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Buchtipp – James Scudamore, English Monsters

Die Schatten einer Erziehung


James Scudamores Internatsroman „English Monsters“ – ein Buchtipp von Helmut Schneider.


Das unbeschwerte Leben des zehnjährige Max wird jäh beendet, als er auf ein englisches Internat kommt. Bisher waren die Sommer vom herben Charme seines Großvaters bestimmt gewesen und den Rest des Jahres verbrachte er mit seiner Familie, die in hohen Wirtschaftsfunktionen überall auf der Welt zu Hause war, in Mexiko – dem aktuellen Betätigungsfeld seines Vaters. Wir sind in den 80er-Jahren, auf englischen Schulen sind körperliche Strafen endlich verboten – nicht aber in den sogenannten Elite-Internaten. Und auf ein solche muss Max jetzt, wenngleich dieses seine besten Jahre längst hinter sich hat. Es kommt, wie es in solche Institutionen fast immer kommt – auf Züchtigung folgt Missbrauch.

James Scudamores Roman „English Monsters“ (erschienen bei Hanserblau) ist die Geschichte einer nicht unproblematischen Freundschaft zwischen den Zöglingen und einer späten Rache. Aber nicht der sadistische Geschichtslehrer, der später sogar wegen Missbrauchs verurteilt wird, ist das eigentliche Problem der Freunde, sondern der sanfte Englischlehrer, der mit der Klasse Theaterstücke aufführt und das Vertrauen vieler gewinnt. Denn auch er pflegt zu seinen minderjährigen Lieblingen sexuelle Beziehungen, die oft auch noch später anhalten. Max – der Erzähler – ist nur Beobachter, das wahre Ausmaß des Missbrauchs erfährt er erst später von seinen Freunden.  „English Monsters“ ist abwechslungsreich und spannend erzählt, wir erleben wie die Schüler erwachsen werden und in ihre Jobs finden. Doch manche scheinen gebrochen – und der Neoliberalismus der Marke Magaret Thatcher tut sein übriges, um die Träume von Freiheit und Selbstverwirklichung zu zerstören. James Scudamore ist ein kluges Buch um ein zentrales Thema der britischen Klassengesellschaft gelungen, das auch literarisch überzeugt. Manchmal muss man sich vor den freundlichen Lehrern eben noch mehr fürchten als vor den sadistischen.


„English Monsters“ von James Scudamore
464 Seiten, € 22,00
ISBN: 978-3-446-26946-0

Buchtipp – Marilyn und Irvin Yalom, Unzertrennlich/Die Unschuld der Opfer

Über den Tod und das Leben


Marilyn und Irvin Yalom waren 65 Jahre lang „Unzertrennlich“. Kurz vor Marilyns Tod schrieben sie gemeinsam ein Buch über ihr gemeinsames Leben.
Text: Helmut Schneider


Als sie wusste, dass sie nicht mehr lange leben würde, wollte Marilyn Yalom mit ihrem Mann Irvin noch gemeinsam ein Buch schreiben, in dem sie ihrer beider gemeinsam verbrachtes Leben noch einmal reflektieren wollten. Ein Kapitel schrieb sie, das nächste Irvin. Leider waren die Schmerzen dann bald schon so groß, dass sie das in Kalifornien geltende Recht auf ärztlich begleiteten Suizid beanspruchen musste. Das letzte Kapitel musste der bekannteste lebende Psychiater und Romanautor alleine schreiben. Und er erkennt, dass Marilyn das Projekt vor allem als Hilfe für ihn nach ihrem Ableben unbedingt durchziehen wollte.

Dass die erfolgreiche Kulturpublizistin – unter anderem schrieb sie als erste Feministin ein Buch über die weibliche Brust und die Dame im Schachspiel – und der Pionier der existenziellen Psychotherapie – beide lange Zeit Professoren in Stanford – ein innig verbundenes Paar waren, konnten auch Außenstehende leicht beobachten. 2009 waren die beiden zu Gast in Wien, Irvin Yaloms Roman „Und Nietzsche weinte“ wurde bei der Gratisbuchaktion „EineStadt.EinBuch.“ verteilt, zuvor durften wir das Ehepaar in ihrem Haus in Palo Alto besuchen. Marilyn Yalom war in Wien bei allen Veranstaltungen dabei und hatte kein Problem unterstützend im Hintergrund zu bleiben.

In „Unzertrennlich – Über den Tod und das Leben“ können Leser vor allem Irvin Yaloms Leiden am Schicksal seiner Frau nachspüren. Dem Motto des Buches „Trauern ist der Preis, den wir zahlen, wenn wir den Mut aufbringen, andere zu lieben.“ stimmt er natürlich zu, in der Praxis fällt er nach ihrem Tod allerdings in das berühmte schwarze Loch. An das Begräbnis kann er sich kaum erinnern. Immer wieder ertappt er sich dabei, dass er ihr etwas erzählen will – ja ohne dieses Ritual scheint es für ihn gar nicht stattgefunden zu haben.

Dabei hatte Irvin Yalom wahrlich Erfahrungen mit dem Thema Tod. Als allererster Psychiater der Welt initiierte und begleitete Yalom sterbenskranke Menschen auf ihrem letzten Weg und beschrieb das auch in seinen Werken. Damals waren Psychiologen ja der Ansicht, dass es keinen Sinn hätte Patienten aufzunehmen, die in ein paar Wochen nicht mehr kommen würden. Und Yalom fand auch heraus, was Menschen den Tod leichter macht, nämlich ein Leben ohne Reue. Einfach gesagt: Wer das Gefühl hat, im Leben seine Ziele nach Maßgabe seiner Möglichkeiten erreicht zu haben, stirbt leichter. Zitat: „Je geringer die Zufriedenheit im Leben, desto größer die Angst vor dem Tod.“

Marilyn Yalom war das beste Beispiel dafür. Sie fand trocken, dass es keine Tragödie wäre mit 87 zu sterben – vor allem wenn man ein glückliches Leben mit vier Kindern und vielen Enkelkindern hatte. Beiden waren gerne und viel gereist, hatten viele Freunde und lebten immer in einer großen Gemeinschaft, in der sie sich geistig austauschten.

Marilyn Yalom war nicht nur eine sehr kluge frühe Feministin, sondern auch jemand, der Menschen zusammenbrachte. In ihrem letzten Buch hat sie die Erlebnisse von Menschen aufgeschrieben, die den Zweiten Weltkrieg als Kinder erleben mussten. In die „Unschuld der Opfer“ berichten sechs Zeitzeugen aus verschiedenen Nationen vom Trauma des Krieges. – allesamt Beispiele von erstaunlicher Resilienz. Und auch Merilyn selbst erzählt, wie sie die Kriegsjahre im sicheren Amerika erlebt hat. Trotzdem die erzählten Geschichten natürlich alle gut ausgehen, sind sie eine eindringliche Warnung nicht zu vergessen, was Traumata wie Krieg, Flucht und Gewalt gerade Kindern antun können.      


Marilyn Yalom
Die Unschuld der Opfer
Übersetzt von Holfelder von der Tann, btb
280 Seiten, € 12,40

Irvin D. Yalom/ Marilyn Yalom
Unzertrennlich
Übersetzt von Regina Kammerer, btb
313 Seiten, € 22,70

Buchtipp – Lena Gorelik, Wer wir sind

Als Fremde in Deutschland aufwachsen


Lena Gorelik erzählt in „Wer wir sind“ (rowohlt berlin) ihre Geschichte als hochbegabtes Kind.
Text: Helmut Schneider / Bild: rowohlt berlin


Es geht um Familie. Die Eltern könnten ihr Leben in St. Petersburg, das damals noch Leningrad hieß, durchaus ertragen – auch wenn sie als Juden immer wieder angefeindet werden. Doch das Kind, das soll es einmal besser haben. Und so wechseln sie nach Deutschland, wo der Akademiker und die Fabriksleiterin plötzlich im Flüchtlingsheim wohnen müssen und froh sind, einen Job als Putze zu bekommen. Das 11-jährige Kind ist auch in Deutschland bald die Klassenbeste, die neue Sprache lernt sie mühelos. Und bald schon kann sie eine Klasse überspringen – was sich als Fluch herausstellt. Jetzt wird sie nicht nur als Ausländerin, sondern auch als Streberin gemobbt, während die Familie alles, was deutsch ist, als besser wahrnehmen will. Zwischendurch gibt das Kind weiße Zettel als Klassenarbeit ab, um nicht immer als Beste dazustehen.

Lena Gorelik, die inzwischen in München lebt und auch Theaterstücke schreibt, hat schon mit 23 ihren ersten Roman veröffentlicht – „Meine weißen Nächte“ –, ihr neues Buch ist aber anders, man könnte auch sagen gereifter. Die Ich-Erzählerin ist eine genaue Beobachterin, die nicht nur überall Fremdenfeindlichkeit sieht und die immer wieder gezogenen Vergleiche mit dem Leben in Russland peinlich findet. Vor allem ihre Eltern, die mit Engelsgeduld und Unterwürfigkeit die Schikanen in ihrer neuen Heimat erdulden, kann sie lange nicht verstehen. Aber es gibt eben auch Glückserlebnisse. Etwa als eine gar nicht wohlhabende Deutsche ein paar Flüchtlingskinder übers Wochenende zu sich aufs Land nimmt, damit sie einmal in die Natur kommen.

„Wer wir sind“ ist ein kluges Buch über Heimat und Identität, das auch manches auslässt, was nicht zu benennen ist. Zitat:

„Zwischen den Zeilen lasse ich Platz. Für alles, was wir beschweigen, für den Respekt. Für alles, was uns zusammenhält.“


„Wer wir sind“ von Lena Gorelik
EAN: 9783644008786
320 Seiten, € 22,90

Buchtipp – Keith Gessen, Ein schreckliches Land

Ein Idiot in Moskau


Keith Gessen lässt im Roman „Ein schreckliches Land“ einen russischstämmigen Amerikaner Russan im Krisenjahr 2008 erleben.
Text: Helmut Schneider


Die Karriere des Ich-Erzählers Andrew Kaplan will nicht so recht starten, er kann keine Professorenstelle in New York ergattern und muss sich mit öden Anfängerkursen begnügen. Da wird er von seinem Bruder nach Moskau gebeten, um ihrer betagten Großmutter zur Seite zu stehen – er soll also dort zurück, wo er geboren ist. Doch schon bald erkennt er, dass er auch als muttersprachiger Russe mit russischen Eltern in einen völlig anderen Kulturkreis zurechtkommen muss. Er kommt sich sehr oft wie ein Idiot vor. Im ersten Drittel des Romans gelingt es dem passionierten Eishockeyspieler etwa nicht, in einer russischen Hobbymannschaft mitspielen zu dürfen. Zudem erkennt er bald, dass es eine Kunst darstellt mit den wenigen eigenen Mitteln im teuren Moskau über die Runden zu kommen. „Es ist ein schreckliches Land“ erzählt ihm seine Oma bei jeder Gelegenheit – die alte Dame lebt mitten im Zentrum weil ihre Mutter dereinst bei einem Film mitwirkte, der Stalin gefallen hat – worauf alle mit einer Wohnung belohnt wurden. Ab dann ging es mit der Familie allerdings bergab, nur mit Glück überlebten sie die Schreckenszeit.

Keith Gessen hat eine ähnliche Herkunft wie sein Protagonist Andrew. 1975 in Moskau geboren wuchs er in den USA auf und gründete die anerkannte literarische Zeitschrift n+1 und arbeitete für verschiedene Publikationen. 2009 erschien sein erster Roman „All die traurigen jungen Dichter“ auf Deutsch. In „Ein schreckliches Land“ ist natürlich nicht alles in Moskau schlecht. Vor allem findet Andrew nach langem Bemühen Anschluss an ein Hockey-Team und an eine politische Gruppe, die sich für die entrechteten Arbeiter einsetzt. Wir schreiben 2008 und Russland gerät in den Strudel der Finanzkrise, weil fossile Rohstoffe eine Zeit lang weniger nachgefragt sind. Andrew ist dabei selbst für einen Amerikaner zu naiv um zu verstehen, dass man in Moskau nicht so einfach gegen Putin demonstrieren kann. Am Ende steuert alles einer Katastrophe zu.

Gessen schildert auf fast 500 Seiten ziemlich genau das gesellschaftliche Leben in Russland wo zwar fast alle wissen, dass ihr Präsident ein Scharlatan ist, aber trotzdem alle an ihm festhalten – weil er zumindest einer von ihnen ist und sie sich eine nicht korrupte Regierung gar nicht vorstellen können. Der Roman liest sich sehr gut, obwohl Gessen noch den kleinsten Cafébesuch genau beschreibt. Selbst die Reparatur eines verstopften Abflussrohrs  beschreibt er vergnüglich. Wäre der Autor aber nicht ein solcher Kenner der Verhältnisse, würde man ihm allerdings die Verwendung von Klischees vorwerfen. Aber vielleicht ist Putins Russland ja längst ein zur Realität gewordenes Klischee.


Buchtipp – Sarah Moss, Geisterwand

In der englischen Sumpfwildnis


Der Roman „Geisterwand“ von Sarah Moss zeigt, wie dünn die Kruste der Menschenrechte im Alltag ist.
Text: Helmut Schneider / Fotos: Sophie Davidson,Piper Verlag


Silvie ist 17 und noch ziemlich kindlich, denn wir sind in den 90er-Jahren. Ihr in die englische Frühgeschichte verliebter Vater zwingt sie, die Ferien mit ein paar Studenten und einem Archäologie-Professor bei einer Art Seminar mitzumachen, bei dem alle versuchen, für ein paar Tage wie die ersten Bewohner der Insel zu leben. In Zelten und als Nahrung nur das, was gesammelt oder gejagt wird. Sehr schnell werden dabei die traditionellen Rollenmuster schlagend: die Männer gehen auf die Jagd, die Frauen suchen Kräuter und Muscheln und die Mutter kümmert sich um das Feuer und den Kochtopf.


Sarah Moss erzählt in unspektakulärer Sprache vom Ungeheuerlichen.

Die 1975 in Glasgow geborene Schriftstellerin Sarah Moss erzählt ihre nicht sehr lange, aber umso eindrucksvollere Geschichte aus der Sicht von Silvie, der Tochter des autoritären Busfahrers und Hobbyforschers. Schon bald merken wir, dass dieses Mädchen anders ist als die nur wenig älteren Studentinnen und Studenten mit denen sie die Moorlandschaft durchstreift. Und wenig später wissen wir auch warum. Ihr Vater ist ein unberechenbarer Tyrann, der seine Frustrationen an der Familie auslässt – nur mühsam kann die Mutter ihre blauen Flecken verbergen und wir werden Zeuge, wie Silvie von ihm grausam verprügelt wird. Die nimmt das als gegeben hin, was soll sie denn auch tun, wo sie doch völlig von ihm abhängig ist. Erst als das Ritual einer Opferung nachgespielt werden soll – mit Silvie am Altar einer Opferwand –, zieht eine Studentin die Notbremse.

Sarah Moss ist mit ihrem Roman „Geisterwand“ (Berlin Verlag, € 20,60) die eindrucksvolle Darstellung der durch Abhängigkeiten gestützte Gewalt in der Familie gelungen. Das traditionelle Männerbild ist in den 90ern längst zerbröckelt, viele Jobs, in denen es männliche Kraft braucht wie etwa im Bergwerk, gibt es nicht mehr.  Um das deutlich zu machen, hat Moss eine unspektakuläre Sprache gefunden, die das Ungeheuerliche dieser Geschichte nur umso stärker spürbar macht. 


„Geisterwand“ von Sarah Moss
160 Seiten, € 20,90
ISBN: 978-3-8270-1413-9

Buchtipp – Robin Robertson, Wie man langsamer verliert

Städte sind eine Art Krieg


„Wie man langsamer verliert“ – der wunderbare Nachkriegstext des Schotten Robin Robertson über einen Weltkriegsheimkehrer in Los Angeles.
Text: Helmut Schneider / Fotos: Hanser Literaturverlage; Niall McDiarmid


1946 landet der kanadische D-Day-Veteran Walker in New York und findet sich in der großen Stadt nicht wirklich zurecht. Als Hafenarbeiter hält er sich über Wasser, abends versucht er vergebens, in den Bars seine Erinnerungen an das große Töten zu betäuben. Seine Leidenschaft für den Film und der Tipp eines seiner Idole – Hollywood-Regisseur Robert Siodmak – das er zufällig in einer Bar trifft, verschlägt ihn nach Los Angeles, wo zumindest das Klima viel besser ist. Und er findet sogar einen Job bei einer Lokalzeitung. Doch weiterhin sieht er auf Schritt und Tritt Obdachlose, Verfall und als Lokalreporter auch wieder viele Tote. Wieder lungert er in den Bars herum, geht ins Kino und sucht die Nähe zu den vielen Filmsets in der Stadt. Aber er ist die Summe aller seiner Erlebnisse und nach und nach erfahren wir, dass er über alle Maßen Schreckliches erlebt hat.


Autor Robin Robertson ist an der schottischen Nordküste aufgewachsen.

Poesie
Robin Robertson, aufgewachsen an der schottischen Nordküste, ist bislang nur als Verleger und Verfasser von Gedichten in Erscheinung getreten. Mit „The Long Take – A Way to Lose More Slowly“ stand er dann 2018 auf der Shortlist für den renommierten Man Booker Prize. Und „Wie man langsamer verliert“ (Hanser) ist tatsächlich auch eine Mischung aus Gedicht und Roman, der Text ist wie ein Poem geordnet, die Übergänge sind assoziativ. Aber Robertson schafft es dabei so nebenbei eine Geschichte zu erzählen – eine Geschichte der Verluste. Eingestreut in den Text sind zwischendurch immer wieder Kriegserlebnisse, wir erleben Grausamkeiten und skurrile Szenen im tödlichen Kriegsalltag – etwa wenn die angreifenden Feinde noch Kinder sind oder wenn Walker sich aus einer Kriegsgefangenschaft wieder befreit. Aber auch die Nachkriegszeit ist voll von Verlusten. Das Viertel, in dem Walker in einer bescheidenen Unterkunft haust, wird nach und nach abgerissen, wir sind in Downtown L.A. und Bunker Hill wird das zukünftige Wirtschaftszentrum der Stadt – gebraucht werden jetzt Parkhäuser und keine Hotels. „Sie nennen es Fortschritt, dabei ist es in Wirklichkeit nur Gier“, stellt ein Ex-Kamerad Walkers einmal lakonisch fest. Und an Silvester denkt Walker wieder einmal „Städte sind eine Art Krieg“. Selbst Rassismus ist im sonst eher liberalen Kalifornien an allen Ecken zu erleben, Schwarze sind auch hier Freiwild.

Das Tolle an diesem Buch ist aber wie Robertson seine Gedanken in einer auch durch die tadellose Übersetzung (Anne-Kristin Mittag) wirkenden Poesie erfahrbar macht. Ein Film Noir in Buchform, wir fühlen und riechen mit, wenn Walker seine Wanderung durch das von Prostituierten, Raufbolden und nicht immer freundlichen Journalistenkollegen bevölkerte Nachkriegsamerika antritt. Zwischendurch darf er für sein Blatt auch noch zu einer Reportage über Obdachlose in den USA nach San Francisco reisen, aber das Bild des Elends und der Verzweiflung ist immer dasselbe – nur das nebelige Wetter ist anders. Ein Buch, das lange nachwirkt.


„Wie man langsamer verliert“ von Robin Robertson
Preis: € 25,00
ISBN: 978-3-446-26571-4
256 Seiten

Buchtipp – Steffen Kopetzky, Mondschau

Pockenausbruch an der Eifel


Auch 1962 gab es eine Seuche in Deutschland: Steffen Kopetzky (Bild) erzählt in „Monschau“ höchst spannend über einen Pockenausbruch an der Eifel.
Text: Helmut Schneider / Foto: Creative Commons (CC BY-SA 4.0)


Als ein Außendienstmitarbeiter bei den Rither-Werken aus Indien die Pocken mit nach Hause mitbringt, ist in dem kleinen Ort Monschau an der belgischen Grenze Feuer am Dach. Die Fabrik ist der größte Arbeitgeber und außerdem ist gerade Karneval-Zeit – da kann man doch nicht einfach alles zusperren. Die Diskussionen sind uns vertraut, doch Steffen Kopetzky bringt uns in seinem genau recherchierten Roman aus dem Jahr 1962 doch auch vor Augen, wie wenig Staaten damals wie heute auf Pandemien vorbereitet sind. Damals gab es etwa noch keine Schutzanzüge – der für die Seuchenbekämpfung engagierte Arzt in Ausbildung muss etwa einen umgebauten Stahlarbeiter-Anzug tragen und wankt als Raumfahrer durch die idyllische Berglandschaft. Und die Erbin der Rither-Werke schleicht sich einfach mit einer Karnevals-Krankenschwestern-Tracht ins längst abgesperrte Krankenhaus weil sie ihre Freundin besuchen will – die völlig Naive muss dann natürlich für Wochen in Quarantäne drinnen bleiben.

Der Erzählkunst des Autors ist es zu verdanken, dass wir auf 350 Seiten gleich mehrere durchaus komplexe Schicksale miterleben können. Kopetzky erzählt nicht nur eine Liebesgeschichte im noch verklemmten Nachkriegsdeutschland, sondern dröselt auch noch die zahlreichen Stränge, die zwischen dem 3. Reich und dem Wirtschaftswunder laufen, auf. Der mächtige Chef der Rither-Werke (Vorbild war die Otto Junker GmbH) war Liebkind der Nazis und ein Profiteur des Systems von Zwangsarbeitern. In seinem Unternehmen hat er sich mit Kriegsversehrten eine treue Gefolgschaft aufgebaut. Abhängig ist er nur von den Investoren im nahen Luxemburg, wo eine Alte Dame nach dem Vorbild Dürrenmatts, alle Fäden in der Hand hält. Dazu schnüffelt ein lästiger, unsympathischer Journalist der „Quick“ herum, der unschwer als Johannes Mario Simmel zu erkennen ist. Mit Jazzmusik, Sartre (Vera, die Erbin studiert in Paris) und vielen Details (der griechischstämmige Jungarzt kann etwa kein Moussaka kochen, da Melanzani in Deutschland zu dieser Zeit unbekannt sind) wird eine Atmosphäre geschaffen, in die der Leser wie in einen Mantel schlüpfen kann.

Und Kopetzky hält die Spannung wie in einem Krimi bis zuletzt aufrecht. Man wird da etwa an die frühere Meisterin dieses Genres Vicki Baum erinnert. Viele Fragen müssen schließlich beantwortet werden: Kriegen sich die beiden Verliebten aus gänzlich anderen Kreisen am Ende, gelingt es die Seuche einzudämmen und mit welchen Verlusten und entgeht der Ex-Nazi seiner Entlarvung? Schließlich fällt im Winterwald sogar noch ein Schuss. Aber mehr sei hier nicht verraten.


„Monschau“ von Steffen Kopetzky
Gebundene Ausgabe, 352 Seiten
ISBN: 978-3-7371-0112-7
Preis: 22,00€

Roman

Was ist da los in Isreal?


Der weltbekannte Dramatiker Joshua Sobol hat einen bewegenden Familienroman geschrieben, der uns den Nahen Osten besser verstehen lässt.
Text: Helmut Schneider


Der Welterfolg des 1939 in Tel Aviv als Sohn osteuropäischer Einwanderer geborenen Schriftsteller Joshua Sobol ist eng mit Wien verknüpft. Berühmt wurde er nämlich 1983 mit seinem Stück „Weiningers Nacht“ (Originaltitel: The Soul of a Jew), in dem er die letzten Minuten des an seinem Judentum und Frauenhass leidenden Selbstmörders Otto Weininger auf die Bühne brachte. Paulus Manker spielte diese Rolle zuerst in Hamburg, ehe er das Stück auch in Wien inszenierte. Die Zusammenarbeit der beiden mündete dann in dem noch größeren Erfolg „Alma − A Show Biz ans Ende“ über das Leben von Alma Mahler-Werfel, das seit 1996 an verschiedenen Orten immer wieder neu aufgeführt wird.

Joshua Sobol ist eng mit Wien verknüpft.

Sobol veröffentlicht seit 2001 auch Romane, sein jetziger „Der große Wind der Zeit“ (Luchterhand) ist aber aufgrund seiner Konzeption – eine Zeitreise mit vier Generationen einer Familie – als auch seines Umfangs – 530 Seiten – etwas Besonderes. Im Zentrum stehen zwei Frauen, nämlich die junge Armee-Verhörspezialistin Libby und ihre Urgroßmutter Eva, die als eine der ersten Siedler über Wien nach Israel gekommen war. Libby kann ihren Job nicht weitermachen, weil sie die immer gleichen Folgen der von ihr äußerst geschickt erreichten Geständnisse – „Haft. Hauszerstörung. Vergeltungsanschlag. Untersuchungshaft. Verhör. Prozess. Hauszerstörung“ – nicht mehr erträgt. Außerdem blitzt da plötzlich bei ihrem letzten Verhöropfer – einem in England studierenden Palästinenser – so etwas wie Zuneigung auf. Nach der Kündigung fährt sie in den Kibbuz zu ihrem Großvater, der allerdings gerade mit seiner Harley die Berge Israels durchpflügt. Sie findet aber das Tagebuch ihrer Urgroßmutter Eva und schon tauchen wir ein in der Siedlerbewegung der 30er-Jahre, als noch alles offen und möglich schien. Eva nützt alle Freiheiten im Kibbuz aus, ohne sich vor der harten Arbeit zu scheuen. Sie hält Beziehungen zu mehreren Männern und startet zwischendurch noch einmal eine Karriere als Tänzerin in Berlin. Ohne Scheu lässt sie sich auch mit Nazigrößen ein, verkehrt in der Clique von Bertolt Brecht und hat großen Erfolg auf der Bühne. In Wirklichkeit will sie in Erfahrung bringen, was da – vor allem für Juden – noch zu erwarten ist. Ihre präzisen Warnungen vor dem drohenden Unheil schlägt die eigene Familie in Wien freilich in den Wind.

Sobol hat freilich nicht mit weiterem Personal gespart. Evas Nachfahren werden Kriegshelden, mehr oder minder erfolgreich in diversen Berufen und einer will sogar Ministerpräsident werden, womit das Spiel inklusive Korruption und Erpressung losgeht. Sobols Kunst besteht darin, seine Figuren mit wenig Aufwand plastisch erscheinen zu lassen. Ein Computergenie wird in der Firma, die er selbst mit aufgebaut hat, gekündigt und sucht jetzt Verbündete gegen den Terror von 1 und 0, die minderjährige Tochter des Politikers schläft aus Langeweile mit dem Konkurrenten ihres Vaters und Libbys Großvater wird durch den Verkauf der Kibbuz-Betriebe steinreich – ohne sich freilich darum zu scheren. Natürlich ist das alles wohl eher die jüdische Sicht der Geschichte – obwohl Sobol und die meisten seiner Figuren immer wieder Verständnis für die Palästinenser zeigen. Opfer sind auf beiden Seiten zu beklagen, Straßensperren und gefährliche Situationen allgegenwärtig und alle wissen nur zu gut, dass sich so schnell nichts ändern wird. Trotzdem bekommt man als Leser einen ganz guten Eindruck von diesem an Konflikten reichen Gebiet im Nahen Osten in dem gerade wieder ein Krieg auszubrechen droht.


„Der große Wind der Zeit“ von Joshua Sobol, erschienen im Luchterhand Literaturverlag

Gebundene Ausgabe, 528 Seiten
Übersetzt ins Deutsche von Barbara Linner
ISBN: 978-3-630-87573-6

Rezension

Ein Sommer in den Hamptons


August Richters neuer Roman „August“ ist eine Zustandsbeschreibung unserer westlichen Welt anhand zweier Paare.
Text: Helmut Schneider


Ein deutsches Paar, das es in Amerika geschafft hat: Richard ist vom Rave-Veranstalter in Berlin zum Immobilienhändler in New York geworden, seine Frau Stefanie war früher Fernsehmoderatorin und hat jetzt jede Menge Zeit, sich um Globuli und Ernährungspläne zu kümmern. Zu Gast in deren Haus mit Pool am Strand von Long Island ist für einen lange August Richards bester Freund Alec, ein Kalifornier, der lange in Deutschland gelebt hat und jetzt mit seiner aus Chemnitz stammenden Frau und Ärztin Vera als Intellektueller mit Buchprojekt in Brooklyn lebt. Ein Leben zwischen Strand, Pool und der Lobsterbude mit viel Gelegenheit zu auch kontroversen Gesprächen, die freilich immer vor der Schmerzgrenze stoppen – man kennt sich schließlich schon ewig. Richard spielt mit dickem Auto und lockerer Geldbörse den Muster-Amerikaner, Alec den europäischen Philosophen, beide wissen nur zu gut, dass sie dabei nur Rollenklischees bedienen. Quasi als Katalysatoren dienen ein von der Hummerbar wegengagiertes Kindermädchen sowie der Guru des Viertels – originellerweise ein ehemaliger Marketingmann aus Wien. Letzterer hilft Stephanie, sich ihrem „Schmerzkörper“ zu stellen und die Büsche im Garten als Götter zu erkennen – wenn er nicht gerade seine jungen Anhängerinnen flachlegt.

Peter Richter lebte lange Jahre als Kulturkorrespondent der Süddeutschen Zeitung in New York und schrieb schon zahlreiche Sachbücher und Romane – unter anderem das Wendebuch „89/90“ mit dem er für den Deutschen Buchpreis nominiert war. Richter kennt also die amerikanischen Befindlichkeiten sehr gut. Witzig ist in „August“ (erschienen bei Hanser) aber wie er die nur zum Teil gelungene Aneignung der in New York lebenden Deutschen beschreibt. Vera weiß etwa noch immer nicht, dass eine bei der Verabschiedung ausgesprochene Einladung zum Abendessen auf einer Party mitnichten eine Aufforderung bedeutet, einen Termin auszumachen, sondern genau das Gegenteil bedeutet. Richard stellt überraschend fest, dass sich der Guru nicht nur mit Esoterik, sondern auch mit Musecle Cars auskennt und einen Tesla fährt.

Und natürlich bröckeln nach und nach die Fassaden aller Protagonisten. Richard hat zwischenzeitlich arge Finanzprobleme und flüchtet vor der eigentlichen Besitzerin seiner Protzvilla, Stefanie sieht zwischen Yoga und der Kontrolle jedes Bissens auf Bioqualität und Nährwert ihre Ehe bröckeln, Alec kommt mit seinem Buchprojekt, in dem er nichts Weniger als unser aller Leiden am Kapitalismus beschreiben will, natürlich niemals auf einen grünen Zweig und Vera ist frustriert in ihrer Rolle als alleinverdienende Mutter. Den Sommer beendet Richter mit einem großen Wums auf einer spirituellen Party, auf der der Guru Großes ankündigt und alle mit pflanzlichen Drogen high macht. Mehr sei aber nicht verraten.


„August“ – Roman von Peter Richter
256 Seiten, erschienen im Hanser Verlag
ISBN: 978-3-446-26763-3
Preis: 22,70 €

Talking Heads

Großer Rausch auf 550 Seiten


Als die Talking Heads bei Andy Wahrhol vorbeischauten. Durch die wilden 70er-Jahre in New York – „Dive“, die Tagebücher des Künstlers Duncan Hannah.
Text: Helmut Schneider


Ein großer Rausch auf 550 Seiten ohne Gefahr eines Katers. Das sind die jetzt auf Deutsch im Rowohlt Verlag erschienenen Tagebücher von Duncan Hannah. Wir erleben wie der 18-jährige aus der Provinz nach der Highschool von Minneapolis nach New York aufbricht, um dort am Bard College Malerei zu studieren. Mit wenig Geld, aber mit immerhin halbwegs gut verdienenden Eltern im Hintergrund, erlebt er die Szene der Stadt. Aber Geld war damals noch nicht unbedingt nötig, die Mieten für die allerdings kakerlakenverseuchten heruntergekommenen Wohnungen sind billig, wenn es eng wird, findet sich immer ein Freund, den man anpumpen kann. Und Duncans Eintrittskarte ist sowieso gratis – er sieht unverschämt gut aus und passt genau in den Zeitgeist. Einzig, dass er als Hetero andauernd Schwule abwimmeln muss, nervt ihn bisweilen.

Rückblickend gesehen ist es trotzdem ein Wunder, dass er das Jahrzehnt nicht nur überlebt hat, sondern sogar seinen künstlerischen Durchbruch schaffte. Denn Duncan lässt kaum etwas aus, ist fast immer betrunken – Blackouts inklusive – nimmt Drogen (einzig von Heroin lässt er die Finger) und scheut auch vor gefährlichen Vierteln nicht zurück. Das New York der 70er war ja ebenso spannend wie kaputt, mit vielen kreativen Möglichkeiten und ebenso vielen Fallen. Duncan kennt alle in der Szene – von Patti Smith bis zu Debbie Harry oder Bill Evans und sein Idol David Bowie, von Andy Warhol bis zu David Hockney. Viele sind noch unbekannt. Als er bei Keith Haring ins Atelier kommt und seine Zeichnungen von Hunden und Babys ansieht, notiert er „Der arme Kerl hat keine Chance, dachte ich“. Und das erste, was ihn Warhol fragt ist, ob seine Eltern reich genug wären, um ein Porträt bei ihm in Auftrag zu geben.

Fast jeden Abend ist er bei einer Party oder einem Rock-Konzert. Die meisten Musiker gehen mit ihm auf Sauftour. Mit Debbie Harry (Blondie) dreht er einen irren Underground-Film und die Talking Heads lotst er in Warholds Factory. Seine Freundinnen leben ebenso grenzwertig wie er – die eine verdienst sich ihr Geld als Stripperin, die andere als Domina – alles ganz normal damals. Am Ende erleben wir, wie eine Ära zu Ende geht. Die Gentrifizierung kommt über die Stadt, die Reichen kaufen sich in die Künstlervierteln ein und AIDS macht mit der freien Liebe kurzen Prozess. Hannahs Buch ist aber auch so etwas wie ein Entwicklungsroman, denn trotz Dauerrausch weiß Duncan instinktiv, dass er nur als Künstler sein Leben in den Griff bekommen kann. Erste Ausstellungen bringen Erfolge. Ein wunderbares Zeitdokument!   


„Dive – Tagebuch der Siebziger“ von Duncan Hannah

  • Verlag: Rowohlt Berlin
  • Erscheinungstermin: 21.04.2021
  • Lieferstatus: Verfügbar
  • 560 Seiten
  • ISBN: 978-3-7371-0092-2
  • Autor: Duncan Hannah
  • Übersetzt von: Thomas Gunkel