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Die Männer auf den Bohrinseln – Tabitha Lasleys „Seegang“

Wie geht es Männern, die wochenlang keine Frauen um sich haben und auch sonst völlig abgeschieden leben müssen? Das fragt sich die Journalistin, Autorin und Ich-Erzählerin in Tabitha Lasleys „Seegang“. Sie verlässt – nachdem ein Romanmanuskript einem Einbruch zum Opfer gefallen ist – ihren Freund, um im schottischen Aberdeen Interviews mit Erdölplattformarbeitern zu führen. Gleich mit dem ersten Interviewpartner geht sie eine Beziehung ein, obwohl der natürlich wie fast alle Offshore-Arbeiter verheiratet ist. Wie sie das Ende der seltsamen Liebe verarbeitet und wie die Stimmung in einer nur durch die Erdölindustrie reich gewordenen Stadt funktioniert – davon handelt dieses Buch, das sich nicht so richtig als Roman titulieren lässt.

Die harte und gefährliche Arbeit auf den Plattformen war lange Zeit noch die einzige Möglichkeit für die Arbeiterklasse in Großbritannien, ein Zipfelchen vom Wohlstand zu erreichen. Mit dem Verfall des Ölpreises sowie der Konkurrenz billiger, rechteloser Arbeitskräfte aus Rumänien stellt sich die Situation heute wieder anders dar. Lasley führte mehr als hundert Interviews in denen sich ihr meist ein ähnliches Bild zeigte. Die Männer, die meist nach drei Wochen Heimurlaub bekommen, wirken völlig entwurzelt und können zu Hause kaum noch Tritt fassen. Der Alkohol – den es auf den Bohrinseln natürlich nicht gibt – beherrscht in Aberdeen den Alltag, man will nachholen, was man versäumt hat. Kaum einer kann sein Familienleben aufrechterhalten.

Die Erzählerin ist mittendrin in dieser seltsamen Gemeinschaft. Da sie ihre Interviewpartner meist in Bars findet, hält sie sich dort öfters auf als ihr guttut. Der unfreundliche Winter von Aberdeen und das schlechte Viertel in dem sie wohnt tun ein Übriges. Am Ende arbeitet sie in einem Schnellimbiss in einer trostlosen Nachbarschaft.

Tabitha Lasleys „Seegang“ ist ein Buch über die Situation der britischen Gesellschaft, man bekommt als Leser auch ein Gefühl dafür, warum der Brexit wohl kein Betriebsunfall der Politik des Landes war.


Tabitha Lasley: Seegang
Aus dem Englischen von Tanja Handels
Luchterhand Verlag
320 Seiten
€ 22,70

Liebende Männer & Väter – Bernardine Evaristos Roman „Mr. Loverman“

Seit dem Booker-Preis 2019 für „Girl, Woman, Other“ ist die britische Schriftstellerin Bernardine Evaristo ein Literaturstar. Jetzt bringt der Tropen-Verlag ihren bereits 2013 erschienenen Roman über einen aus der Karibik stammenden Mann, der seine Homosexualität fast sein ganzes Leben in einer Ehe versteckt hat, heraus. Denn in seiner Community ist gay noch immer ein schlimmes Schimpfwort und geoutete Männer persona non grata – auch wenn längst alle Bekannten in London leben. Der gutaussehende Barrington Jedidiah Walker ist zu Beginn der Geschichte schon im Pensionsalter. Durch kluge Immo-Geschäfte reich geworden, könnte er mit seiner Frau Carmel den Ruhestand genießen, denn die beiden Töchter sind längst außer Haus. Doch Carmel ist furchtbar eifersüchtig und unterstellt ihm – natürlich völlig grundlos – Frauenbekanntschaften, während er längst ein Doppelleben mit seinem Lebensfreund Mike, den er bereits seit Kindertagen in der Karibik kennt, führt. Mike wurde von seiner Frau in flagranti erwischt und ist daher längst solo. Auch er hatte aus Gründen der Tarnung geheiratet. Die Spannung erhält der Roman dadurch, dass Barrington jetzt Mike verspricht, sich von Carmel zu trennen und mit ihm zusammenzuleben. Doch gerade jetzt stirbt Carmels Vater, ein ehemals furchtbar brutaler Despot und Frauenschläger und sie fliegt zur Beerdigung. Und da muss Barrington auch noch auf seinen halbwüchsigen Neffen aufpassen, weil auch seine Tochter zur Beerdigung anreisen will. Zwischendurch sind aber immer Kapitel in der 2. Person singular zu lesen, die Carmels Position verständlich machen. Sie ist keineswegs nur die ständig keppelnde Hausfrau. Sogar ein Liebhaber taucht auf und man denkt sich als Leser, warum sie sich nicht endlich ausgesprochen haben.

„Mr. Loverman“ ist ein wunderbar lesbarer Roman über den noch immer bestehenden Mangel an Akzeptanz für andere Lebensformen abseits der Mehrheitsgesellschaft. Dabei ist Barrington keineswegs political correct, wie sich in den vielen witzigen Dialogen mit seinem Freund Mike herausstellt. Evaristo schreckt dabei auch nicht vor Schwulenklischees zurück – Barrington und Mike tragen Maßanzüge mit Schnitten aus den 50er-Jahren und machen damit in der Londoner Gesellschaft mächtig Eindruck. Auch sonst genießen sie das Leben in vollen Whiskey-Schlucken. Am Ende kommt es dann mit Carmel dann aber anders als gedacht.


Seit dem Booker-Preis 2019 für „Girl, Woman, Other“ ist die britische Schriftstellerin Bernardine Evaristo ein Literaturstar. Jetzt bringt der Tropen-Verlag ihren bereits 2013 erschienenen Roman über einen aus der Karibik stammenden Mann, der seine Homosexualität fast sein ganzes Leben in einer Ehe versteckt hat, heraus.

Bernardine Evaristo: Mr. Loverman
Aus dem Englischen von Tanja Handels
Tropen Verlag
334 Seiten
€ 24,80

Flucht in die spanische Provinz – Sara Mesas verstörender Roman „Eine Liebe“

Die 1976 in Sevilla geborene Autorin Sara Mesa ist in Spanien eine vielbepreiste Autorin und ihr Roman „Eine Liebe“ wurde zu einem Bestseller. Er beginnt ganz harmlos mit einem Topos – Frau aus der Stadt zieht, wenn nicht flieht sogar aufs Land, um zu sich zu kommen. In einem herabgekommenen, gemieteten Haus will Nat an einer Übersetzung arbeiten, denn über größere Geldmittel verfügt sie nicht. Doch bald schon stellt sich die Provinz als Gegenteil einer Idylle dar: Ihr Vermieter ist ein ungebildetes Schlitzohr, die Dorfbewohner beäugen sie neugierig, ein nicht unsympathischer Nachbar bietet ihr seine Hilfe an, es ist heiß und als es regnet, stellt sich das Dach als undicht heraus.

Und da wird die Geschichte ungewöhnlich. Ein Außenseiter in der Dorfgemeinschaft, der nur „Der Deutsche“ genannt wird, obwohl er eigentlich aus dem Nahen Osten stammt und nur in Deutschland gearbeitet hat, bietet ihr an, das Dach zu reparieren und das Material zu beschaffen. Allerdings erwartet er dafür eine einmalige sexuelle Gegenleistung – er will „in ihr drinnen“ sein. Nat ist erst empört, kommt dann aber zu ihm und als der Deal vorbei ist, besucht sie ihn ganz freiwillig immer wieder. Mehr noch, sie wird anscheinend emotional und sexuell von ihm abhängig. Und das obwohl der nicht wirklich attraktive Mann nicht gerne spricht und sie als Frau mit Luxusproblemen abtut. Sie war nämlich aus Scham aufs Land geflohen, weil sie aus einer Laune heraus im Büro etwas gestohlen hatte. Als der Diebstahl entdeckt wurde, kam sie zwar mit einer Ermahnung davon, fand aber nicht mehr so recht in ihre Spur.

Als der Deutsche, der in Wirklichkeit ein studierter Ingenieur ist und nur zur Überbrückung als Gemüseerzeuger arbeitete, schließlich mit ihr Schluss macht, ist sie verzweifelt und beginnt sogar ihn zu stalken. Dazu beißt ihr Hund, den sie nur schwer zähmen konnte und den sie doch lieben zu lieben gelernt hatte, dem Kind der Nachbarin ins Gesicht. Er wird von den aufgebrachten Dorfbewohnern erschossen. Doch Mesa lässt die Geschichte ohne weitere Katastrophe ausklingen – Nat zieht einfach ein Dorf weiter weg.

„Eine Liebe“ ist ein verstörender Roman, denn in der aktuellen Prosa sind wir zwar gewohnt, Männern mit all ihren Schwächen und Defiziten zu erleben, während wir für Frauen eher Gründe beschrieben finden, warum sie – wenn sie sich nicht doch noch die Initiative ergreifen – scheitern müssen. Mesa erzählt dabei sehr nüchtern, was diese seltsame Liebe nur noch rätselhafter erscheinen lässt. Wahrscheinlich lohnt sich gerade deswegen die Lektüre.


Die 1976 in Sevilla geborene Autorin Sara Mesa ist in Spanien eine vielbepreiste Autorin und ihr Roman „Eine Liebe“ wurde zu einem Bestseller.

Sara Mesa: Eine Liebe
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen
Wagenbach
188 Seiten
€ 23,70

Elke Heidenreich – Hommage zum Geburtstag

Bild: ©Stefan Burghart

Am 15. Februar wird die deutsche Autorin und Buchmoderatorin Elke Heidenreich 80 Jahre alt. Wir gratulieren unserem Gast bei „EineStadt.EinBuch. 2022“ mit einer „Hommage“ an Heidenreich des in Wien lebenden Schriftstellers Radek Knapp.

Eine Frau wie Elke lernst du nicht in einer Bar oder Disco kennen. Zuerst siehst du sie im Fernsehen, wie sie ein Buch in die Kamera hält und fragst dich: Wie kann so eine coole und fetzige Frau Ihre Zeit mit Literatur verschwenden? Diese Frage wurmt dich eine Weile, bis du dir die übliche Erklärung zulegst: Muss wohl mit der Kindheit und Pubertät zusammenhängen, die ja sowieso an allem schuld sind. Jahre vergehen, du siehst fern und liest wie blöd, bis das Wunder passiert. Elke steht eines Tages leibhaftig vor dir, betrachtet dich von oben bis unten und sagt: „So siehst du also aus“.
Sie nimmt dich an der Hand wie ein Kind, das sie selbst einmal war, und führt dich durch die dunklen, tiefen Gänge der Kölner Philharmonie, bis man in einer Garderobe landet. Dort sitzen zwei Männer. Einer jünger, der andere älter.
„Schau mal“, sagt Elke:  „Der Alte ist mein Mann, der Junge mein Freund.“

Die beiden Männer grinsen und reichen dir die Hand. „Brauchen Sie nicht noch einen dritten?“, fragst du und diesmal lachen nicht nur die Männer, sondern auch Elke. 

Das nächste Mal bist du mit Elke in der Albertina in Wien. Elke bekommt dort eine Extraführung nach Sperrstunde. Der Direktor, Eigentümer einer zwei Meter Körpergröße,  erklärt  exaltiert die Meisterwerke an der Wand, als hätte er sie selber in seiner spärlichen Freizeit gemalt. Er ist sichtlich angetan von seinem Gast, obwohl dieser Zwischenfragen stellt, die seinen Redefluss ordentlich sabotieren. Vor einem Rembrandtgemälde wird er nicht nach der Zusammensetzung der Farbe gefragt, sondern mit einem „Wieviel Geld hatte den Rembrandt, als er die Hufen von sich streckte?“ auf den Boden der Tatsachen geholt. Bei der Renaissanceabteilung legt der Ehrengast noch eins nach: „Dass Michelangelo schwul war ist ein alter Hut, aber war er jetzt Linkshänder, oder nicht?“.

Jedes Mal packt der Direktor packt sein bestes Lächeln aus, denn die Kunstuni hat ihn auf diese Fragen nicht vorbereitet. Sein Gesichtsausdruck bröckelt aber langsam  und  du denkst dir.  „Hätte  ich  bloß jetzt einen Fotoapparat dabei, hätte  ich jetzt einen Picasso darauf.“

Und dann wirst du zu einem Literaturfeste auf Sylt eingeladen. Alles nobel, das Hotel und die Gäste noch nobler als die Einrichtung. Elke kämpft mit einem Gourmetgericht, das klein wie ein Briefmarke ist und in ihrem Gesicht steht in Großbuchstaben: „Warum liefern die nicht zum  Besteck gleich ein Mikroskop mit?“   

Entnervt schiebt  sie den Teller von sich und verlässt den Tisch. Du suchst sie, weil du ihr sagen willst, dass du zufällig am Buffet ein Mikroskop gefunden hast, aber sie ist unauffindbar. Schließlich findest du sie. Und zwar in der Hotelbibliothek, gleich neben dem Fitnessraum. Elke brütet gerade über den Bücherregalen und schüttelt den Kopf:  

 „Hab das ganze hier mit Ach und Krach eingerichtet, damit die Millionäre zumindest ein Buch aus der Nähe zu Gesicht bekommen. Und sieh dir das an: Die Hälfte ist geklaut“   

„Immerhin klauen sie keine Autos mehr“, probierst du eine plumpe Anspielung auf die polnischen Autodiebe, die einst dein Heimatland über die Grenzen berühmt gemacht haben. Elke lacht und öffnet einen Karton mit frischen Büchern. Bald hat sie nur noch Augen für eines: Die leeren Bücherlücken auszufüllen. Du gehst ein paar Schritte zurück wie ein Maler, um alles besser zu sehen und denkst dir.
„Hier würde sogar Sisyphus davonlaufen. Warum tut sie sich das an?“
Aber Elke ist schon weg. Sie würde dich nicht mal hören, wenn du schreien würdest. Du siehst ihr zu und dir wird klar, was dir eigentlich schon am Anfang hätte klar werden sollen:
„Solange Elke die Bücherlücken füllt, kann man es hier noch aushalten. Und kommt mal das Weltende, dann erwischt es uns eben zwischen den Bücherregalen. Gibt Schlimmeres, wenn du mich fragst.“


Radek Knapp

(Geboren 1964 in Warschau folgte 1976 seiner Großmutter nach Wien. Studium der Philosophie, 1999 erschien sein Erfolgsroman „Herrn Kukas Empfehlungen“, der auch verfilmt wurde.)

Russland verstehen – Ljudmila Ulitzkajas Aufzeichnungen „Die Erinnerung nicht vergessen“

Wir wissen leider fast nichts über die Ukraine, und viel zu wenig über Russland. Zwar werden gerade jetzt massenweise Vermutungen über den Geistes- und Gesundheitszustand Putins verlautet, die Geschichte des europäischen Ostens ist freilich für die meisten Europäer noch immer ein Weißer Fleck. Die Aufzeichnungen der 1943 in Moskau geborenen Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja „Die Erinnerung nicht vergessen“ können natürlich nicht Wissenslücken füllen, das Büchlein trägt aber einiges an Verständnis bei – gerade weil es den sehr subjektiven Blick einer russischen Intellektuellen auf ihr Leben beisteuert. Aus einer jüdischen Familie stammend und nach einem Biologiestudium als Laborantin arbeitend verkehrte Ulitzkaja immer in oppositionellen Kreisen. Bis zu Stalins Tod war die Sowjetunion schwer antisemitisch, aber auch danach hatten Juden jede Menge Schwierigkeiten im Alltag. Doch unter der Mangelwirtschaft litten alle. So erzählt Ulitzkaja von Wintermänteln, die Jahre „aufgebaut“ – man sparte also die Einzelteile zusammen – und dann von ganzen Generationen getragen wurden, bis sie schließlich noch in einer Puppentheaterbühne Verwendung fanden. Das einzig Gute in der Sowjetunion war das Erleben von Solidarität unter Freunden – man half sich andauernd gegenseitig aus. Interessant auch die Stellung der orthodoxen Kirche, die damals noch – zumindest teilweise – in Opposition zu den Herrschenden stand, während sie heute bekanntlich voll auf Putins Kriegskurs ist. Ulitzkaja lebt zur Zeit – mit fast 80 Jahren – in Berlin, denn nach dem Überfall auf die Ukraine sah die putinkritische Autorin in Moskau keine Möglichkeiten mehr. Sie notiert: „Der Wahnsinn eines Mannes und seiner ihm ergebenen Handlanger bestimmt das Schicksal des Landes. Wir können nur vermuten, was darüber in fünfzig Jahren in den Geschichtsbüchern stehen wird. Schmerz, Angst und Scham – das sind die Gefühle. Schmerz – weil der Krieg Lebendiges trifft – das Gras und die Bäume, die Tiere und ihre Nachkommen, die Menschen und ihre Kinder.“

Die Eliten hätten allerdings schon vorher Russland verlassen, der Krieg habe diese Bewegung aber verstärkt, erzählt sie. Denn der Totalitarismus begann nicht ohne Vorzeichen. So wurde die nach dem Ende der Sowjetunion einsetzende Aufarbeitung der Verbrechen des Regimes von Putin jäh gestoppt und Archive wieder geschlossen oder deren Finanzierung verhindert.  

Es geht freilich in diesem Buch nicht nur um Politik. Ulitzkaja beschreibt durchaus auch selbstkritisch ihre Ehen und Lieben – viele ihrer Lebensgefährten sind allerdings inzwischen gestorben, ihr Mann – ein Künstler – ist mit ihr nach Berlin gezogen. Sehr lange diskutiert sie mit sich selbst den Begriff der Freiheit – etwas, das die Menschen in Russland bisher kaum erleben durften. Man merkt dem nüchternen Ton durchaus an, dass Ulitzkaja ursprünglich aus der Wissenschaft kam. Die präzisen Unterscheidungen und Abgrenzungen machen „Die Erinnerung nicht vergessen“ zu einem klugen, erhellenden Buch.


Die Aufzeichnungen der 1943 in Moskau geborenen Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja „Die Erinnerung nicht vergessen“ können natürlich nicht Wissenslücken füllen, das Büchlein trägt aber einiges an Verständnis bei.

Ljudmila Ulitzkaja: Die Erinnerung nicht vergessen
Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt und Christina Links
Hanser
192 Seiten
€ 23,70

Grausame Welt – Ottessa Moshfeghs düsterer Roman Lapvona

Die 1981 in den USA geborene und jetzt in Pasadena bei L.A. lebende Tochter eines jüdischen Iraners und einer kroatischen Mutter wurde mit ihrer Darstellung menschlicher Abgründe – gebrochen durch einen feinen Humor – zu einer der angesagtesten Autorinnen weltweit. Schon Moshfeghs erster Roman „McGlue“ über einen alkoholkranken Seemann, der sich an einen Mord nicht erinnern kann, erhielt Auszeichnungen. Berühmt wurde sie 2018 mit ihrem Roman „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“ in dem sich eine junge Frau mithilfe von Medikamenten in eine Art Winterschlaf begibt. Für manche eine Vorahnung von Corona.

Ihr neuestes Buch „Lapvona“ ist gänzlich anders. Entstanden am Beginn der Pandemie, noch unter Trumps Präsidentschaft und – wie sie in einem Interview sagte – als „Reaktion auf das, was gerade vor sich ging“, treffen wir in diesem Roman auf eine Art mittelalterliche Gesellschaft des Dorfes Lapvona, das von dem verrückten Adeligen Villiam, der oben auf seinem Schloss hockt, beherrscht wird. Man mag da an Kafkas unvollendeten Roman denken, doch Moshfeghs Personal ist wesentlich grausamer und weniger geheimnisvoll. Die Bauern sind dumm und lehnen sich nicht einmal in einer durch Dürre ausgelösten Hungersnot gegen die ausplündernde Obrigkeit auf. Da fressen sie lieber ihre eigenen Toten. Dass auch die Katastrophen wie die Überfälle der Räuber und die Wasserknappheit von oben gesteuert werden, schnallen sie nicht.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht der 13-jährige Marek. Er hilft – leider völlig verkrüppelt und hässlich – seinem Vater Jude bei der Schafzucht. Die Schläge seines Vaters erträgt er gerne, denn durch sein Leiden glaubt er sich näher bei Gott. Dabei ist Religion – wie es bei Marx heißt – buchstäblich das Opium des Volkes – obschon der Pfarrer alles andere als bibelfest ist und den Rest seiner Ausbildung in Trinkgelagen mit dem Fürsten Villiam wegsäuft. Marek freundet sich mit dem Sohn des Fürsten an, dem es im Schloss zu langweilig ist und der gerne in der Gegend herumstreift. Beim Aufstieg auf einen Berg bewirft ihn Marek allerdings mit einem Stein, worauf dieser zu Tode stürzt. Doch statt den geständigen Marek zu bestrafen, nimmt ihn Villiam als seinen neuen Sohn im Schloss auf – die Handlung wird immer absurder. Intrigen der Dienerschaft und eine Amme mit Zauberkräften vervollständigen das Bild einer verrückten Gesellschaft, in der nur eines sicher scheint: Man kann sich auf nichts und niemanden verlassen. Am Ende wird Marek der neue – allerdings von den Nachbarreichen nur als Statthalter geduldete – Herrscher.

Was man anfangs noch mit Erstaunen und Interesse verfolgt, wird dabei nach und nach immer beliebiger. Vor allem gibt es in diesem Roman keine positive, sympathische Figur, an deren Schicksal man Anteil nehmen könnte. Wozu Mitleid haben mit all diesen Widerlingen? Mann kann das alles natürlich als Allegorie auf den Wahnsinn unserer Zeit lesen, aber so hoffnungslos wie in dieser Gesellschaft mag man sich die Gegenwart nur ungern denken. Ein Roman als Maßstab dafür, was uns drohen könnte?


Die 1981 in den USA geborene und jetzt in Pasadena bei L.A. lebende Tochter eines jüdischen Iraners und einer kroatischen Mutter wurde mit ihrer Darstellung menschlicher Abgründe – gebrochen durch einen feinen Humor – zu einer der angesagtesten Autorinnen weltweit.

Ottessa Moshfegh: Lapvona
Hanser Berlin
336 Seiten
€ 26,80

Gott & Physik – Franzobels Roman „Einsteins Hirn“ über den Pathologen Thomas Harvey

„Die unwahrscheinlichsten Taten, die hier gemeldet werden, sind wirklich geschehen; ich habe gemalt, was sie nur taten“ schreibt Karl Kraus im Vorwort zu „Die letzten Tage der Menschheit“. Und dass fällt einem sofort ein, wenn man Franzobels neuen Roman „Einsteins Hirn“ liest. Denn vieles, was Franzobel auf fast 450 Seiten berichtet, klingt phantastisch, ist aber so geschehen. Dass der Pathologe Thomas Harvey im Spital in Princeton Albert Einsteins Gehirn entgegen dem Wunsch des Physikers entnahm und aufbewahrte, ist etwa schon lange bekannt. Auch dass Einstein eine russische Geliebte hatte, die ihn ausspionierte, ist nicht erfunden. Genauso, dass einer von Einsteins Söhnen in der Schweiz in einem Irrenhaus lebte. Und der Ort, wo Einsteins Asche verstreut wurde, ist tatsächlich unbekannt.

Franzobel wäre aber nicht Franzobel, wenn ihm zu der wundersamen Geschichte von Einsteins Gehirn nicht noch zusätzlich Wundersames eingefallen wäre. Er konzentrierte sich dabei auf das Leben des an sich ziemlich faden Pathologen Thomas Harvey. Denn dieser ist ein bekennender Quäker und nimmt für sich in Anspruch, ein rechtschaffener Mensch zu sein. Aber gerade zu ihm – und nur zu ihm – beginnt Einsteins Hirn zu sprechen. Zunächst sogar in Schweizerdeutsch. Das kann er natürlich niemandem erzählen obwohl er ja behauptet hatte, Einsteins Denkorgan wissenschaftlich untersuchen zu wollen – wozu Harvey allerdings gänzlich die Ausbildung fehlt. Harvey will Einstein zu Gott bekehren, stößt dabei aber auf Granit. Selbst eine jüdische Dämonenaustreibung, ein muslimischer Kaufmann und diverse andere Kulte können Einstein nicht für Gott begeistern.

Doch die eigentliche erzählerische Kunst Franzobels besteht darin, Figuren um Harvey einzuführen, deren Geschichte bis zum Schluss spannend bleibt. Da ist etwa Harveys spröde Geliebte Gretchen, die später als lesbische Umweltschützerin die ganze Nation nervt und schließlich erschossen wird. Da sind zwei russische Gauner, die in vielen Rollen auftauchen, um den Menschen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Oder Einsteins schrulliger Nachlassverwalter in New York, ein merkwürdiger Psychiater, diverse Direktoren und nicht zuletzt Harveys Ehefrauen. Die ersten zwei sind herrisch und ertragen es nicht, dass ihr Mann soviel Zeit mit einem an Kimchi erinnerndes Gewebe verbringt. Die letzte ist eine gutmütige Optimistin, die das Pech hat, der Demenz zu verfallen. Dabei muss Harvey einen rasanten sozialen Abstieg erleben – er verliert nach und nach immer wieder seine Jobs und sogar seine Zulassung als Arzt, um als Fabrikarbeiter zu enden. Bis zuletzt muss er malochen, um seine Unterhaltszahlungen erfüllen zu können.

Aufgepeppt wird der Roman auch dadurch, dass Harvey – von Franzobel auch gern nach dem Film „Mein Freund Harvey“ „der weiße Hase“ genannt – wie Forrest Gump bei geschichtsträchtigen Ereignissen dabei ist oder sie zumindest im TV mit Einsteins Kommentaren erlebt. So stolpert er in New York, weil er eine Straße überqueren will, in eine Bürgerrechtsdemo und hält da sogar eine Rede vor verblüfften Schwarzen. Als er ein paar Hippies nach Woodstock fährt, erlebt er einen veritablen Drogenrausch. Harvey kommt sogar nach Moskau, wo ihm die altgewordene Geliebte des Physikers die Weltformel präsentiert, die sich schließlich als eine Art Matrix-Warnung herausstellt. Am Ende freundet er sich mit einem seltsamen Nachbarn – ausgerechnet der Beatnik-Dichter William S. Burroughs – an und geht mit ihm in eine Ausstellung. Das gibt Franzobel Gelegenheit – vielleicht etwas zu überzeichnet – sich über die verblödete Kunstszene lustig zu machen.

Der Roman liest sich wunderbar leicht – einzig die Figur eines FBI-Agenten, der Harvey beschatten soll und schließlich im Irrenhaus endet, wo der Pathologe kurzfristig arbeitet, scheint völlig unnötig. Das hätte Franzobel gar nicht nötig gehabt angesichts seiner Fülle an verrückten Figuren.


Franzobel: Einsteins Hirn
Zsolnay
544 Seiten
€ 28,80

24 Stunden vor Kriegsbeginn – Raphaela Edelbauers neuer Roman über 3 junge Menschen in Wien vor dem 1. Weltkrieg

Die 1990 geborene Wienern Raphaela Edelbauer konnte mit ihren Romanen bisher immer überraschen. In ihrem ersten Erfolg „Das flüssige Land“ geht es um Provinzialismus und ein plötzlich auftretendes Loch, das einen Ort zu verschlingen droht, der Roman „Dave“ mit dem sie den Österreichischen Buchpreis gewann behandelt das Thema künstliche Intelligenz in einer nicht allzu fernen Zukunft und im neuesten Werk „Die Inkommensurablen“ begleitet sie drei junge Menschen am Beginn des 1. Weltkrieges in Wien.

Hauptperson ist der erst 17jährige Bauernknecht Hans Ranftler, der aus seiner Quasi-Leibeigenschaft in Tirol nach Wien flüchtet, um die Psychoanalytikerin Helene Cheresch aufzusuchen, die sich mit Massenhysterie beschäftigt. Denn Hans, der sich – gezwungen die Schule zu verlassen – seine Bildung von einem Vikar geholt hat,  glaubt, dass seine Gedanken andere beeinflussen. Völlig mittellos kommt er zu ihrer Praxis, erhält sogar einen Termin für ein Gespräch am nächsten Tag und lernt vor dem Haus Klara und Adam kennen. Sie ist die erste Frau, die an der Universität vor ihrem Abschluss in Mathematik steht, er ist der pazifistische Abkömmling einer Offiziersfamilie dessen Interesse der Musik gilt. Die folgenden Stunden, in denen sie durch ein durch den kommenden Krieg völlig aus der Bahn geratenes Wien streifen, bilden den Roman. Die Inkommensurablen – also die Unbestimmbaren – sind sie selbst, aber auch das Hauptthema von Klaras Doktorarbeit über die schwer fassenden Zahlen neben den natürlichen Zahlen. Klaras Rigorosum, ihr durch kriegslüsterne Kommilitonen gestörter Vortrag in der Universität, ist sozusagen der Höhepunkt des Buches.

Raphaela Edelbauer versucht sich an einem Porträt Wiens knapp vor Kriegsbeginn – die jungen Männer sind bereits trunken vom Krieg, überall werden Adam und Hans gefragt, ob sie sich schon in der Rossauer Kaserne für den Kriegsdienst angemeldet haben. Adam ist klar, dass er als Offizier sich dem Krieg wohl nicht entziehen kann. Von Kindheit an wurde er von seinem Vater darauf vorbereitet. Das Trio muss einem Diner im Palais seiner Eltern mit den Militärberatern des Kaisers beiwohnen – Hans und Klara sind klare Außenseiter, denn auch Klara hat einen proletarischen Familienhintergrund in Favoriten. Edelbauer führt uns auch dorthin, denn Klara muss noch vor dem Rigorosum Dokumente abholen. Inzwischen wohnt sie längst bei Helene Cheresch, sie ist lesbisch – damals eine Provokation. Auch eine Bar auf der Wienzeile, wo sich Obdachlose, Künstler und Ausgestoßene treffen, gehört zur Tour des Trios. Adam hat ein Kind mit einer Prostituierten – Edelbauer ist bemüht, alle Schichten der damaligen Zeit abzubilden. Am Ende landet Hans tatsächlich bei der Psychoanalytikerin Helene Cheresch, die sich freilich als Forscherin von Massenpsychosen präsentiert. In die Handlung eingewoben ist nämlich ein Traum von einem Dorf, der von Tausenden geteilt wird und der sich als Autosuggestion herausstellt. Ein logischer Schluss angesichts der Kriegshysterie, der so viele verfallen.

 „Die Inkommensurablen“ ist ein Roman, der Spaß macht zu lesen – auch wenn manche Metaphern etwas schief scheinen und die Autorin etwas zu tief in den Fremdwörtertopf greift. Und wie sich im letzten Jahr leider gezeigt hat, ist Kriegsbegeisterung ein Thema, das wir uns auch im 21. Jahrhundert stellen müssen.


„Ich verdanke dem Abfall sehr viel“ – ein Gespräch mit Arno Geiger über sein gerade erschienenes Buch „Das glückliche Geheimnis“

Mit dem Roman „Es geht uns gut“, der 2005 den Deutschen Buchpreis gewann, wurde der in Wien lebende, in Vorarlberg geborene Autor Arno Geiger international bekannt. Seit Buch über seinen alzheimerkranken Vater „Der alte König in seinem Exil“ wurde 2011 zu einem Bestseller. In seinem neuen Buch „Das glückliche Geheimnis“ berichtet Geiger von seiner jahrzehntelang gepflegten Leidenschaft, in Altpapiercontainern nach Briefen, Tagebüchern und Handschriftlichem zu suchen. In einem Interview, geführt im Rüdigerhof, gibt Arno Geiger Auskunft über sein Schreiben und Leben in Wien. 

„Das glückliche Geheimnis“ ist ein sehr persönliches Buch. Nie ist in Frage gestellt, dass das „ich“ im Text der Autor ist. War das eine Überwindung, so etwas zu veröffentlichen?

Nein, ich habe das immer als sehr befreiend empfunden, wenn jemand offen erzählt von dem, was ihm in seinen Leben zustößt – weil wir profitieren natürlich vom Austausch.

Sie haben aber sicher als bekannter Autor Erfahrungen gemacht mit einer nicht immer passenden Distanz zu den eigenen Lesern. Jeder/Jede will sein/ihr Buch signiert haben, obwohl er Sie persönlich natürlich nicht kennt.

Die Distanz, die bleibt bestehen. Durch diese Transformationen der Literatur – es ist ja nicht gelebtes Leben, das ich nach außen trage, sondern in Worte gefasstes. Und wir wissen ja, dass eine gemalte Orange etwas anderes ist als eine echte Orange. 

Mich hat immer fasziniert, wenn man das Werk eines Schriftstellers liest, vermeint man, ihn zu kennen – was natürlich falsch ist.

Ich denke viel darüber nach, was es heißt, sich preiszugeben. Und je mehr ich darüber nachdenke, desto plausibler kommt es mir vor, dass die Fragen mehr werden und nicht weniger. Das Geheimnis Mensch wird in Wahrheit nicht kleiner, wenn ich viel preisgebe. Vielleicht ist das genaue Gegenteil der Fall. Jemand der sich komplett abschottet, der ist eigentlich langweilig. Jemand der im Auskunft-geben über sich selbst äußerst zurückhaltend ist oder sich selbst stilisiert – das finde ich platter und weniger Fragen-aufwerfend, als wenn jemand einmal die Tür aufmacht. Wie Sokrates sagte: Je mehr ich weiß, desto mehr weiß ich auch, wie wenig ich weiß. So ist das vielleicht auch, wenn ich von mir selber erzähle, dann denke ich mir, ja die Menschen wissen mehr, aber sie wissen auch mehr, wie wenig sie wissen. Weil das Geheimnis Mensch tiefer wird. Genau darum geht es beim Schreiben – dass ich tiefer hinabsteige, dass das Geheimnis Mensch in der Tiefe ausgelotet wird und nicht an der Oberfläche. Indem ich schreibe, verwandelt sich mein Leben in Literatur. Eine Autobiografie ist eine Form von Geschichtsschreibung, aber die allersubjektivste.

Das Buch hat wohl bewusst keine Genrebezeichnung wie Roman oder Autobiografie.

Das war aber auch schon bei „Der alte König in seinem Exil“ so. „Das glückliche Geheimnis“ ist in gewisser Weise ein Geschwisterbuch von „Der alte König in seinem Exil“. „Das glückliche Geheimnis“ ist aber vieles, denn es geht ja nicht nur um mich als Person, sondern es geht auch um Themen.

Was hielten sie von der Bezeichnung Beichte?

Früher gab es das angesehene und traditionsreiche Genre der Bekenntnisliteratur. Beichte würde ich jetzt nicht sagen. Aber Bekenntnis in dem Sinn: Hier stehe ich und ich kann und will auch nicht anders – und Amen. Eine Beichte hat natürlich diesen stark religiösen Konnex – das spielt für mich überhaupt keine Rolle, auch weil ich hier nichts zu beichten habe.

Aber auch wenn man nicht religiös ist – man ist ja im Katholischen aufgewachsen…

Das Katholische – die Beichte – findet in einem ganz engen Raum statt, es wird geflüstert. Für mich ist das in keiner Hinsicht eine Beichte, sondern ich habe als Schriftsteller in meinem Empfinden die Verantwortung, über die Dinge zu schreiben, die mir am wichtigsten sind, und das zu sagen, was ich zu sagen habe – und das mache ich.

Sehr spannend ist das Thema Abfall. Sie bearbeiten zwar quasi den Edelabfall – Papier – aber wie Sie auch in der Einleitung schreiben: Für Archäologen ist der Abfall das spannendste. Und für einen Schriftsteller auch, denn sie haben dort ja Briefe, Aufzeichnungen, Tagebücher gefunden.

Ich habe dem Abfall wirklich viel zu verdanken. Er ist die Rückseite unserer Lebensform, der Abfall ist das in Ungnade Gefallene, das nicht mehr Benötigte, das Schwache, das Kaputte. Ich habe sowieso eine Zärtlichkeit für in Ungnade Gefallenes. Es gibt von unten her Auskunft über die Gesellschaft – nicht eine geschönte Auskunft, sondern eine sehr bunte Mischung. Es ist Zweitrangiges, Hingeschmiertes, Beiläufiges – es ist nicht artifiziell, nichts Gestelltes, sondern in einem guten Sinn Alltagsding. Und der Zugang über den Alltag – denn der Alltag sagt uns andere Dinge als Kunstwerke uns sagen –, diesen Zugang habe ich auch – nicht nur als Schriftsteller. Ich habe vor allem als Person davon profitiert. Man darf ja nicht vergessen wie jung ich war, nämlich 23/24. Ich war so neugierig und aufnahmefähig. Meine Streifzüge haben sich durch Zufall ergeben, und letztlich haben sie mich stark als Person geprägt.

Beim Lesen hat man das Gefühl, das Sammeln, die Streifzüge sind so eine Art Sucht – sie haben nicht aufhören können…

Nein, das war keine Sucht, weil dann hätte ich nicht aufgehört. Alles, was schön und bereichernd ist – das ist ja naheliegend –, dass man das gerne macht. Aber von Sucht war keine Rede. Ich erwähne das auch im Buch, dass ich zwischendurch monate-, teils jahrelange Pausen gemacht habe. Es gab oft wichtigere Dinge, zum Glück. Der Süchtige würde sich immer der Sucht unterwerfen und nicht von heute auf morgen weggehen und sagen, ich lasse das jetzt, weil gerade andere Dinge wichtiger sind. Außerdem war es immer angenehm für mich, dass es etwas war, das ich auf Knopfdruck an- und abstellen konnte.

Was hat Sie am meisten gereizt bei Ihren Streifzügen?

Besonders geschätzt habe ich, dass meine Streifzüge mir die Möglichkeit verschafft haben, Nachrichten zu bekommen über die hiesigen Sitten und Bräuche – also wie leben die Menschen? Wenn man Schriftsteller ist und vom Leben der Menschen erzählen will, ist es hilfreich, wenn man auf diesem Gebiet eine gewisse Spezialkenntnis erwirbt. Aber in der Früh musste ich immer kämpfen beim Aufstehen – weil im Bett ist es schöner.

Als Schriftsteller will man authentisch erzählen und das eigene Leben bietet nicht unbegrenzt Geschichten…

Wie die allermeisten Menschen habe ich ein Leben mit Familie, mit Freunden, mit Beruf – aber in meinem Alltag werde ich natürlich immer als der angesprochen, der ich bin, in meiner Rolle. Wir passen uns in dem, was wir sagen, immer dem Vis-à-Vis an. Ich begegne mir also in dem, was andere zu mir sagen, in gewisser Weise selber, weil es ja auf mich zugeschnitten ist. Und das konnte ich ganz geschickt umgehen dadurch, dass ich mich um Nachrichten bemüht habe, die nicht auf mich zugeschnitten sind – sondern für die beste Freundin usw. Wenn ein 14jähriger einem 14jährigen schreibt, kommt etwas anderes dabei heraus, als wenn er mir etwas erzählt.

Haben Sie wirklich so viel Persönliches gefunden? Früher hat man natürlich mehr Handschriftliches produziert, jetzt ist es fast die Ausnahme…

Ich habe einer Kultur beim Untergehen zugesehen. Das ist vorbei. Die erste Zäsur war das Telefon – dadurch ging schon vieles an Handschriftlichem verloren. Die menschliche Gesellschaft hat sich über Jahrtausende auf Papier gestützt – um Dinge festzuhalten, um Nachrichten zu übermitteln. Dann kommt das Telefon, und es bricht schon einmal die Hälfte weg. Und dann kommen Computer, E-Mail und Social Media, und es brechen weitere 40 Prozent weg. Ich habe mich diesem Metier mit geschultem Blick vermutlich gründlicher gewidmet als je ein Mensch. Es gibt natürlich andere Leute, die im Abfall etwas suchen, aber die beschäftigen sich nicht inhaltlich damit – sie machen das aus Not, während ich es aus Neigung gemacht habe.

Ich hätte vermutet, dass ein Fund von Tagebüchern eher ein Glücksfall ist…

Nein, ich habe nie auf das Glück des Dummen vertraut, ich war ziemlich beharrlich und habe mich nicht entmutigen lassen, wenn einmal monatelang nichts Brauchbares dabei war. Vieles hatte posthumen Charakter, wird also nach dem Tod eines Menschen weggeworfen wie alte Zeitungen oder zerbrochenes Spielzeug. Es stirbt jemand, und niemand blättert auch nur hinein – die Brösel der gepressten Blumen, 30, 40 Jahre alt, rieseln einem entgegen. Der Staub vom Dachboden liegt wie Verbandswatte über den Dingen – das wird einfach weggeworfen, entsorgt – ent-sorgen, sich einer Sorge entledigen, weg damit, ich brauche das nicht, ich kann das nicht einmal lesen, weil es in Kurrent ist.

Für Ihren Roman „Unter der Drachenwand“ habe Sie ja einiges Vorgefundene verwenden können, oder?   

Ich verdanke vor allem als Person dem Abfall ungeheuer viel, weil ich mich entwickeln konnte in diesen Begegnungen. Und wer mehr vom Leben weiß, der hat auch mehr zu sagen. Künstler war ich sowieso schon, aber ich habe daraus Inspiration gezogen. Bei „Unter der Drachenwand“ verschaffte ich mir auch viele Briefe übers Internet. Ich wusste, dass ich diesen Roman schreiben wollte und brauchte O-Töne, um ein besseres Gespür für die Zeit zu bekommen. Der Roman selbst ist erfunden, die Charaktere sind von mir entworfen. Aber ohne das Fundament aus dem Material wäre das Buch nicht das, was es ist. Woher sonst soll ich dieses so präzise Gefühl für die Zeit haben – für den damaligen Gebrauch der Sprache? Wenn man hundert, zweihundert Briefkonvolute gelesen hat, dann merkt man, es spricht nicht nur der Mensch, sondern die Sprache spricht aus ihnen heraus. Die Konventionen der Sprache sind ja gerade im Alltagsschreiben omnipräsent. Und das ist für mich als Schriftsteller unglaublich spannend – wenn die Sprache spricht. Und zwar anders spricht als wir heute sprechen würden.

Apropos Sprache: Als Vorarlberger hat man es in Wien ja, was die Sprache betrifft, nicht leicht. Die meiste sprechen dann Hochdeutsch, denn es gibt kein Dazwischen zwischen den Dialekten.

Ja – sprachlich gesehen sind fast alle Österreicher Bayern, nur die Vorarlberger sind Alemannen. Ich musste mir in Wien ein aktives Hochdeutsch aneignen. Wir haben ja auch in der Schule Dialekt geredet. Hochdeutsch war für mich, passiv konsumiert, selbstverständlich – aber ich habe es nie gesprochen. Wie beim Englischen, brauchte ich fürs Hochdeutsche etwa 30 Prozent der Gehirnkapazität nur fürs Übersetzen aus dem Dialekt – das empfand ich in der ersten Zeit als anstrengend.

Ich vermute, dass dieser Prozess für einen Schriftsteller auch fruchtbringen ist – man muss sich schließlich notgedrungen intensiv mit Sprache beschäftigen.

Ja, genauso ist es. Ich glaube der Grund, warum so viele österreichische Schriftstellerinnen und Schriftsteller von den Rändern kommen, hat damit zu tun. Dass sie ganz früh mit Sprachnuancen konfrontiert sind und wissen, dass sie nicht verstanden werden, wenn sie dem Gegenüber sprachlich nicht entgegenkommen. Die Faszination Sprache wird im Kind eher geweckt, wenn es erkennt, dass es unterschiedliche Sprachformen, unterschiedliche Sprachnuancen gibt und dass es gar nicht so einfach ist, diese im richtigen Moment einzusetzen.

Fühlen Sie sich inzwischen als Wiener?

Ich bin geborener Vorarlberger und gelernter Wiener. Aber dieses Aufwachsen in Vorarlberg, meine Wurzeln, sind schon sehr wichtig. Dass ich sagen würde „Ich bin Wiener“ – nein. Aber ich bin sehr glücklich in Wien und schon viel länger in Wien als in Vorarlberg. Wie man so sagt „Stadtluft macht frei“. In die Großstadt zu kommen, wo einen niemand kennt, da fällt es leichter, gewissen Konventionen die Gefolgschaft aufzukündigen. Mich hat die Stadtluft tatsächlich frei gemacht. Für mich, der ich aus bäuerlich-katholischem Milieu stamme, war das ein – im schönen Sinn – harter Kontrast. Ich konnte mich hier ausprobieren als Mensch, der sich entwickelt und der nicht mehr in der Rolle gefangen ist, die ihm zugewiesen ist. Für mich war das großartig. Letztlich ist das Buch „Das glückliche Geheimnis“ auch ein Buch über Lebenswege, die nicht geradlinig verlaufen. In meinen Augen sind die nicht geradlinigen Lebenswege die besseren, weil Umwege die Ortskenntnis erhöhen. Manche Dinge muss man ausprobieren, um herauszufinden, ob das etwas für einen ist oder nicht. Nicht jede Geschichte passiert jedem.


Am 17. Jänner stellt Arno Geiger im Gespräch mit Kristina Pfoser im Akademietheater sein neues Buch vor. www.burgtheater.at

Arno Geiger: Das glückliche Geheimnis
Hanser Verlag
240 Seiten
€ 25,70

Der letzte heidnische Kaiser – Julian Barnes „Elisabeth Finch“

Der in London lebende frühere Journalist Julian Barnes ist seit seinem Romanerfolg „Flauberts Papagei“ 1984 eine fixe Größe in der englischen Literatur. Meist sind seine Bücher eine Mischung aus Erzählung und Essay mit besonderer Berücksichtigung der Tücken der Geschichtsschreibung. Bei seinem neuesten Werk „Elisabeth Finch“ ist das nicht anders. Der Erzähler, ein älter gewordener Mann namens Neil, erinnert sich nach zwei gescheiterten Ehen an seine Zeit als Student und dabei besonders an seine Professorin Elisabeth Finch. So wie er sie beschreibt, wird sie zumal von europäischen Lesern wohl als typisch britisch klassifiziert werden. Sehr klug, aber zurückhaltend bei den Meinungen anderer, unnahbar, aber immer an einem intellektuellen Diskurs interessiert, ein bisschen verschroben in ihren Themen, aber stets offen für Kritik. EF – wie die Studenten sie bald nennen – trifft sich auch nach ihrer Pensionierung gerne mit dem Erzähler und als sie stirbt, vererbt sie ihm ihre Aufzeichnungen. Ihr Interesse galt besonders einem römischen Kaiser, der als letzter Heide vor dem Siegeszug des Christentums in die Geschichte eingegangen ist. Julian Apostata („der Abtrünnige“) – der Zunamen wurde ihm von der Katholischen Propaganda verpasst, weil er angeblich schon Christ geworden war, ehe er wieder zu den römischen Göttern zurückkehrte – war nur eine kurze Amtszeit gegönnt, er starb 263 in einer Schlacht und wurde nicht viel älter als 30 Jahre. Und trotzdem wird er in den christlichen Schriften als der Böse schlechthin verunglimpft – obgleich er im Gegensatz zu seinem Vorgänger Diokletian die Christen keineswegs brutal verfolgte, sondern die christliche Lehre bloß für eine schlechte und kindische Religion ansah. Was wäre geschehen, wenn Julian die Schlacht gewonnen und über das Christentum gesiegt hätte – wäre dann etwa überhaupt eine Renaissance und Aufklärung nötig gewesen? Doch Wenn-Sätze sind in der Historie bekanntlich wenig fruchtbringend…

Barnes gibt EFs Ansichten viel Raum, der zweite Teil besteht fast zur Gänze aus einem Essay über Julian, im dritten Teil begibt sich Neil auf Spurensuche nach EF und befragt ihren Bruder und seine ehemalige Geliebte Anna – die ebenfalls mit Finch in Kontakt geblieben war. Viel findet er nicht heraus und so bleiben auch die Leser etwas enttäuscht zurück. Die Verbindung von Geschichte und Erzählung ist Barnes in anderen Romanen sicher besser gelungen.


Der in London lebende frühere Journalist Julian Barnes ist seit seinem Romanerfolg „Flauberts Papagei“ 1984 eine fixe Größe in der englischen Literatur. Meist sind seine Bücher eine Mischung aus Erzählung und Essay mit besonderer Berücksichtigung der Tücken der Geschichtsschreibung. Bei seinem neuesten Werk „Elisabeth Finch“ ist das nicht anders.

Julian Barnes „Elisabeth Finch“
Aus dem Englischen von Gertraude Krueger
Kiepenheuer & Witch
240 Seiten
€ 24,70