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Buchtipp – Colm Tóibín, Der Zauberer

Die Stimme Deutschlands


Der irische Schriftsteller Colm Tóibín und sein Thomas Mann-Roman „Der Zauberer“. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.


Spätestens nachdem sein Auswandererroman „Brooklyn“ von John Crowley (mehrfach für den Oscar nominiert) 2015 verfilmt wurde, ist der irische Autor Colm Tóibín auch bei uns bekannt. Jetzt legt der 1955 in Enniscorthy geborene frühere Journalist eine romanhafte Biografie des wohl anerkanntesten deutschen Schriftstellers des 20. Jahrhunderts vor. Im deutschen Feuilleton wurde er dafür ziemlich zerrupft. Für Leserinnen und Leser, die nicht mit der sicher tonnenschweren Literatur über Thomas Mann belastet sind, liest sich das 500 Seiten-Buch allerdings wirklich spannend und regt an, wieder einmal die großen Romane Manns wie „Der Zauberberg“, „Buddenbrooks“ und „Doktor Faustus“ oder zumindest die Novellen „Der Tod in Venedig“ und „Wälsungenblut“ zu lesen.

Wir erleben hautnah mit, wie sich der Senatorensohn in Lübeck aus reicher Unternehmerfamilie im Schatten seines längst erfolgreichen älteren Bruders Heinrich („Professor Unrat“) gegen Widerstände in seiner Familie zu dem deutschen Schriftsteller entwickelt, der – nachdem er auch noch den Nobelpreis für Literatur bekommen hat – von der ganzen Welt hofiert wird. Sogar die Nazis schmissen anfangs seine Werke noch nicht ins Feuer. Und das obwohl Thomas Mann mit einer reichen Münchner Jüdin – allerdings aus komplett unreligiöser Familie – verheiratet war und sowohl sein Bruder Heinrich als auch seine Kinder Klaus und Erika längst gegen Hitler wetterten. Dazu erleben wir die Entstehung seiner großen Romane von Beginn an mit. Es gehört zu den großen Verdiensten Tóibíns, dass er es schaffte, den im Umgang eher spröden Literaten, der zu keinen seiner sechs Kinder wirklich eine Beziehung aufbauen konnte, als Mensch verstehbar zu machen. Zwar vollführt er vor seinen Kindern gerne Zaubertricks – deshalb auch der Titel des Romans „Der Zauberer“ –, aber als Erwachsene fühlen sich alle in seiner großen Familie von ihm in Stich gelassen – vielleicht gerade weil er meist ihre Rechnungen bezahlte.

Die Familie von Thomas Mann ist freilich trotzdem immer präsent. Wir erleben mehrere Selbstmorde, die Drogensucht von Klaus Mann, seltsame Ehen – man brauchte schlicht einen englischen Pass für die Flucht – sowie die ziemlich stabile Beziehung von Thomas Mann mit seiner Frau Katia. Und viel Raum nehmen auch seine so gut es ging geheim gehaltenen homosexuellen Begierden ein, denen er sich allerdings mehr als selten tatsächlich hingab. Ab der Machtergreifung Hitlers lebten die Manns im Ausland, ab dem Krieg in den USA. Dort trafen sie mit den Roosevelts zusammen – Thomas Mann wurde, neben Einstein, die wichtigste deutsche Stimme gegen die Nazis. Wunderbar geschildert ist auch wie sich die Stimmung nach Kriegsende komplett verändert. Jetzt gilt er in den USA für manche als Kommunist und in Deutschland als Verräter, der nicht da war, als die Bomben auf die deutschen Städte fielen. Auch zeitgeschichtlich gibt diese Biografie eben einiges her.


Colm Tóibín: „Der Zauberer“, Hanser Verlag
ISBN: 978-3-446-27089-3
556 Seiten
€ 28,80

Buchtipp – Jonathan Lethem, Anatomie eines Spielers

Anatomie eines Spielers


Berlin, Berkeley, Singapur – Jonathan Lethem zeichnet einen Gambler im Kampf mit dem Kapitalismus. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.


Der Amerikaner Alexander Bruno ist weltweit agierender Profispieler, freilich auf dem eher ungewöhnlichen Feld des Backgammon-Spiels. Doch seit kurzem hat er schlechte Karten, das heißt bei ihm natürlich Steine. Denn nicht nur hat er in Singapur eine Art Pechsträhne, er bemerkt in einem Auge auch einen massiven Gesichtsfeldverlust, einen schwarzen Fleck – was leider sehr wahrscheinlich auf einen Tumor hinweist. In Berlin fällt er während eines Spiels mit einem reichen Gegner in dessen Villa zusammen und landet in der Charité. Er hat inzwischen eine Wucherung im Gehirn, der nach Ansicht der deutschen Ärzte nicht operierbar ist. Allerdings soll es in San Francisco einen Neurochirurgen geben, der dem Tumor von vorne zu Leibe rückt, indem er das Gesicht „wegklappt“. So genau will man sich das gar nicht vorstellen – allein Jonathan Lethem beschreibt die Operation des Hippiearztes und Jimmy-Hendrix-Fans in aller Ausführlichkeit.

Finanziert wird Brunos zig-teure Operation von einem College-Klassenkameraden, den er zufällig in Singapur trifft und der – obschon gekleidet wie ein Obdachloser – in beider Heimatstadt Berkeley ein Immobilien- und Fastfood-Imperium aufgebaut hat. Frisch operiert wacht Bruno schließlich in Berkeley auf – geheilt, aber natürlich ziemlich entstellt und weiterhin von den Zuwendungen seines „Freundes“ abhängig. Dankbar will Bruno aber nicht sein, im Gegenteil: er schließt sich der Protestbewegung gegen die neue Ausbeutung durch das Großkapital – namentlich durch seinen Ex-Klassenkameraden an.

„Anatomie eines Spielers“ ist ein witziger, literarisch ambitionierter Noir-Krimi Jonathan Lethems, der mit seinen Brooklyn-Romanen „Die Festung der Einsamkeit“ und „Motherless Brooklyn“ (verfilmt mit  Bruce Willis, Gugu Mbatha-Raw, Alec Baldwin und Willem Dafoe) berühmt wurde. Inzwischen lebt er allerdings in Kalifornien. Auf den knapp 400 Seiten findet er auch Platz für einige Romanzen, denn Bruno ist sowohl von der Freundin seines Gönners als auch von einer Berlinerin angezogen. Letztere lernte er beim Privatspiel eines reichen Magnaten kennen, als sie unten ohne und oben komplett in Leder eingepackt Sandwichs servierte. Die Schrecken des Turbokapitalismus werden in dem Universitätsstädtchen Berkeley, das ja eigentlich ein Stadtteil von SF ist, anschaulich gemacht. Die völlig unakzeptable bezahlte Unterschichte hat da schön langsam die Nase voll. Eat the Rich!


Jonathan Lethem: Anatomie eines Spielers, Tropen Verlag
432 Seiten
ISBN: 978-3-608-50154-4
€ 25,90

Buchtipp – J. Courtney Sullivan, Fremde Freundin

Drei-Klassen-Gesellschaft


J. Courtney Sullivans Roman über eine scheinbare Freundschaft zwischen einer Autorin und ihrer Babysitterin.
Text: Helmut Schneider


Elisabeth ist eine gutverdienende Schriftstellerin, die wegen ihres gerade geborenen Sohnes Gil mit ihrem Mann Andrew gerade vom schicken Brooklyn in den Nordosten der USA zieht. Dort haben sie Haus und Garten, Andrew kann am College unterrichten und an seiner Erfindung eines solarbetriebenen Grills arbeiten und dort bekommt sie auch problemlos eine Studentin als Babysitterin. Sam ist – schon weil sie bereits als Kind einer Arbeiterfamilie auf ihre Geschwister aufpassen musste – die ideale Betreuerin für Gil. Und sie wird schnell auch zu so etwas wie eine Freundin Elisabeths.

Die New Yorkerin J. Courtney Sullivan erzählt abwechselnd aus der Perspektive von Sam und der von Elisabeth, ihre Sympathien sind gut verteilt. Denn einerseits ist Elisabeth eine liberale Frau, die versucht, ihre Mitmenschen zu verstehen – andererseits aber auch ein typischer Brooklyner Snob – ihre neuen Nachbarn, die anscheinend alle Collegeabschlüsse haben, aber als Mütter längst nicht mehr arbeiten, kommen ihr furchtbar spießig vor. Ihre 500-Dollar-Kleider und 50-Dollar-Seifen hält sie für normal. Dass ihr geschiedener Vater Millionär ist, verdrängt sie und weigert sich, Geld von ihm anzunehmen. Für Sam spielt sie die Frau, die sich hochgearbeitet hat und vergisst, dass sie ihre ersten Praktika nur durch Daddys Netzwerke bekommen hatte.

TURBULENT
Sam ist beeindruckt von Elisabeth, zumal ihre Freundinnen am College ja alle verwöhnte Töchter aus Familien sind, die den Winter in Aspern und den Sommer in der Karibik oder in Europa verbringen, während sie selbst den Studienkredit noch Jahre abzahlen wird. In London, wohin sie ihre beste Freundin Isabella einlädt, lernt sie Clive kennen, der sie bald schon heiraten will. Ein bisschen viel Probleme auf einmal für ein junges Leben.

Geschickt hat J. Courtney Sullivan aber noch eine andere Gesellschaftsschichte eingearbeitet, denn Sam arbeitet auch in der Mensa und lernt dort eingewanderte Frauen kennen, die echte Schwierigkeiten haben, ihr Leben mit ihren Minimalstlöhnen zu bestreiten. Es gibt also nicht nur die Klasse der reichen Erben und der prekären ehemaligen Mittelschicht, sondern auch noch das neue, quasi rechtlose Proletariat der Migranten. Als Sam mit einem unter Pseudonym verfassten Brief an die Collegeleitung versucht, deren Arbeitsbedingungen zu verbessern, wird deren Lage noch schlechter. Längst sind wir in der Drei-Klassen-Gesellschaft – und niemand regt sich mehr darüber auf.

„Fremde Freundin“ hat sicher einige Längen, doch der Roman greift ein wichtiges Thema – den schleichenden gesellschaftlichen Wandel nach neoliberalem Muster – auf. Und er lässt sich wunderbar lesen, denn er gibt uns tiefe und intime Einblicke in das Alltagsleben heutiger junger Frauen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten.


J. Courtney Sullivan: Fremde Freundin, Zsolnay Verlag
528 Seiten
ISBN: 978-3-552-07251-0
€ 24,-

Buchtipp – Heimito von Doderer, Die Dämonen

Heimito von Doderers „Die Dämonen“


 „Die Feder des Schriftstellers ist oft klüger als er selbst, wie mitunter das Pferd gescheiter als der Reiter.“ Helmut Schneiders Buchtipp: Heimito von Doderers „Die Dämonen“.


Auch wenn „Die Strudlhofstiege“ Doderers bekanntester und meistgelesener Roman geblieben ist, sind „Die Dämonen“ in Wirklichkeit ein leichter zu lesendes Werk. Man darf sich nur nicht von den fast 1400 Seiten abschrecken lassen.

Die Dramatik ist indes eine ähnliche: Während sich in der Strudlhofstiege alles auf den Unfall der Mary K am 21. September 1925 zuspitzt, ist es bei den Dämonen der Brand des Justizpalastes am 15. Juli 1927 sowie dessen Vorgeschichte, die Ermordung zweier sozialdemokratischen Demonstranten – eine davon ein Kind – im burgenländischen Schattendorf.

Einige der Figuren aus der Strudlhofstiege wie Mary K. oder Rene Stangeler kommen auch in den Dämonen prominent vor. Auch zeitlich sind die Dämonen quasi eine Fortsetzung. „Die Dämonen“ spielen zwischen dem Herbst 1926 und dem Hochsommer 1927 überwiegend in Wien und dessen näherer Umgebung, sowie in der Wiener Sommerfrische (Rax, Semmering), dem Burgenland und auf einer Kärntner Burg.

Auch in den Dämonen löst Doderer am Ende einige Konflikte auf und gönnt den meisten ein Happy End – am Schluss gibt es fast wie in einer Telenovela gleich mehrere Hochzeiten. Ursprünglich sollte der Roman „Dicke Frauen“ heißen, da einer der Chronisten eine Zeitlang besessen von ebensolchen ist. Es herrschte damals in den 20er-Jahren eben ein völlig anderes Frauenideal, nämlich das der sportlichen, burschikosen Frau.

In den Dämonen gibt auch echt unsympathische Figuren, nämlich den Kammerrat Levielle und den Hochstapler Imre Gyurkicz sowie einen Mörder mit dem bezeichnenden Namen Meisgeier. Doderer ist einerseits ein intellektueller, andererseits auch ein hemdsärmeliger Erzähler. Vieles wirkt nicht aufgeschrieben, sondern direkt erzählt. Die Sprachmelodie des Wienerischen ist durchgängig bestimmend.

Die Dämonen des Titels sind nach Doderers Erklärung die Weltanschauungen, quasi eine Fortsetzung des mittelalterlichen Aberglaubens. Der Historiker René Stangeler entdeckt nämlich auf einer Kärntner Burg, wohin er als Archivar eines Erben bestellt ist, eine Handschrift über eine recht seltsame Hexenaustreibung. In Wirklichkeit ging es dem damaligen Burgherrn nämlich um die Befriedigung seiner voyeuristischen Gelüste, die Auspeitschung der Hexen erfolgte mit Samtpeitschen. Auf Seite 1023 heißt es dann: „Damals nannte man es einen Dämon“. Und weiter: „Heute deklariert man das falsch, als ob es vernünftiger Herkunft wäre: eine Weltanschauung.“

Und das passt auch gut zu der Darstellung der historischen Ereignisse rund um den Justizpalastbrand nach dem skandalösen Fehlurteil im Schattendorf-Prozess. Doderer, der selbst ein studierter Historiker war, schildert das Gemetzel der Wiener Polizei an den Demonstranten (84 Todesopfer) als historisch falsch als ein Missverständnis, an dem weder der Republikanische Schutzbund noch die Einsatzkräfte Schuld tragen. Der Abschaum Wiens – der „Ruass“ – soll sich einen Spaß daraus gemacht haben, die Polizei herauszufordern.

Die am wenigsten glaubhafte Figur in dem Roman ist demnach auch der Arbeiter Kakabsa, der eine junge Dame vor einer Buchhandlung vor dem Sturz rettet und daraufhin ausgerechnet eine lateinische Grammatik kauft, um in der Folge brav Latein zu lernen. Sein Bildungseifer lässt ihn zu einem Gelehrten aufsteigen, der schließlich die große Bibliothek eines Fürsten verwalten soll. Am Ende gewinnt er schließlich noch die Hand der von allen verehrten Mary K.

Trotz der Fülle an Handlungssträngen ist der Roman sehr vergnüglich zu lesen. Es wäre eine wundervolle Aufgabe für einen Drehbuchschreiber, daraus eine TV-Serie zu machen – mit tollen Rollen wie der etwas patscherten späteren Millionenerbin Quapp oder den dicken Damen im Wiener Café. Und die einbeinige Mary K., deren Schönheit weiterhin auf die Gesellschaft ausstrahlt, wäre eine Glanzrolle für jede Schauspielerin. Dazu jede Menge Intrigen, versuchte Lieben, Halbweltfiguren und sogar ein spektakulärer Mord. Was will man mehr?


„Die Dämonen“ von Heimito von Doderer, C.H. Beck Verlag

1360 Seiten
ISBN: 978-3-423-10476-0
€29,80

Buchtipp – Heimito von Doderer, Die Wasserfälle von Slunj

Ein Buchtipp von Helmut Schneider. Heimito von Doderer: Die Wasserfälle von Slunj


Für viele ist dieser letzte erschienene Roman (1963) Doderers gelungenstes Prosawerk. „Die Wasserfälle von Slunj“ sind „Doderer im Goldenen Schnitt, sind Doderer in Vollendung, sie sind die Essenz seines Schreibens…“ findet etwa Schriftstellerkollegin Eva Menasse im Nachwort der Jubiläumsausgabe.

Nun, die „Die Wasserfälle von Slunj“ sind mit knapp 400 Seiten zunächst einmal viel weniger umfangreich als „Die Strudlhofstiege“ (900 Seiten) und „Die Dämonen“ (1350 Seiten). Und sie haben daher naturgemäß auch viel weniger Personal. Allerdings waren sie auch bloß als erster Teil eines Romanprojektes gedacht, das Doderer sich in Analogie zu Beethovens 7. Symphonie vierteilig dachte. Da der Autor allerdings wenig später 1966 verstarb, sind nur noch Entwürfe von den weiteren Teilen übriggeblieben.

Wir erleben das Schicksal der englischen Industriellenfamilie Clayton ab den 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts. Rasch erzählt Doderer von der Heirat des jungen Robert Clayton mit Harriet und ihrer Hochzeitsreise auf den Kontinent, wo sie auch in Wien Halt machen – noch nicht wissend, dass sie sehr bald schon dort leben werden. Denn für die Maschinenfabrik Clayton empfiehlt sich eine Firmenzentrale in Mitteleuropa. Besonders beeindruckt ist das Paar aber von den Wasserfällen, den Wassermassen im kroatischen Slunj. Und genau dort wird ihr Sohn Donald, der 9 Monate später geboren wird, dann auch viele Jahre später ums Leben kommen. Die Fälle bilden sozusagen die Klammer des Romans. Dazwischen hat Doderer aber eine Fülle von Schicksalen gespannt – vom Aufstieg des einfachen Buchhalters Chwostik zum eigentlichen Firmenchef bis zum einfachen Volk der Hausmeister und Prostituierten, der Salondamen und Museumswärter. Die Kunst des Erzählers ist es, die jeweiligen Leben in wenigen Szenen auszustellen und dabei die Leser auch noch bestens zu unterhalten. Doderer ist unzweifelhaft einer der humorvollsten Autoren, die die österreichische Literatur je hervorgebracht hat.

Das dunkle Zentrum des Romans aber bildet der Industriellensohn Donald Clayton. Er lernt mühelos, ist technisch begabt und kann alle an ihn gestellten Anforderungen zur Zufriedenheit erfüllen. Allerdings redet er schon als Kind kaum und als er sich dann eine Partnerin fürs Leben suchen sollte, versagt er natürlich kläglich. Doderer gelingt dabei eine der witzigsten Szenen der Literatur. Während sich die von ihm verehrte Monica in ihrem Schlafzimmer bereits nackt auszieht und Donald dies auch andeutet, glaubt dieser, sie wolle erst noch einen Brief schreiben und betrachtet eine halbe Stunde lang wortlos den anbrechenden Starkregen. Wenig später kommt Donald dann bei einem ähnlichen Setting fast ums Leben. Doderer hat das Inszenieren solcher Parallelen spürbar Spaß gemacht. Das Scheitern und die Katastrophe Donalds so kurz vor dem Ersten Weltkrieg hat möglicherweise auch noch als Beispiel für ein viel größeres kommunikatives Versagen Bedeutung. Die Qualität dieses Romans liegt eben auch darin, dass er viele Deutungen zulässt.

„Die Wasserfälle von Slunj“ können sicher als ein Appetitmacher zum Romanwerk Heimito von Doderers herhalten. Und sie sind – auch wenn Doderer die großen politischen Probleme der Zeit seltsam ausspart – zweifelsohne eine schillernde Darstellung der Wiener Gesellschaft vor dem Ende der Donaumonarchie. 


„Die Wasserfälle von Slunj“ von Heimito von Doderer, C.H.Beck Verlag

€ 24,90
ISBN: 978-3-406-69960-3

Buchtipp – Marco Missiroli, Treue

Mittelschicht in mittleren Jahren in Mailand


Marco Missirolis Roman „Treue“ (Wagenbach Verlag) über ein Paar auf der Suche nach seinen Bedürfnissen soll heuer noch auf Netzflix als Serie herauskommen.
Buchtipp von Helmut Schneider.


War da was, oder war da nix? Als der Literaturdozent Carlo seiner Studentin Sofia auf der Damentoilette zu nahekommt, wird das als Hilfeleistung nach einem Schwächeanfall erklärt. Seine Ehefrau Margherita – obwohl nur mäßig eifersüchtig – will sich diese Sofia zwar ansehen, nimmt die Sache aber auch nicht wirklich ernst. Zumal sie gerade in erotische Träumereien mit ihrem Physiotherapeuten Andrea schwelgt. Wir sind im Jahr 2009, also mitten in der Weltwirtschaftskrise, als sich der Immobilienmarkt in Mailand von der Krise unbeeindruckt zeigt und Margherita ist Maklerin. Sie sichert auch das Familieneinkommen, denn Carlo verdient als Dozent fast nichts und als Redakteur von Reiseprospekten nur mäßig. Trotzdem wollen sie ihre Traumwohnung kaufen – ein sonnendurchflutetes Appartement im letzten Stock ohne Lift. Im zweiten, 2018 spielenden Teil des Romans wird Margheritas Mutter Anna – die 5. Hauptperson – dann auf der Treppe zu diesem Appartement dann böse stürzen und sich einer Operation unterziehen müssen.

WELTERFOLG
Marco Missirolis Roman „Treue“ ist ein Welterfolg und wird Ende des Jahres in einer Serie-Adaption bei Netflix gestreamt. Man kann vermuten, dass das damit zusammenhängt, dass in diesem Buch das Personal und die Zielgruppe perfekt zusammenpasst. Die Mittelschicht in den westlichen Ländern in den mittleren Jahren samt ihren Sorgen und Sehnsüchten mit den obligaten Ehebrüchen als Katalysator. Carlo und Margherita sind nicht reich, Carlos Eltern aber wohlhabend, während Margheritas Mutter Anna Schneiderin war. Zähneknirschend lassen sie sich von den Eltern finanziell helfen, weil die Traumwohnung zu verlockend scheint. Sofia, die Studentin kehrt nach dem Ausrutscher mit Carlo, der eigentlich ja keiner war, nach Rimini zurück, wo sie mit ihrem verwitweten Vater ein Eisenwarengeschäft führt. Einzig Andrea passt nicht so recht ins Milieu, denn er hat ein dunkles Geheimnis. Er ist in der Szene, die natürlich illegale Hundekämpfe veranstaltet. Als er dann ein Hund, an dem er sein Herz verloren hat im Kampf getötet wird weicht er in die Boxkampfszene aus. Außerdem ist er schwul, was Margherita, die ihn dann doch einmal verführt, erst später erfährt.

SPANNUNG
Marco Missiroli, der auch für den Corriere della Siera schreibt, erzählt abwechselnd aus der Sicht seiner Protagonisten, die Übergänge sind meist fließend. Im Zentrum steht die alte Frage, ob man sich in einer Beziehung selbst treu bleiben kann, wenn man seine Bedürfnisse nicht auslebt. Manches erscheint klischeehaft, die Obsessionen Andreas wirken wie aus dem „Fight Club“ entlehnt. Aber dann wieder gelingt es Missiroli, Spannung und Anteilnahme herzustellen. Am besten ist ihm wohl die Figur der alte Anna gelungen, die einmal in ihrer Karriere als Schneiderin die Ehre hatte, ein zerrissenes Kleid von Yves Saint Laurent auf die Schnelle balltauglich zu machen. Und dann ist da noch im zweiten Teil Carlos und Margheritas Sohn Lorenzo, der die Welt mit seinen Kinderaugen betrachtet und von seiner Großmutter innbrünstig geliebt wird. Herzschmerz gibt es eben auch viel in dem Buch – ideal also für eine Netflix-Adaption.


Marco Missiroli: Treue
Aus dem Italienischen von Esther Hansen
Wagenbach Verlag
ISBN: 978-3-8031-3330-4
252 Seiten, € 23,70


Lust auf mehr Literatur? Hier entlang zum letzten Buchtipp.

Buchtipp – Reinhard Tötschinger, Rochade

Im Talk mit Jan Vermeer – Reinhard Tötschingers Fälscherroman „Rochade“


Als eines der berühmtesten Gemälde des Kunsthistorischen Museums – Jan Vermeers „Die Malkunst“, das man nach Amsterdam verliehen hatte, bei einem Anschlag ebendort beschädigt wird, muss natürlich der Chefrestaurator Clemens Hartman mit äußerster Sorgfalt vorgehen. Allein, der junge Kanzler der Republik – der mit den gegeelten Haaren – will das Gemälde so schnell wie möglich wieder vollkommen wiederhergestellt in seinen Amtsräumen haben. Und so greift Clemens gemeinsam mit seinem pfiffigen Assistenten Hubert zu einer List. Sie wollen „Die Malkunst“ mit der gebotenen Ruhe zu Hause fertig restaurieren und dem Kanzler eine schnell hergestellte Kopie unterjubeln.

Der Unternehmensberater und Psychotherapeut Reinhard Tötschinger hat schon Theaterstücke und Essays geschrieben, „Rochade“ ist nun sein Romandebüt. Eines, das sich sehen lassen kann. In die sehr witzig geschriebene Geschichte einer Fälschung flechtet er historische Erzählungen über die vielen Besitzer dieses berühmten Vermeers ein. Das Gemälde galt nämlich als eines von Hitlers Lieblingsbildern – als Österreich annektiert wurde, schaffte man es nach Deutschland, wo es zum Prunkstück des Führermuseums werden sollte. Und Tötschingers Erzähler Clemens Hartmann hatte einen Großvater, der als Kunstkurator zeitweise in Hitlers Diensten stand.

Die Spannung ergibt sich klarerweise dann dadurch, dass wir bis zum Ende nicht wissen, ob der Schwindel mit der Fälschung durchgehen wird. Zudem wird das Kunsthistorische gerade von einem Unternehmensberater heimgesucht, der von Kunst keine Ahnung hat, sich aber überall einmischt und bald schon Kündigungen verlangt. Alles muss schneller und billiger gemacht werden. Die üblichen Verwerfungen bei einer neoliberalen populistischen Regierung. Als Leser wünscht man sich, Tötschinger hätte auch die Nebenfiguren besser charakterisiert. Wir bekommen gerade noch den interessanten Assistenten Hubert zu fassen, die Tochter Hartmanns scheint allerdings nur angedeutet. Dafür bleibt aber das Vergnügen, Jan Vermeer himself kennenzulernen, denn Hartmann spricht bald schon mit dem Meister, der ja auch im Bild selbst – allerdings eben nur von hinten – zu sehen ist, und der dann auch antwortet. Vermeer will übrigens schleunigst wieder im Museum ausgestellt werden, wo er sich an den hübschen Touristinnen erfreuen kann…


Reinhard Tötschinger: Rochade, Picus Verlag
ISBN: 978-3-7117-2109-9
288 Seiten, € 22,–

Buchtipp – Carolina Setterwall, Betreff: Falls ich sterbe

Plötzlich Alleinerzieherin


Plötzlich Alleinerzieherin – „Betreff: Falls ich sterbe“ der Bestseller der Schwedin Carolina Setterwall. Ein Buchtipp von Helmut Schneider


Als Roman wäre der Welterfolg „Betreff: Falls ich sterbe“ der Musikredakteurin Carolina Setterwall eine Katastrophe. Zu viele Türen werden aufgemacht ohne dass man dadurch woanderns hinkäme. Die Ich-Erzählerin Caroline verliebt sich in ihren Traummann Aksel – man ist jung, feiert das Leben und dann will sie unbedingt ein Kind, wozu er nur widerwillig ja sagt. Als das Baby dann da ist, schickt er ihr eine Mail mit dem Betreff „Falls ich sterbe“, in der alle seine Daten und Passwörter aufgelistet sind. Wenig später stirbt er plötzlich im Schlaf. Sehr viel später erfährt sie von seiner Herzschwäche, aber es ist nicht klar, ob er davon wusste. Und ein anderes Mal macht sich Caroline – obwohl selbst ziemlich betrunken – Sorgen, weil er ein paar Biere zu schnell geschluckt hat. Wem fällt da nicht Tschechows Revolver ein, der hier allerdings keine Kugel abfeuern wird.

Was die fast 500 Seiten Selbstbespiegelung für manche aber sicher interessant macht sind die genaue Schilderung der Zeit vor und vor allem nach der Katastrophe. Anfang Dreißig mit Baby plötzlich ohne Geliebten und Vater dazustehen ist sicher herausfordernd. Dabei hat Caroline wirklich die besten Voraussetzungen, ihre Situation durchzustehen. Es sind immer Freunde und Familie für sie da – Caroline ist nie alleine, wenn sie es nicht will. Finanzielle Sorgen gibt es auch keine. Dazu die großzügigen schwedischen Sozialgesetze. Als Leser denkt man sich da oft, sie solle einmal an die vielen anderen Alleinerzieherinnen denken, die ganz andere Probleme zu meistern haben. Caroline fühlt das manchmal auch, wenn sie etwa im Urlaub zu dem sie eingeladen wurde neidisch auf Menschen ohne Kind blickt. Dabei war es doch ihr großer Wunsch, endlich Mutter zu werden. Und natürlich klebt sie an ihrem Sohn Ivan, der sich naturgemäß unverzüglich in einen Tyrannen entwickelt. So detailliert und genau wollen wir es bisweilen gar nicht wissen, wenn etwa jedes Wehwechchen detailiert beschrieben wird.

Immerhin gibt es so etwas wie ein Finale. Caroline verliebt sich in einen alleinerziehenden Vater mit einer etwas älteren Tochter. Wäre doch eine prima Familie. Doch dann stellt sich heraus, dass dieser Mann – fast niemandem sonst in dem Buch gönnt die Erzählerin einen Namen – möglichst schnell noch ein Kind von ihr will. Als sie wirklich schwanger wird, merkt sie, dass sie jetzt noch nicht dafür bereit ist. Nun ja, das Buch ist immerhin ein internationaler Bestseller.


„Betreff: Falls ich sterbe“ von Carolina Setterwall
480 Seiten, € 22,90
ISBN: 978-3-462-05260-2

Buchtipp – Maarten T Hart, Der Nachtstimmer

In der niederländischen Provinz


Maarten ’t Hart: Der Nachtstimmer – ein Roman über einen Orgelstimmer, der plötzlich Ziel von Attentaten wird. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.


Maarten ’t Hart, der im südholländischen Warmond bei Leiden lebt, ist einer der erfolgreichsten Schriftsteller Hollands. Mit seinen skurrilen Helden, die gegen ein durch Zufälle bestimmtes Schicksal ankämpfen, hat er sich eine treue Leserschaft erschrieben. In seinem neuen, bei Piper erschienenen Roman „Der Nachtstimmer“ geht es um den Orgelstimmer Gabriel Pottjewijd, der wegen einer lauten Fabrik in einem kleinen Nest an der südholländischen Meeresküste oft nur nachts arbeiten kann. Dabei hilft ihm ein Mädchen, das bei den Einheimischen als debil gilt, in Wirklichkeit aber nur eine leichte Form des Autismus aufweist. Lanna weigert sich schlicht, Niederländisch zu sprechen und kommuniziert mit ihrer brasilianischen Mutter – die Witwe eines Matrosen – nur auf Portugiesisch. Aber der Ort ist sowieso voller Skurrilitäten – der Wirt des einzigen Gasthofs, wo der Orgelstimmer wohnt, ist kauzig und trägt eine Brille ohne Gläser. Die Einheimischen diskutieren stundenlang über unbedeutende Bibelstellen und einer von ihnen sammelt sogar Bibelausgaben – sein Haus ist von oben bis unten voll damit.

Als sich Gabriel Pottjewijd dann mit der ebenso schönen wie spröden Brasilianerin und ihrer Tochter sehr, sehr langsam anfreundet, ist er bald schon nicht mehr seines Lebens sicher. Er wird ins Hafenbecken gestoßen und eines Nachts fallen in der Kirche, in der er arbeitet sogar Schüsse. Wahrscheinlich ist er nicht der einzige Verehrer der Schönen. Aber Maarten ’t Hart interessiert der Krimi, den er uns auftischt, nur bedingt. Dafür ist das Ganze ja auch viel zu langsam erzählt. Er liebt es, leicht ironische und humorvoll pointierte Sätze zu schreiben – wirklich Böses kündigt sich in anderer Sprache an. Und so ist „Der Nachtstimmer“ ein Buch für Leser, die sich an skurrilen Wendungen und der sehr calvinistisch-puritanischen Stimmung erfreuen können – sozusagen ein Krimi für Menschen, die keine Krimis mögen.


„Der Nachtstimmer“ von Maarten ’t Hart
320 Seiten
ISBN: 978-3-492-07043-0
€ 24,00

Buchtipp – Hans-Ulrich Treichel, Schöner denn je

Im West-Berlin der 80er Jahre


Hans-Ulrich Treichels Roman „Schöner denn je“ über eine Männerfreundschaft, die auf Konkurrenz gebaut ist.
Text: Helmut Schneider


Beide wachsen in der Provinz auf und ziehen dann nach West-Berlin zum Studieren. Aber während der Erzähler Andreas dann doch lieber das Lehramt macht, absolviert Erik überraschenderweise zunächst eine Tischlerlehre, um dann als Filmarchitekt durchzustarten. Einmal in der damals noch geteilten Stadt angekommen, sieht man sich sowieso kaum noch. Dabei hatte Andreas alles getan, um Erik als seinen besten Freund zu gewinnen. Doch Erik war schon immer anders – brutal gesagt besser. Es schaut gut aus, hat die hübscheren Mädchen, ist beliebt und fährt ein cooles Auto. Am schlimmsten aber: Erik nimmt das alles nur beiläufig wahr, er ist bescheiden, gibt nie an und drängt sich niemals auf. Erik ist einfach lässiger.

Zum Wendepunkt im Roman kommt es erst, als Andreas nach einer gescheiterten Ehe eine Wohnung sucht und zufällig Erik in einem Restaurant trifft. Der bietet ihm für die nächsten Monate selbstlos seine 8-Zimmer-Wohnung in bester Lage als Bleibe an, weil er selbst beruflich nach New York und Hollywood muss. Und dann ruft in Eriks Wohnung noch die berühmte Schauspielerin Hélène an, für die Andreas schon seit Jahren schwärmt und die Erik, wie auch andere Berühmtheiten – zu Klaus Kinski, sagt er nur „Ach, der Klaus“ –anscheinend sehr gut kennt.

Der 1952 geborene deutsche Schriftsteller Hans-Ulrich Treichel kostet in seinem neuen Roman die Komik dieser Männer-Nicht-Freundschaft aus. Wir erleben das Ganze ja aus der Sicht des Underdogs. Wobei Andreas als Lehrerausbildner in Romanistik ja ganz gut leben könnte und würde – wäre da nicht Erik wie die sprichwörtliche Karotte vor seiner Nase. Je länger man in diesem Roman liest, desto mehr bekommt man das Gefühl, dass Erik in Wirklichkeit nur ein Phantom, ein Spiegelbild des Erzählers, ist. Andreas findet in Eriks großer Wohnung nichts Persönliches, alles ist ebenso geschmackvoll wie nichtssagend. Als er dann beim verzweifelten Stöbern in den Läden ganz hinten auf Röntgenbilder von Eriks Schädel stößt, wirkt das fast auch wieder wie eine Metapher. Der perfekte Mensch hat möglicherweise einen Hirntumor.

Lustig und doch auch wieder mysteriös sind auch die Szenen mit Hélène, die Andreas schließlich bittet, ihn in Berlin herumzufahren. Weit kommen sie aber nicht – überall wird der Star angesprochen. Als sie ihn dann in Eriks Wohnung besucht, schläft sie – natürlich ohne ihn – im Bett ein. Ein Filmstar ist eben immer müde. Witzig ist auch wieder einmal vor Augen geführt zu bekommen, was vor kurzem noch normal war. In der 80er-Jahren gab es noch keine Computer und wer einen Anruf erwartete, musste brav zu Hause bleiben und warten. Hans-Ulrich Treichels Roman „Schöner denn je“ ist vielleicht eine Studie darüber wie sehr uns Vorbilder und Wünsche unser Leben vermiesen. So einen Hinweis kann man ja ab und zu brauchen.


„Schöner denn je“ von Ulrich Treichel, suhrkamp Verlag
ISBN: 978-3-518-42973-0
175 Seiten
€ 22,70