrüchen als Katalysator. Carlo und Margherita sind nicht reich, Carlos Eltern aber wohlhabend, während Margheritas Mutter Anna Schneiderin war. Zähneknirschend lassen sie sich von den Eltern finanziell helfen, weil die Traumwohnung zu verlockend scheint. Sofia, die Studentin kehrt nach dem Ausrutscher mit Carlo, der eigentlich ja keiner war, nach Rimini zurück, wo sie mit ihrem verwitweten Vater ein Eisenwarengeschäft führt. Einzig Andrea passt nicht so recht ins Milieu, denn er hat ein dunkles Geheimnis. Er ist in der Szene, die natürlich illegale Hundekämpfe veranstaltet. Als er dann ein Hund, an dem er sein Herz verloren hat im Kampf getötet wird weicht er in die Boxkampfszene aus. Außerdem ist er schwul, was Margherita, die ihn dann doch einmal verführt, erst später erfährt.

SPANNUNG
Marco Missiroli, der auch für den Corriere della Siera schreibt, erzählt abwechselnd aus der Sicht seiner Protagonisten, die Übergänge sind meist fließend. Im Zentrum steht die alte Frage, ob man sich in einer Beziehung selbst treu bleiben kann, wenn man seine Bedürfnisse nicht auslebt. Manches erscheint klischeehaft, die Obsessionen Andreas wirken wie aus dem „Fight Club“ entlehnt. Aber dann wieder gelingt es Missiroli, Spannung und Anteilnahme herzustellen. Am besten ist ihm wohl die Figur der alte Anna gelungen, die einmal in ihrer Karriere als Schneiderin die Ehre hatte, ein zerrissenes Kleid von Yves Saint Laurent auf die Schnelle balltauglich zu machen. Und dann ist da noch im zweiten Teil Carlos und Margheritas Sohn Lorenzo, der die Welt mit seinen Kinderaugen betrachtet und von seiner Großmutter innbrünstig geliebt wird. Herzschmerz gibt es eben auch viel in dem Buch – ideal also für eine Netflix-Adaption.


Marco Missiroli: Treue
Aus dem Italienischen von Esther Hansen
Wagenbach Verlag
ISBN: 978-3-8031-3330-4
252 Seiten, € 23,70


Lust auf mehr Literatur? Hier entlang zum letzten Buchtipp.

Buchtipp – Reinhard Tötschinger, Rochade

Im Talk mit Jan Vermeer – Reinhard Tötschingers Fälscherroman „Rochade“


Als eines der berühmtesten Gemälde des Kunsthistorischen Museums – Jan Vermeers „Die Malkunst“, das man nach Amsterdam verliehen hatte, bei einem Anschlag ebendort beschädigt wird, muss natürlich der Chefrestaurator Clemens Hartman mit äußerster Sorgfalt vorgehen. Allein, der junge Kanzler der Republik – der mit den gegeelten Haaren – will das Gemälde so schnell wie möglich wieder vollkommen wiederhergestellt in seinen Amtsräumen haben. Und so greift Clemens gemeinsam mit seinem pfiffigen Assistenten Hubert zu einer List. Sie wollen „Die Malkunst“ mit der gebotenen Ruhe zu Hause fertig restaurieren und dem Kanzler eine schnell hergestellte Kopie unterjubeln.

Der Unternehmensberater und Psychotherapeut Reinhard Tötschinger hat schon Theaterstücke und Essays geschrieben, „Rochade“ ist nun sein Romandebüt. Eines, das sich sehen lassen kann. In die sehr witzig geschriebene Geschichte einer Fälschung flechtet er historische Erzählungen über die vielen Besitzer dieses berühmten Vermeers ein. Das Gemälde galt nämlich als eines von Hitlers Lieblingsbildern – als Österreich annektiert wurde, schaffte man es nach Deutschland, wo es zum Prunkstück des Führermuseums werden sollte. Und Tötschingers Erzähler Clemens Hartmann hatte einen Großvater, der als Kunstkurator zeitweise in Hitlers Diensten stand.

Die Spannung ergibt sich klarerweise dann dadurch, dass wir bis zum Ende nicht wissen, ob der Schwindel mit der Fälschung durchgehen wird. Zudem wird das Kunsthistorische gerade von einem Unternehmensberater heimgesucht, der von Kunst keine Ahnung hat, sich aber überall einmischt und bald schon Kündigungen verlangt. Alles muss schneller und billiger gemacht werden. Die üblichen Verwerfungen bei einer neoliberalen populistischen Regierung. Als Leser wünscht man sich, Tötschinger hätte auch die Nebenfiguren besser charakterisiert. Wir bekommen gerade noch den interessanten Assistenten Hubert zu fassen, die Tochter Hartmanns scheint allerdings nur angedeutet. Dafür bleibt aber das Vergnügen, Jan Vermeer himself kennenzulernen, denn Hartmann spricht bald schon mit dem Meister, der ja auch im Bild selbst – allerdings eben nur von hinten – zu sehen ist, und der dann auch antwortet. Vermeer will übrigens schleunigst wieder im Museum ausgestellt werden, wo er sich an den hübschen Touristinnen erfreuen kann…


Reinhard Tötschinger: Rochade, Picus Verlag
ISBN: 978-3-7117-2109-9
288 Seiten, € 22,–

Buchtipp – Carolina Setterwall, Betreff: Falls ich sterbe

Plötzlich Alleinerzieherin


Plötzlich Alleinerzieherin – „Betreff: Falls ich sterbe“ der Bestseller der Schwedin Carolina Setterwall. Ein Buchtipp von Helmut Schneider


Als Roman wäre der Welterfolg „Betreff: Falls ich sterbe“ der Musikredakteurin Carolina Setterwall eine Katastrophe. Zu viele Türen werden aufgemacht ohne dass man dadurch woanderns hinkäme. Die Ich-Erzählerin Caroline verliebt sich in ihren Traummann Aksel – man ist jung, feiert das Leben und dann will sie unbedingt ein Kind, wozu er nur widerwillig ja sagt. Als das Baby dann da ist, schickt er ihr eine Mail mit dem Betreff „Falls ich sterbe“, in der alle seine Daten und Passwörter aufgelistet sind. Wenig später stirbt er plötzlich im Schlaf. Sehr viel später erfährt sie von seiner Herzschwäche, aber es ist nicht klar, ob er davon wusste. Und ein anderes Mal macht sich Caroline – obwohl selbst ziemlich betrunken – Sorgen, weil er ein paar Biere zu schnell geschluckt hat. Wem fällt da nicht Tschechows Revolver ein, der hier allerdings keine Kugel abfeuern wird.

Was die fast 500 Seiten Selbstbespiegelung für manche aber sicher interessant macht sind die genaue Schilderung der Zeit vor und vor allem nach der Katastrophe. Anfang Dreißig mit Baby plötzlich ohne Geliebten und Vater dazustehen ist sicher herausfordernd. Dabei hat Caroline wirklich die besten Voraussetzungen, ihre Situation durchzustehen. Es sind immer Freunde und Familie für sie da – Caroline ist nie alleine, wenn sie es nicht will. Finanzielle Sorgen gibt es auch keine. Dazu die großzügigen schwedischen Sozialgesetze. Als Leser denkt man sich da oft, sie solle einmal an die vielen anderen Alleinerzieherinnen denken, die ganz andere Probleme zu meistern haben. Caroline fühlt das manchmal auch, wenn sie etwa im Urlaub zu dem sie eingeladen wurde neidisch auf Menschen ohne Kind blickt. Dabei war es doch ihr großer Wunsch, endlich Mutter zu werden. Und natürlich klebt sie an ihrem Sohn Ivan, der sich naturgemäß unverzüglich in einen Tyrannen entwickelt. So detailliert und genau wollen wir es bisweilen gar nicht wissen, wenn etwa jedes Wehwechchen detailiert beschrieben wird.

Immerhin gibt es so etwas wie ein Finale. Caroline verliebt sich in einen alleinerziehenden Vater mit einer etwas älteren Tochter. Wäre doch eine prima Familie. Doch dann stellt sich heraus, dass dieser Mann – fast niemandem sonst in dem Buch gönnt die Erzählerin einen Namen – möglichst schnell noch ein Kind von ihr will. Als sie wirklich schwanger wird, merkt sie, dass sie jetzt noch nicht dafür bereit ist. Nun ja, das Buch ist immerhin ein internationaler Bestseller.


„Betreff: Falls ich sterbe“ von Carolina Setterwall
480 Seiten, € 22,90
ISBN: 978-3-462-05260-2

Buchtipp – Maarten T Hart, Der Nachtstimmer

In der niederländischen Provinz


Maarten ’t Hart: Der Nachtstimmer – ein Roman über einen Orgelstimmer, der plötzlich Ziel von Attentaten wird. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.


Maarten ’t Hart, der im südholländischen Warmond bei Leiden lebt, ist einer der erfolgreichsten Schriftsteller Hollands. Mit seinen skurrilen Helden, die gegen ein durch Zufälle bestimmtes Schicksal ankämpfen, hat er sich eine treue Leserschaft erschrieben. In seinem neuen, bei Piper erschienenen Roman „Der Nachtstimmer“ geht es um den Orgelstimmer Gabriel Pottjewijd, der wegen einer lauten Fabrik in einem kleinen Nest an der südholländischen Meeresküste oft nur nachts arbeiten kann. Dabei hilft ihm ein Mädchen, das bei den Einheimischen als debil gilt, in Wirklichkeit aber nur eine leichte Form des Autismus aufweist. Lanna weigert sich schlicht, Niederländisch zu sprechen und kommuniziert mit ihrer brasilianischen Mutter – die Witwe eines Matrosen – nur auf Portugiesisch. Aber der Ort ist sowieso voller Skurrilitäten – der Wirt des einzigen Gasthofs, wo der Orgelstimmer wohnt, ist kauzig und trägt eine Brille ohne Gläser. Die Einheimischen diskutieren stundenlang über unbedeutende Bibelstellen und einer von ihnen sammelt sogar Bibelausgaben – sein Haus ist von oben bis unten voll damit.

Als sich Gabriel Pottjewijd dann mit der ebenso schönen wie spröden Brasilianerin und ihrer Tochter sehr, sehr langsam anfreundet, ist er bald schon nicht mehr seines Lebens sicher. Er wird ins Hafenbecken gestoßen und eines Nachts fallen in der Kirche, in der er arbeitet sogar Schüsse. Wahrscheinlich ist er nicht der einzige Verehrer der Schönen. Aber Maarten ’t Hart interessiert der Krimi, den er uns auftischt, nur bedingt. Dafür ist das Ganze ja auch viel zu langsam erzählt. Er liebt es, leicht ironische und humorvoll pointierte Sätze zu schreiben – wirklich Böses kündigt sich in anderer Sprache an. Und so ist „Der Nachtstimmer“ ein Buch für Leser, die sich an skurrilen Wendungen und der sehr calvinistisch-puritanischen Stimmung erfreuen können – sozusagen ein Krimi für Menschen, die keine Krimis mögen.


„Der Nachtstimmer“ von Maarten ’t Hart
320 Seiten
ISBN: 978-3-492-07043-0
€ 24,00

Buchtipp – Hans-Ulrich Treichel, Schöner denn je

Im West-Berlin der 80er Jahre


Hans-Ulrich Treichels Roman „Schöner denn je“ über eine Männerfreundschaft, die auf Konkurrenz gebaut ist.
Text: Helmut Schneider


Beide wachsen in der Provinz auf und ziehen dann nach West-Berlin zum Studieren. Aber während der Erzähler Andreas dann doch lieber das Lehramt macht, absolviert Erik überraschenderweise zunächst eine Tischlerlehre, um dann als Filmarchitekt durchzustarten. Einmal in der damals noch geteilten Stadt angekommen, sieht man sich sowieso kaum noch. Dabei hatte Andreas alles getan, um Erik als seinen besten Freund zu gewinnen. Doch Erik war schon immer anders – brutal gesagt besser. Es schaut gut aus, hat die hübscheren Mädchen, ist beliebt und fährt ein cooles Auto. Am schlimmsten aber: Erik nimmt das alles nur beiläufig wahr, er ist bescheiden, gibt nie an und drängt sich niemals auf. Erik ist einfach lässiger.

Zum Wendepunkt im Roman kommt es erst, als Andreas nach einer gescheiterten Ehe eine Wohnung sucht und zufällig Erik in einem Restaurant trifft. Der bietet ihm für die nächsten Monate selbstlos seine 8-Zimmer-Wohnung in bester Lage als Bleibe an, weil er selbst beruflich nach New York und Hollywood muss. Und dann ruft in Eriks Wohnung noch die berühmte Schauspielerin Hélène an, für die Andreas schon seit Jahren schwärmt und die Erik, wie auch andere Berühmtheiten – zu Klaus Kinski, sagt er nur „Ach, der Klaus“ –anscheinend sehr gut kennt.

Der 1952 geborene deutsche Schriftsteller Hans-Ulrich Treichel kostet in seinem neuen Roman die Komik dieser Männer-Nicht-Freundschaft aus. Wir erleben das Ganze ja aus der Sicht des Underdogs. Wobei Andreas als Lehrerausbildner in Romanistik ja ganz gut leben könnte und würde – wäre da nicht Erik wie die sprichwörtliche Karotte vor seiner Nase. Je länger man in diesem Roman liest, desto mehr bekommt man das Gefühl, dass Erik in Wirklichkeit nur ein Phantom, ein Spiegelbild des Erzählers, ist. Andreas findet in Eriks großer Wohnung nichts Persönliches, alles ist ebenso geschmackvoll wie nichtssagend. Als er dann beim verzweifelten Stöbern in den Läden ganz hinten auf Röntgenbilder von Eriks Schädel stößt, wirkt das fast auch wieder wie eine Metapher. Der perfekte Mensch hat möglicherweise einen Hirntumor.

Lustig und doch auch wieder mysteriös sind auch die Szenen mit Hélène, die Andreas schließlich bittet, ihn in Berlin herumzufahren. Weit kommen sie aber nicht – überall wird der Star angesprochen. Als sie ihn dann in Eriks Wohnung besucht, schläft sie – natürlich ohne ihn – im Bett ein. Ein Filmstar ist eben immer müde. Witzig ist auch wieder einmal vor Augen geführt zu bekommen, was vor kurzem noch normal war. In der 80er-Jahren gab es noch keine Computer und wer einen Anruf erwartete, musste brav zu Hause bleiben und warten. Hans-Ulrich Treichels Roman „Schöner denn je“ ist vielleicht eine Studie darüber wie sehr uns Vorbilder und Wünsche unser Leben vermiesen. So einen Hinweis kann man ja ab und zu brauchen.


„Schöner denn je“ von Ulrich Treichel, suhrkamp Verlag
ISBN: 978-3-518-42973-0
175 Seiten
€ 22,70

Buchtipp – James Scudamore, English Monsters

Die Schatten einer Erziehung


James Scudamores Internatsroman „English Monsters“ – ein Buchtipp von Helmut Schneider.


Das unbeschwerte Leben des zehnjährige Max wird jäh beendet, als er auf ein englisches Internat kommt. Bisher waren die Sommer vom herben Charme seines Großvaters bestimmt gewesen und den Rest des Jahres verbrachte er mit seiner Familie, die in hohen Wirtschaftsfunktionen überall auf der Welt zu Hause war, in Mexiko – dem aktuellen Betätigungsfeld seines Vaters. Wir sind in den 80er-Jahren, auf englischen Schulen sind körperliche Strafen endlich verboten – nicht aber in den sogenannten Elite-Internaten. Und auf ein solche muss Max jetzt, wenngleich dieses seine besten Jahre längst hinter sich hat. Es kommt, wie es in solche Institutionen fast immer kommt – auf Züchtigung folgt Missbrauch.

James Scudamores Roman „English Monsters“ (erschienen bei Hanserblau) ist die Geschichte einer nicht unproblematischen Freundschaft zwischen den Zöglingen und einer späten Rache. Aber nicht der sadistische Geschichtslehrer, der später sogar wegen Missbrauchs verurteilt wird, ist das eigentliche Problem der Freunde, sondern der sanfte Englischlehrer, der mit der Klasse Theaterstücke aufführt und das Vertrauen vieler gewinnt. Denn auch er pflegt zu seinen minderjährigen Lieblingen sexuelle Beziehungen, die oft auch noch später anhalten. Max – der Erzähler – ist nur Beobachter, das wahre Ausmaß des Missbrauchs erfährt er erst später von seinen Freunden.  „English Monsters“ ist abwechslungsreich und spannend erzählt, wir erleben wie die Schüler erwachsen werden und in ihre Jobs finden. Doch manche scheinen gebrochen – und der Neoliberalismus der Marke Magaret Thatcher tut sein übriges, um die Träume von Freiheit und Selbstverwirklichung zu zerstören. James Scudamore ist ein kluges Buch um ein zentrales Thema der britischen Klassengesellschaft gelungen, das auch literarisch überzeugt. Manchmal muss man sich vor den freundlichen Lehrern eben noch mehr fürchten als vor den sadistischen.


„English Monsters“ von James Scudamore
464 Seiten, € 22,00
ISBN: 978-3-446-26946-0

Buchtipp – Marilyn und Irvin Yalom, Unzertrennlich/Die Unschuld der Opfer

Über den Tod und das Leben


Marilyn und Irvin Yalom waren 65 Jahre lang „Unzertrennlich“. Kurz vor Marilyns Tod schrieben sie gemeinsam ein Buch über ihr gemeinsames Leben.
Text: Helmut Schneider


Als sie wusste, dass sie nicht mehr lange leben würde, wollte Marilyn Yalom mit ihrem Mann Irvin noch gemeinsam ein Buch schreiben, in dem sie ihrer beider gemeinsam verbrachtes Leben noch einmal reflektieren wollten. Ein Kapitel schrieb sie, das nächste Irvin. Leider waren die Schmerzen dann bald schon so groß, dass sie das in Kalifornien geltende Recht auf ärztlich begleiteten Suizid beanspruchen musste. Das letzte Kapitel musste der bekannteste lebende Psychiater und Romanautor alleine schreiben. Und er erkennt, dass Marilyn das Projekt vor allem als Hilfe für ihn nach ihrem Ableben unbedingt durchziehen wollte.

Dass die erfolgreiche Kulturpublizistin – unter anderem schrieb sie als erste Feministin ein Buch über die weibliche Brust und die Dame im Schachspiel – und der Pionier der existenziellen Psychotherapie – beide lange Zeit Professoren in Stanford – ein innig verbundenes Paar waren, konnten auch Außenstehende leicht beobachten. 2009 waren die beiden zu Gast in Wien, Irvin Yaloms Roman „Und Nietzsche weinte“ wurde bei der Gratisbuchaktion „EineStadt.EinBuch.“ verteilt, zuvor durften wir das Ehepaar in ihrem Haus in Palo Alto besuchen. Marilyn Yalom war in Wien bei allen Veranstaltungen dabei und hatte kein Problem unterstützend im Hintergrund zu bleiben.

In „Unzertrennlich – Über den Tod und das Leben“ können Leser vor allem Irvin Yaloms Leiden am Schicksal seiner Frau nachspüren. Dem Motto des Buches „Trauern ist der Preis, den wir zahlen, wenn wir den Mut aufbringen, andere zu lieben.“ stimmt er natürlich zu, in der Praxis fällt er nach ihrem Tod allerdings in das berühmte schwarze Loch. An das Begräbnis kann er sich kaum erinnern. Immer wieder ertappt er sich dabei, dass er ihr etwas erzählen will – ja ohne dieses Ritual scheint es für ihn gar nicht stattgefunden zu haben.

Dabei hatte Irvin Yalom wahrlich Erfahrungen mit dem Thema Tod. Als allererster Psychiater der Welt initiierte und begleitete Yalom sterbenskranke Menschen auf ihrem letzten Weg und beschrieb das auch in seinen Werken. Damals waren Psychiologen ja der Ansicht, dass es keinen Sinn hätte Patienten aufzunehmen, die in ein paar Wochen nicht mehr kommen würden. Und Yalom fand auch heraus, was Menschen den Tod leichter macht, nämlich ein Leben ohne Reue. Einfach gesagt: Wer das Gefühl hat, im Leben seine Ziele nach Maßgabe seiner Möglichkeiten erreicht zu haben, stirbt leichter. Zitat: „Je geringer die Zufriedenheit im Leben, desto größer die Angst vor dem Tod.“

Marilyn Yalom war das beste Beispiel dafür. Sie fand trocken, dass es keine Tragödie wäre mit 87 zu sterben – vor allem wenn man ein glückliches Leben mit vier Kindern und vielen Enkelkindern hatte. Beiden waren gerne und viel gereist, hatten viele Freunde und lebten immer in einer großen Gemeinschaft, in der sie sich geistig austauschten.

Marilyn Yalom war nicht nur eine sehr kluge frühe Feministin, sondern auch jemand, der Menschen zusammenbrachte. In ihrem letzten Buch hat sie die Erlebnisse von Menschen aufgeschrieben, die den Zweiten Weltkrieg als Kinder erleben mussten. In die „Unschuld der Opfer“ berichten sechs Zeitzeugen aus verschiedenen Nationen vom Trauma des Krieges. – allesamt Beispiele von erstaunlicher Resilienz. Und auch Merilyn selbst erzählt, wie sie die Kriegsjahre im sicheren Amerika erlebt hat. Trotzdem die erzählten Geschichten natürlich alle gut ausgehen, sind sie eine eindringliche Warnung nicht zu vergessen, was Traumata wie Krieg, Flucht und Gewalt gerade Kindern antun können.      


Marilyn Yalom
Die Unschuld der Opfer
Übersetzt von Holfelder von der Tann, btb
280 Seiten, € 12,40

Irvin D. Yalom/ Marilyn Yalom
Unzertrennlich
Übersetzt von Regina Kammerer, btb
313 Seiten, € 22,70

Buchtipp – Lena Gorelik, Wer wir sind

Als Fremde in Deutschland aufwachsen


Lena Gorelik erzählt in „Wer wir sind“ (rowohlt berlin) ihre Geschichte als hochbegabtes Kind.
Text: Helmut Schneider / Bild: rowohlt berlin


Es geht um Familie. Die Eltern könnten ihr Leben in St. Petersburg, das damals noch Leningrad hieß, durchaus ertragen – auch wenn sie als Juden immer wieder angefeindet werden. Doch das Kind, das soll es einmal besser haben. Und so wechseln sie nach Deutschland, wo der Akademiker und die Fabriksleiterin plötzlich im Flüchtlingsheim wohnen müssen und froh sind, einen Job als Putze zu bekommen. Das 11-jährige Kind ist auch in Deutschland bald die Klassenbeste, die neue Sprache lernt sie mühelos. Und bald schon kann sie eine Klasse überspringen – was sich als Fluch herausstellt. Jetzt wird sie nicht nur als Ausländerin, sondern auch als Streberin gemobbt, während die Familie alles, was deutsch ist, als besser wahrnehmen will. Zwischendurch gibt das Kind weiße Zettel als Klassenarbeit ab, um nicht immer als Beste dazustehen.

Lena Gorelik, die inzwischen in München lebt und auch Theaterstücke schreibt, hat schon mit 23 ihren ersten Roman veröffentlicht – „Meine weißen Nächte“ –, ihr neues Buch ist aber anders, man könnte auch sagen gereifter. Die Ich-Erzählerin ist eine genaue Beobachterin, die nicht nur überall Fremdenfeindlichkeit sieht und die immer wieder gezogenen Vergleiche mit dem Leben in Russland peinlich findet. Vor allem ihre Eltern, die mit Engelsgeduld und Unterwürfigkeit die Schikanen in ihrer neuen Heimat erdulden, kann sie lange nicht verstehen. Aber es gibt eben auch Glückserlebnisse. Etwa als eine gar nicht wohlhabende Deutsche ein paar Flüchtlingskinder übers Wochenende zu sich aufs Land nimmt, damit sie einmal in die Natur kommen.

„Wer wir sind“ ist ein kluges Buch über Heimat und Identität, das auch manches auslässt, was nicht zu benennen ist. Zitat:

„Zwischen den Zeilen lasse ich Platz. Für alles, was wir beschweigen, für den Respekt. Für alles, was uns zusammenhält.“


„Wer wir sind“ von Lena Gorelik
EAN: 9783644008786
320 Seiten, € 22,90