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Buchtipp – C Pam Zhang, Wie viel von diesen Hügeln ist Gold

Ein chinesischer Western


Der Buchtipp von Helmut Schneider: Wieviel von diesen Hügeln ist Gold von C Pam Zhang.


Chinesen kommen in den amerikanischen Western – wenn überhaupt – nur als Arbeiter beim Ausbau der Eisenbahn durch den ganzen Kontinent vor. Kaum bekannt ist, dass die erste Einwanderungswelle dem kalifornischen Goldrausch geschuldet ist. Reich wurden da bekanntlich nur wenige, die meisten landeten dann als schlecht bezahlte Grubenarbeiter im Kohlebergwerk. Die in Peking geborene, aber in den USA aufgewachsene Autorin C Pam Zhang hat diesen ziemlich rechtlosen Migranten jetzt ein höchst literarisches Denkmal gesetzt.

In ihrem Roman „Wie viel von diesen Hügeln ist Gold“ schildert sie wie das Geschwisterpaar Lucy und Sam im wilden Westen um ihr Überleben kämpft, nachdem Ba und Ma – also die Eltern – gestorben oder verschwunden sind. Erzählt wird aus der Perspektive der älteren zwölfjährigen Lucy, die immer im Schatten ihres Bruders Sam steht – dem Liebling von Ba. Dabei ist sie klug und lernwillig, doch die Armut der Familie und der überall herrschende Rassismus, der Hass auf die „Schlitzaugen“, setzt ihr enge Grenzen. Als Ba wirklich Gold findet, ist die Familie schon soweit, dass sie wieder zurück nach China wollen. Doch ein Überfall der neidischen Nachbarn macht den Plan zunichte. Und als dann auch noch der durch seine Alkoholsucht geschwächte Vater stirbt und die Mutter verschwindet – die Kinder glauben, sie ist auch verstorben – sind die beiden Geschwister ganz alleine. Mit Nelly, dem Pferd des Lehrers, das sie sich „ausleihen“, machen sie sich auf, eine freundlichere Umgebung zu suchen. Schon bald stellt sich allerdings heraus, dass Sam eigentlich ein Mädchen ist, das dem Wunsch des Vaters nach einem Sohn nur zu gerne nachgekommen ist. Ihre Sturheit wird sie freilich niemals ablegen.

Zhang beschreibt das Geschehen bildreich und poetisch aus der Sicht der Elfjährigen. Manches geht ins Groteske, etwa als die Kinder die bereits zerfallende Leiche ihres Vaters tagelang mitführen, weil sie den geeigneten Platz für das Begräbnis nicht finden. In den Dialogen werden oft auch Ausdrücke in Pidgin-Mandarin verwendet, aber immer so, dass man als Leser nicht überfordert wird. Die besten Szenen spielen mitten in der Prärie, wo die Mädchen den Elementen trotzen müssen. In der Stadt „Sweetwater“ (vermutlich San Diego) muss Lucy dann sogar als Prostituierte arbeiten, um die Schulden ihres „Bruders“ abzuarbeiten. Das und der spektakuläre Schluss sind dann vielleicht doch zu sehr alter Western…


C Pam Zhang: Wie viel von diesen Hügeln ist Gold
Aus dem Englischen von Eva Regul
S. Fischer Verlag
ISBN: 978-3-10-397392-1
342 Seiten
€ 22,70

Buchtipp – Neal Stephenson, Corvus

Zukunftsvision


Nach dem Tod geht’s in der Bitwelt munter weiter: Neal Stephensons fast 1200 Seiten lange Zukunftsvision„Corvus“.
Ein Buchtipp von Helmut Schneider.


An der amerikanischen Westküste liebäugeln bekanntlich Milliardäre schon lange mit dem Gedanken, dem Tod seinen Stachel zu ziehen und in irgendeiner Form weiterzuleben. Es müsste doch möglich sein das, worauf es ankommt, nämlich unsere Gedanken und Gefühle quasi auf eine Festplatte zu laden und zu konservieren. Der amerikanische Cyberpunk-Autor Neal Stephenson, der auch schon für Jeff Bezos beratend tätig war und selbst Softwarefirmen gegründet hat, ist für Romane mit epischer Breite bekannt. In seinem neuesten Werk beschäftigt er sich nun in aller Ausführlichkeit mit der Frage nach der Möglichkeit eines digitalen Weiterlebens nach dem Tod. Nun, es ist wirklich erstaunlich, welche Probleme sich abseits der Tatsache, dass so etwas zur Zeit noch nicht möglich ist, da auftun.

Der Roman „Corvus“ beginnt mit dem unerwarteten Tod des schwerreichen Videogame-Unternehmers Richard Forthrast, genannt Dodge, bei einer Routineoperation in Seattle. Dieser hatte nämlich verfügt, dass sein Gehirn für eine Transformation in die Computerwelt konserviert und vorbereitet werden soll und einen Vertrag mit der Firma des gerissenen Unternehmers El Shepherd abgeschlossen. Dank der Entwicklung von Quantencomputern wird das schließlich auch möglich und Dodges Nichte Sophia wird als einzige dazu berechtigt, das Gehirn ihres Onkels hochzufahren. Die Lebenden wissen allerdings niemals genau, was sich fortan in der Bitwelt abspielt, sie sehen nur die Verbindungen, die die einzelnen Toten – Dodge war nur der erste, das Weiterleben wird bald zum Geschäftsmodell – miteinander eingehen. Als Leser ist man da besser dran, denn gut die Hälfte des Romans spielt eben eben dort im Bit-Universum und bald wissen wir – die Verstorbenen kommen mitnichten ins Paradies (der englische Originaltitel des Romans „Fall, or, Dodge In Hell“ verheißt ja schon nichts Gutes), die ganze Misere des Struggle for Life setzt sich im Jenseits fort, Kriege inbegriffen.

Interessant sind aber Details, denn irgendwann überlegen die Lebenden etwa, wie sie das elektronische Leben etwas herunterfahren können, nachdem bereits die Hälfte ihrer Serverfarmen mit der Aufrechterhaltung der jenseitigen Aktivitäten blockiert sind. Lustig ist auch wie der Schurke El die ganze Nation spaltet, indem er einen Atomangriff auf eine unbedeutende amerikanische Stadt im Hinterland inszeniert – einfach dadurch, dass er die Onlineverbindungen des Städtchens kappt. Schließlich glauben viele in den USA nicht einmal den Bewohnern selbst als diese erzählen, dass in der Stadt mit Ausnahme eines Serverausfalls nichts passiert ist. So einfach wird ein Unfall zu einer Glaubenssache.

Im Mittelpunkt des Romans steht natürlich Corvus – Forthrasts treuer Mitarbeiter und Erbeverwalter, dem es mit allerlei Tricks gelingt, immer die Fäden in der Hand zu halten. Zwischenzeitlich verliebt er sich in eine behinderte Kletterin und Start-up-Gründerin. Das ist immer gute Unterhaltung mit Fragen, die sich und vielleicht einmal stellen werden. Die Kämpfe in der Bitwelt, die in einer Art getragener Märchensprache geschildert werden, hätten allerdings stark gekürzt werden müssen.


Helmut Schneiders erster Buchtipp im neuen Jahr: Neal Stephensons fast 1200 Seiten lange Zukunftsvision„Corvus“.

Neal Stephenson: Corvus
Aus dem Englischen von Juliane Gräbener-Müller
Goldmann Verlag
ISBN: 978-3-442-31542-0
1150 Seiten
€ 30,90

Buchtipp – Yaa Gyasi, Ein erhabenes Königreich

Zwischen Afrika und USA


Yaa Gyasi: „Ein erhabenes Königreich“. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.


In einem Labor in Stanford macht Gifty Mäuse süchtig und untersucht für ihre Promotion dann jene, die das Suchtmittel auch dann noch haben wollen wenn sie dafür einen Stromschlag riskieren müssen. Aus einer aus Ghana eingewanderten Familie stammend hat Gifty es geschafft – immer Bestnoten schon in ihrer Schule in Alabama, Studium in Harvard und dann weiter nach Stanford. Aber der Preis war hoch, Gifty kann nicht gut mit anderen Menschen, als Jugendliche geht sie voll in der evangelikalen Kirche auf, die sie praktisch von einem Tag auf den anderen mit der Wissenschaft tauscht. Die emotionale Kälte hat sie von ihrer Mutter geerbt, die – nachdem der Vater wieder zurück nach Ghana gegangen ist – zwei Jobs braucht, um die Familie halbwegs über die Runden zu bringen. Und dann ist da noch ihr geliebter Bruder Nana. Der Mädchenschwarm und Basketball-Star wird nach einem Sportunfall Opfer der Opioid-Krise. Er gewöhnt sich rasend schnell an die ofiziell zugelassenen Schmerzmittel und wird wie viele tausende andere – in den USA sollen 450.000 Menschen dadurch umgekommen sein – abhängig. Schließlich steigt er auf das billigere Heroin um und stirbt an einer Überdosis.

Yaa Gyasi wurde zwar 1989 in Ghana geboren, wuchs aber schon in den USA auf. Sie wurde 2016 mit ihrem ersten Roman „Heimkehr“ bekannt, der bereits mehrere Preise abstaubte. „Ein erhabenes Königreich“ umfasst mehrere Themen wie den Rassismus in den USA, Religion und Wissenschaft oder Drogen, ist im Kern aber ein migrantischer Familienroman. Besonders eindringlich wird Giftys Mutter beschrieben. Die hart arbeitende Migrantin versäumt keinen Gottesdienst, unterstützt die Kirche wo immer möglich und wird dabei doch immer als Außenseiterin behandelt. Nach dem tragischen Tod Nanas verfällt sie in eine tiefe Depression und verlässt monatelang nicht ihr Bett. Als Gifty dann in Stanford arbeitet, hat sie einen weiteren Schub und legt sich bei Gifty völlig antriebslos ins Bett. Ahedonie nennt das die Wissenschaftlerin, die sich manchmal wünscht, sie könnte mit optisch-elektrischen Hilfsmitteln wie bei ihren Mäusen direkt das Gehirn ihrer Mutter stimulieren.

Als Kind schrieb Gifty ihr Tagebuch direkt an Gott gewandt. So bringt sie Ordnung in ihr verwirrendes Leben. Das Arbeiten als Forscherin fällt ihr dann leicht, es gelingt ihr bereits als Studentin in wissenschaftlichen Magazinen zu veröffentlichen. Gyasi schafft es dabei, uns sowohl für Religion als auch für Forschung zu interessieren, ihr Roman ist ein sehr gelungenes und sehr gut lesbares Porträt einer jungen Frau mit problematischer Vergangenheit.


Yaa Gyasi: Ein erhabenes Königreich
Aus dem Englischen von Anette Grube
Dumont Verlag
ISBN: 978-3-8321-8132-1
302 Seiten
€ 22,95

Buchtipp – Bernhard Schlink, Die Enkelin

Bei den Völkischen


Helmut Schneiders Buchtipp: Bernhard Schlinks „Die Enkelin“.


Bernhard Schlink gelang etwas, das deutsch geschriebener Literatur nur selten gelingt, nämlich 1995 mit „Der Vorleser“ ein absoluter Weltbestseller. Trotzdem blieb der 1944 geborene Deutsche seinem eigentlichen Beruf – Verfassungsrichter – treu. Literarisch behandelt Schlink vor allem deutsche, zeithistorische Themen. So auch in seinem neuesten Roman „Die Enkelin“.

Im Zentrum steht der Berliner Buchhändler Kaspar, dessen Frau Birgit sich gerade das Leben genommen hat. Erst jetzt – mit Mitte 70 – erfährt er aus ihren zurückgelassenen Aufzeichnungen, was vielleicht ihre gesamte Ehe belastet hatte. Birgit war nämlich immer unzufriedener geworden und hatte sich mehr und mehr mit Sekt und Wein getröstet, wenn nicht betäubt. Die beiden hatten sich 1964 in Ostberlin kennengelernt und da Birgit nicht wollte, dass er in den Osten übersiedelt, organisierte er ihre Flucht mit gefälschten Papieren über Prag und Wien nach Berlin. Was Kaspar aber erst jetzt erfährt: Birgit war schon von einem Mann, den sie mehr und mehr verabscheute, schwanger gewesen und ließ ihre neugeborene Tochter zurück. Und jetzt bringt Kaspar schließlich jenen Mut auf, der Birgit gefehlt hatte und macht sich in der heutigen Gegenwart auf die Suche nach dieser Tochter.

Er findet die vormals Drogensüchtige in einem Dorf nahe Güstrow, also im ehemaligen Osten, und in einer Gemeinschaft von völkischen, deutschnationalen Siedlern. Das Misstrauen ist natürlich gegenseitig, aber als Kaspar seine 14-jährige Stiefenkeltochter Sigrun kennenlernt, beschließt er zu versuchen, sie irgendwie aus diesem Milieu zu „retten“. Durch finanzielle Zuwendungen an die Familie erkauft sich Kaspar einige Aufenthalte seiner Enkelin in seiner großen Wohnung in Berlin. Sie gehen gemeinsam ins Konzert, ins Museum, in seine Buchhandlung und in Restaurants – alles Premieren für die völkisch erzogene Sigrun. Aber wie wird das Mädchen auf dieses Übermaß an internationaler – „undeutscher“ –Kultur reagieren?

Schlinks neuer Roman liest sich spannend, das Thema der deutschnationalen Siedler, die im Osten Bauernhöfe aufkaufen, Julfeiern und deutsche Feste abhalten, mutig. Wieweit diese Szene authentisch beschrieben wird, lässt sich schwer sagen – insgesamt kommt sie mir aber etwas zu harmlos vor. Vor allem der Ausländerhass scheint zu wenig präsent, auch wenn natürlich der Kebab-Stand am Ortsrand abgefackelt wird. Schlinks Abrechnung mit den Deutschnationalen ist aber auf jeden Fall äußerst kurzweilig und legt den Finger in eine große Wunde in unserem Nachbarland.


Bernhard Schlink: Die Enkelin
Diogenes
ISBN: 978-3-257-07181-8
380 Seiten
€ 25,70

Buchtipp – Marente de Moor, Phon

In den verlassenen Wäldern Russlands


Helmut Schneiders Buchtipp diese Woche: Marente de Moors Roman „Phon“.


So geht zoologische Forschung wohl eher nicht. Als die Sowjetunion zerfällt und die Gegend um die Station nicht weit von Lettland entfernt sich nach dem Niedergang einer Batteriefabrik entvölkert, nimmt das Forscherpaar Nadja und Lew Praktikantinnen und Praktikanten auf, die ihnen für viele Dollars die Drecksarbeit machen sollen. Russische Waldromantik inbegriffen. Am besten geht das Geschäft, wenn sie verwaiste Bärenjunge aufziehen, die ihnen ein örtlicher Krimineller zuverlässig liefert. Dass dafür die Bärenmutter abgeknallt werden muss, wollen sie nicht so genau wissen.

Im Roman „Phon“ erzählt das alles Nadja völlig illusionslos, aber keineswegs unpoetisch im Rückblick. Wir schreiben inzwischen 2016 und Lew wird mehr und mehr dement. Er hört ohrenbetäubend laute Geräusche am Himmel – oder gibt es die wirklich?

Doch das Unglück hat natürlich schon viel früher begonnen. Etwa als Nadja erkennen muss, dass Lew auch von anderen Frauen attraktiv gefunden wird und deren Wünschen nicht abgeneigt ist. Sie tröstet sich mit reichlich Wodka. Und dann gerät auch noch die von ihr vergötterte Tochter in St. Petersburg ins Drogenmilieu, während der phantasielose Sohn nach dem Militärdienst Geschäfte mit der Mafia organisiert. Am Ende passiert auch noch ein schlimmer Unfall mit einem Bärenjungen – ausgerechnet als eine Niederländerin, die Lem schöne Augen macht, da ist.

Die 1972 geborene niederländische Schriftstellerin Marente de Moor – Tochter der Erfolgsautorin Margriet de Moor – lebte nach dem Studium als Korrespondentin für niederländische und russische Medien in St. Petersburg. Längst hat sie sich aber als Autorin etabliert, ihr voriger Roman „Aus dem Licht“ wurde viel gelobt.

„Phon“ liest sich nun streckenweise wie eine realistische Dystopie, doch Erzählerin Nadja kann durchaus einen oft bitteren Humor anbieten, der das Düstere dann wieder interessant macht. Außerdem weiß man nie, ob sie sich Geschichten einfach zurechterzählt, wie das das gute Recht jeder Erzählerin ist. Da kommt etwa ab und zu ein Pope zu ihr, um Essen und Wodka abzustauben, die Stromrechnung ist astronomisch obwohl man außer für die Wasserpumpe kaum etwas braucht und sogar die zwei Polizisten, die bei ihr nachschauen als sie den kurzfristig einmal verschwundenen Lem sucht, haben etwas Unwirkliches. Ein Roman aus der Wildnis.


Marente de Moor – „Phon“ liest sich streckenweise als Dystopie, doch Erzählerin Nadja macht das Düstere durch bitteren Humor interessant.

Marente de Moor: Phon
Aus dem Niederländischen von Bettina Bach
Hanser Verlag
336 Seiten
ISBN: 978-3-446-27081-7
€ 24,70

Buchtipp: Stephan Thome, Spielball der Mächte

Spielball der Mächte


Stephan Thomes Familienroman „Pflaumenregen“ im Buchtipp von Helmut Schneider.


Über Taiwan wissen die meisten nur, dass es gerade wieder massiv von China beansprucht wird und jene Insel ist, auf die sich der Diktator Chiang Kai-Shek nach seiner Niederlage gegen Mao zurückgezogen hat. Erst 1987 wurde der Ausnahmezustand beendet, erste freie Wahlen gibt es seit 1996. Taiwan ist nicht einmal halb so groß wie Österreich, hat aber fast 24 Millionen Einwohner.

Der immer wieder auch in Taipeh lebende deutsche Schriftsteller Stephan Thome legt nun einen Familienroman vor, der uns die wechselvolle Geschichte Taiwans nahebringt. In „Pflaumenregen“ ist die Insel zunächst noch fest in japanischer Hand, denn erst die Niederlage Japans im 2. Weltkrieg beendete die 50jährige Herrschaft des Tennō. Hauptfigur ist die kleine Umeko, die alles Japanische und ihren Bruder, den Baseball-Star der Schule, verehrt. Die Idylle – ihr Vater arbeitet gut bezahlt als Personalchef der Goldmine – bekommt Risse, als im Krieg die ersten englischen und amerikanischen Gefangenen eintreffen, die als Zwangsarbeiter schuften müssen. Man glaubt aber noch an einen schnellen Sieg Japans und die Feinde werden als Teufel dargestellt, vor denen man sich fürchten muss. Wenige Jahre später werden die Amerikaner als Befreier begrüßt, aber letztendlich kommen die Festlandchinesen und richten 1947 ein Massaker unter der einheimischen Bevölkerung an. Die neuen Feinde werden schließlich die Kommunisten, die meist nur als Banditen bezeichnet werden. In diesen politischen Verwerfungen ist es fast unmöglich, sich aus der Politik rauszuhalten wie es Umekos Vater versucht. Umeko muss jetzt einen chinesischen Namen tragen und wiederum die Sprache der Besatzer lernen und ihr Bruder, der nur harmlos mit ein paar Mitstudenten über Bücher reden wollte, wird verhaftet und zu jahrelanger Zwangsarbeit verurteilt. Sehr viele andere verschwinden einfach von einem Tag auf den anderen.

Thome hat geschickt die Story in eine zweite Handlung integriert, die heute spielt. Umeko ist jetzt eine Greisin und ihr in den USA lebender Sohn Harry plus Enkel Paul besuchen sie zu ihrem Geburtstag. Harry ist Historiker und überlegt, eine Familiengeschichte zu schreiben. Positiv fällt auf, dass in diesem Buch fast alle Figuren ihre Licht- und Schattenseiten haben. Selbst Umeko hat als übereifriges propagandagläubiges Mädchen einen Obdachlosen angeschwärzt. Auch Fremdherrschaft wird nicht undifferenziert verteufelt – die Japaner brachten sehr viel Kultur und Stabilität auf die Insel, die sie wirtschaftlich natürlich ausbeuteten. „Pflaumenregen“ ist ein wunderbar nuancierter Familienroman, der nicht nur spannend zu lesen ist, sondern uns viel über die Machtverhältnisse in Asien erzählt.


Stephan Thome: Pflaumenregen
Suhrkamp Verlag
524 Seiten
ISBN: 978-3-518-43011-8
€ 25,95

Buchtipp: Johanna Adorján, Ciao

Alter, weißer Mann in Nöten


Helmut Schneiders Buchtipp: Johanna Adorjáns Journalismussatire „Ciao“ über einen alten, weißen Mann in Nöten.


Früher nannte man Journalisten wie ihn „Edelfeder“, heute kämpft Hans Benedek – im Feuilleton einer großen deutschen Zeitung angestellt – mit von der Geschäftsstelle abgelehnten Mittagessenabrechnungen, plötzlichen Fallstricken wie kulturelle Aneignung und dem Gendern. Da bringt ihn seine Frau, die vor Jahren einen Lyrikband mit dem Titel „Frau mit Hut“ geschrieben hat, auf die Idee, einmal etwas über eine junge Influencerin und Feminist*in zu schreiben. Kann ja nicht schaden, einmal in der Redaktionskonferenz ein neues, cooles Thema vorzuschlagen statt dauernd über Andy-Warhol-Ausstellungen zu schreiben. Aber dort wird er – schließlich ist das ein Frauenthema – schon dazu angehalten, seine Praktikantin Niki mitzunehmen mit der er freilich sowieso ein Verhältnis hat. Dass das schief gehen muss, weiß man natürlich da schon, die Spannung dieser Satire besteht darin, herauszufinden wie.

ABSCHIED

Johanna Adorján, 1971 in Stockholm geboren und in München aufgewachsen, weiß wovon sie schreibt, denn sie arbeitet seit Jahrzehnten im deutschen Journalismus. Die Schilderungen von Sitzungen und den Sparmaßnahmen in der Branche wirken auch durchaus real und machen einen Gutteil des Vergnügens aus, dieses Buch zu lesen. Sie schafft es auch, Verständnis für ihre Figuren aufzubringen – Hans und die Influencerin Xandi Lochner kommen übrigens aus Österreich, ein dezenter Hinweis auf eine von manchen deutschen Kollegen als störend empfundene kulturelle Aneignung. Zwar desavouiert die auch nicht so wirklich sympathisch gezeichnete Xandi dann mit Killerinstinkt noch vor dem Treffen mit Hans einen alternden deutschen Talkmeister vor laufender Kamera, der Fauxpas den Hans begeht, ist allerdings nicht so groß. Statt ein sachlich professionelles Gespräch mit ihr zu führen, landen beide nach einem Barbesuch in seinem Hotelzimmer, viel mehr als ein – durchaus von beiden gewollter – Kuss passiert dort aber nicht. Trotzdem findet sich Hans danach auf Instagram wieder und versteht die Welt nicht mehr. Der Titel des Buches „Ciao“ verweist auf das Abschiednehmen von einer Welt, in der alles noch einfacher war.


Johanna Adorján: Ciao
Kiepenheuer & Witsch
270 Seiten
€ 20,60
ISBN: 978-3-462-00171-6

Buchtipp – Hubert Mingarelli, Ein Notizbuch

Kleine Leute im Krieg


Helmut Schneiders Buchtipp: Hubert Mingarellis „Ein Notizbuch“.


Hubert Mingarelli ist bei uns weitgehend unbekannt. Der 1956 geborene und 2020 verstorbene französische Schriftsteller gewann mit seinen wirklich außergewöhnlichen Büchern zwar viele Preise, einen Bestseller hat er aber nicht hinterlassen, zumal nur vier Romane Zeit seines Lebens erschienen. Sein Thema war der einfache Mann, der im Krieg zu überleben versucht. Als 17jähriger war er selbst zur Marine gegangen und wurde dabei auch Zeuge der letzten französischen Atomtests. Dass er schließlich noch nicht sehr alt an Krebs verstarb, könnte man damit natürlich in Zusammenhang bringen.

PREISGEKRÖNT

Der Roman „Ein Notizbuch“ erschien 2004 unter dem Titel „Quatre soldats“ und gewann den renommierten Prix Médicis. Der deutsche ars vivendi verlag bringt Mingarellis Werk jetzt in sehr ansprechenden Ausgaben heraus. Mingarelli erzählt in „Ein Notizbuch“ wie vier durch Zufall zusammengewürfelte Soldaten den russischen Bürgerkrieg 1919 erleben. Die meiste Zeit über gibt es keine direkten Kriegshandlungen. Sie marschieren endlos dahin und müssen dann einen ganzen langen Winter auf weitere Befehle warten. Also bauen sie sich einen Unterstand und vertreiben sich die Zeit mit Würfelspiel und Neckereien. Jeder einzelne hat seine Stärken und Schwächen und sie wissen, dass sie aufeinander angewiesen sind und gemeinsam mehr Chancen haben, aus dem Schlamassel herauszukommen. Durch die lange Zeit fast friedliche Situation lässt sich die Sinnlosigkeit des Krieges noch stärker erfahren. Und die ungekünstelte Sprache dieses Romans entfaltet eine maximale Wirkung. Wer ein Buch dieses Autors gelesen hat, möchte sofort mit seinen anderen Werken weitermachen. 


Hubert Mingarelli: Ein Notizbuch
Aus dem Französischen von Elmar Tannert
Ars vivendi verlag
174 Seiten
€ 18,90
ISBN: 978-3-7472-0318-7

Buchtipp – Phil Klay, Den Sturm ernten

Das Gesicht des modernen Krieges


Phil Klay und sein Kolumbien-Roman „Den Sturm ernten“. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.


Der klägliche Rückzug der Amerikaner aus Afghanistan wurde jetzt täglich berichtet und kommentiert. Wie sich dieser Krieg tatsächlich angefühlt hat, davon bekommt man nach der Lektüre von Phil Klays Roman „Den Sturm ernten“ zumindest ein Gefühl, denn das Thema des US-Amerikaners ist die moderne, hochtechnologische Kriegsführung mit Kriegsmaterial aus aller Welt – eingesetzt in Staaten, die kaum ihre Bürger ernähren geschweige denn ausbilden können. Klay war selbst US-Marine und wurde 2014 mit seinem Kurzgeschichtenband „Wir erschossen auch Hunde“ berühmt. Der Mann weiß also, wovon er erzählt, aber eben nicht nur das: „Den Sturm ernten“ ist ein packender Roman, emotional aufgeladen, aber ziemlich unkitschig erzählt. Zynismus klingt nur manchmal an, etwa wenn er berichtet, wie viel hochtechnisches Know-How, Präzision und internationale Militärtechnologie nötig ist, um ein paar Menschen zu töten, die nicht einmal eine Glühbirne zusammenbauen könnten.

Im ersten Teil lässt Klay seine vier Hauptpersonen – einen kolumbianischen Militär, eine amerikanische Kriegsreporterin, einen US-Elite-Soldaten und einen zum Paramilitär gezwungenen Jungen auf verschiedenen Zeitebenen in der Ich-Form erzählen. Im zweiten Teil wird dann auktorial von einem Zwischenfall kurz vor der Abstimmung über den Friedenvertrag mit den Farc-Rebellen 2016 berichtet. War die Lage im Irak und in Afghanistan schon kompliziert, ist sie in Kolumbien bereits seit den 60er-Jahren völlig unübersichtlich. Die arme Landbevölkerung wird sowohl von den Rebellen, als auch von den Paramilitärs geschunden und ausgebeutet. Das Militär ist selbst korrupt und überhaupt nicht in der Lage, einzelne Gebiete zu befrieden. Dazu kommen natürlich auch noch die spätestens durch die Netflix-Serie berühmt gewordenen Narcos, die vielfach die einzige Einnahmequelle für die Bauern – den Coca-Anbau – garantieren. Die USA unterstützen großzügig die Militärs, vor allem mit Hochtechnologie, bilden Kampftruppen aus aber legen großen Wert darauf, selbst keine Menschen zu töten. Klay schildert das Schlamassel eindrucksvoll aus der Sicht eines Jungen, der seine Familie verliert und dann völlig mittellos vor der Entscheidung steht, für die Mörder seiner Eltern zu arbeiten oder umgebracht zu werden.

Der Hauptplot dreht sich dann allerdings um die quasi ungeplante Entführung der Reporterin, die eine Kettenreaktion auslöst. Ein widerlicher Konflikt, bei dem es keine Sieger geben kann und bei dem aber auf jeden Fall immer die Armen verlieren. Fürsie ist es egal, wer sie unterdrückt, Ungerechtigkeiten sind sie seit Jahrzehnten gewohnt, Hauptsache es herrscht eine minimale Ordnung, denn in der Anarchie sterben noch mehr Menschen. Thomas Hobbes „Leviathan“ lässt grüßen. Klay schafft es in diesem wirklich lesenswerten Roman, sogar noch für den größten Verbrecher ein bisschen Empathie aufzubringen. Sein Feind sind wohl jene Staaten – und das sind fast alle –, die die tödlichsten Waffen an Länder ausliefern, die keinen Gedanken an Menschenrechte verschwenden.


Phil Klay: „Den Sturm ernten“. Aus dem Englischen von Hannes Meyer, Suhrkamp
496 Seiten, € 25,70
ISBN: 978-3-518-43003-3

Buchtipp – Antje Rá, Blaue Frau

Der Roman, der den Deutschen Buchpreis gewann


Der Roman, der den Deutschen Buchpreis gewann – Antje Rávik Strubel: „Blaue Frau“. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.


Harrachov im tschechischen Riesengebirge, Berlin, ein deutsches Nest an der Grenze zu Polen und Helsinki – das sind die Schauplätze an denen die 1974 in Potsdam geborene Autorin Antje Rávik Strubel ihre Protagonistin mit mehreren Namen – Adina, Sala und im Netz nennt sie sich „Letzter Mohikaner“ – schickt. So richtig wohl fühlt sie sich am ehesten noch im Berlin, wo sie freilich eine Fotografin kennenlernt, die sie in die feministische Bohéme einführt, sie ziemlich sicher aber auch verführen will. Schon in ihrem tschechischen Heimatort wurde Adina im Job beim Aprés Ski von deutschen Schifahrern belästigt, weil sie Minderjährigen keinen Alkohol ausschenken wollte. Ihr Martyrium, um das das ganze Buch kreist, erlebt sie dann auf einem deutschen Schloss mitten im Wald, wo sie vom Besitzer an einen Investor als Sexgefährtin zugespielt, vergewaltigt und dann auch noch eingesperrt wird. Sie flieht nach Helsinki und geht eine eher lockere Beziehung zu einem estnischen EU-Abgeordneten ein, der sich für Menschenrechte einsetzt. Aber erst bei einem zufälligen Treffen mit einer finnischen Aktivistin, als sie ausgerechnet ihren Peiniger bei einer Feier im Rathaus wiedersieht, gewinnt sie den Mut, den es braucht, um das an ihr begangene Verbrechen anzuzeigen. Aber hat sie auch nur die leiseste Chance, vor Gericht zu gewinnen? Ohne Zeugen und ein Jahr später könnte sie bald selbst als Täterin angeklagt werden. Und dann soll ihr Vergewaltiger auch noch einen Preis für Menschenrechte bekommen…

Ein fast klassischer #MeToo-Fall, könnte man meinen. Aber Strubel berichtet den Missbrauch und die Folgen eher indirekt indem sie zeigt, was Gewalt an Menschen anrichtet. Adina fällt es nach der Vergewaltigung natürlich schwer, ein normales Leben zu führen. Sie verkriecht sich in einem Plattenbau in Helsinki, wo sie kaum mehr vor die Tür geht. Und jedes Kapitel wird von einem Dialog mit der „Blauen Frau“ beschlossen, die am Strand auftaucht und keine Fragen beantwortet. Die innere Stimme der Autorin oder ihrer Protagonistin?

Antje Rávik Strubels „Blaue Frau“ ist kein Buch, das man so nebenbei lesen könnte. Es empfiehlt sich dringend dran zu bleiben, da man sonst leicht den Faden verliert. Die Stärken dieses Romans liegen an der versuchten Spiegelung des inneren Zustandes eines Missbrauchsopfers. Manchmal würde man sich freilich wünschen, die Autorin hätte uns einen direkteren Kontakt zu ihren Figuren gegönnt.


Antje Rávik Strubel: „Blaue Frau“, S. Fischer Verlag
ISBN: 978-3-10-397101-9
428 Seiten, € 24,70