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Buchtipp – Sarah Moss, Geisterwand

In der englischen Sumpfwildnis


Der Roman „Geisterwand“ von Sarah Moss zeigt, wie dünn die Kruste der Menschenrechte im Alltag ist.
Text: Helmut Schneider / Fotos: Sophie Davidson,Piper Verlag


Silvie ist 17 und noch ziemlich kindlich, denn wir sind in den 90er-Jahren. Ihr in die englische Frühgeschichte verliebter Vater zwingt sie, die Ferien mit ein paar Studenten und einem Archäologie-Professor bei einer Art Seminar mitzumachen, bei dem alle versuchen, für ein paar Tage wie die ersten Bewohner der Insel zu leben. In Zelten und als Nahrung nur das, was gesammelt oder gejagt wird. Sehr schnell werden dabei die traditionellen Rollenmuster schlagend: die Männer gehen auf die Jagd, die Frauen suchen Kräuter und Muscheln und die Mutter kümmert sich um das Feuer und den Kochtopf.


Sarah Moss erzählt in unspektakulärer Sprache vom Ungeheuerlichen.

Die 1975 in Glasgow geborene Schriftstellerin Sarah Moss erzählt ihre nicht sehr lange, aber umso eindrucksvollere Geschichte aus der Sicht von Silvie, der Tochter des autoritären Busfahrers und Hobbyforschers. Schon bald merken wir, dass dieses Mädchen anders ist als die nur wenig älteren Studentinnen und Studenten mit denen sie die Moorlandschaft durchstreift. Und wenig später wissen wir auch warum. Ihr Vater ist ein unberechenbarer Tyrann, der seine Frustrationen an der Familie auslässt – nur mühsam kann die Mutter ihre blauen Flecken verbergen und wir werden Zeuge, wie Silvie von ihm grausam verprügelt wird. Die nimmt das als gegeben hin, was soll sie denn auch tun, wo sie doch völlig von ihm abhängig ist. Erst als das Ritual einer Opferung nachgespielt werden soll – mit Silvie am Altar einer Opferwand –, zieht eine Studentin die Notbremse.

Sarah Moss ist mit ihrem Roman „Geisterwand“ (Berlin Verlag, € 20,60) die eindrucksvolle Darstellung der durch Abhängigkeiten gestützte Gewalt in der Familie gelungen. Das traditionelle Männerbild ist in den 90ern längst zerbröckelt, viele Jobs, in denen es männliche Kraft braucht wie etwa im Bergwerk, gibt es nicht mehr.  Um das deutlich zu machen, hat Moss eine unspektakuläre Sprache gefunden, die das Ungeheuerliche dieser Geschichte nur umso stärker spürbar macht. 


„Geisterwand“ von Sarah Moss
160 Seiten, € 20,90
ISBN: 978-3-8270-1413-9

Buchtipp – Robin Robertson, Wie man langsamer verliert

Städte sind eine Art Krieg


„Wie man langsamer verliert“ – der wunderbare Nachkriegstext des Schotten Robin Robertson über einen Weltkriegsheimkehrer in Los Angeles.
Text: Helmut Schneider / Fotos: Hanser Literaturverlage; Niall McDiarmid


1946 landet der kanadische D-Day-Veteran Walker in New York und findet sich in der großen Stadt nicht wirklich zurecht. Als Hafenarbeiter hält er sich über Wasser, abends versucht er vergebens, in den Bars seine Erinnerungen an das große Töten zu betäuben. Seine Leidenschaft für den Film und der Tipp eines seiner Idole – Hollywood-Regisseur Robert Siodmak – das er zufällig in einer Bar trifft, verschlägt ihn nach Los Angeles, wo zumindest das Klima viel besser ist. Und er findet sogar einen Job bei einer Lokalzeitung. Doch weiterhin sieht er auf Schritt und Tritt Obdachlose, Verfall und als Lokalreporter auch wieder viele Tote. Wieder lungert er in den Bars herum, geht ins Kino und sucht die Nähe zu den vielen Filmsets in der Stadt. Aber er ist die Summe aller seiner Erlebnisse und nach und nach erfahren wir, dass er über alle Maßen Schreckliches erlebt hat.


Autor Robin Robertson ist an der schottischen Nordküste aufgewachsen.

Poesie
Robin Robertson, aufgewachsen an der schottischen Nordküste, ist bislang nur als Verleger und Verfasser von Gedichten in Erscheinung getreten. Mit „The Long Take – A Way to Lose More Slowly“ stand er dann 2018 auf der Shortlist für den renommierten Man Booker Prize. Und „Wie man langsamer verliert“ (Hanser) ist tatsächlich auch eine Mischung aus Gedicht und Roman, der Text ist wie ein Poem geordnet, die Übergänge sind assoziativ. Aber Robertson schafft es dabei so nebenbei eine Geschichte zu erzählen – eine Geschichte der Verluste. Eingestreut in den Text sind zwischendurch immer wieder Kriegserlebnisse, wir erleben Grausamkeiten und skurrile Szenen im tödlichen Kriegsalltag – etwa wenn die angreifenden Feinde noch Kinder sind oder wenn Walker sich aus einer Kriegsgefangenschaft wieder befreit. Aber auch die Nachkriegszeit ist voll von Verlusten. Das Viertel, in dem Walker in einer bescheidenen Unterkunft haust, wird nach und nach abgerissen, wir sind in Downtown L.A. und Bunker Hill wird das zukünftige Wirtschaftszentrum der Stadt – gebraucht werden jetzt Parkhäuser und keine Hotels. „Sie nennen es Fortschritt, dabei ist es in Wirklichkeit nur Gier“, stellt ein Ex-Kamerad Walkers einmal lakonisch fest. Und an Silvester denkt Walker wieder einmal „Städte sind eine Art Krieg“. Selbst Rassismus ist im sonst eher liberalen Kalifornien an allen Ecken zu erleben, Schwarze sind auch hier Freiwild.

Das Tolle an diesem Buch ist aber wie Robertson seine Gedanken in einer auch durch die tadellose Übersetzung (Anne-Kristin Mittag) wirkenden Poesie erfahrbar macht. Ein Film Noir in Buchform, wir fühlen und riechen mit, wenn Walker seine Wanderung durch das von Prostituierten, Raufbolden und nicht immer freundlichen Journalistenkollegen bevölkerte Nachkriegsamerika antritt. Zwischendurch darf er für sein Blatt auch noch zu einer Reportage über Obdachlose in den USA nach San Francisco reisen, aber das Bild des Elends und der Verzweiflung ist immer dasselbe – nur das nebelige Wetter ist anders. Ein Buch, das lange nachwirkt.


„Wie man langsamer verliert“ von Robin Robertson
Preis: € 25,00
ISBN: 978-3-446-26571-4
256 Seiten

Buchtipp – Steffen Kopetzky, Mondschau

Pockenausbruch an der Eifel


Auch 1962 gab es eine Seuche in Deutschland: Steffen Kopetzky (Bild) erzählt in „Monschau“ höchst spannend über einen Pockenausbruch an der Eifel.
Text: Helmut Schneider / Foto: Creative Commons (CC BY-SA 4.0)


Als ein Außendienstmitarbeiter bei den Rither-Werken aus Indien die Pocken mit nach Hause mitbringt, ist in dem kleinen Ort Monschau an der belgischen Grenze Feuer am Dach. Die Fabrik ist der größte Arbeitgeber und außerdem ist gerade Karneval-Zeit – da kann man doch nicht einfach alles zusperren. Die Diskussionen sind uns vertraut, doch Steffen Kopetzky bringt uns in seinem genau recherchierten Roman aus dem Jahr 1962 doch auch vor Augen, wie wenig Staaten damals wie heute auf Pandemien vorbereitet sind. Damals gab es etwa noch keine Schutzanzüge – der für die Seuchenbekämpfung engagierte Arzt in Ausbildung muss etwa einen umgebauten Stahlarbeiter-Anzug tragen und wankt als Raumfahrer durch die idyllische Berglandschaft. Und die Erbin der Rither-Werke schleicht sich einfach mit einer Karnevals-Krankenschwestern-Tracht ins längst abgesperrte Krankenhaus weil sie ihre Freundin besuchen will – die völlig Naive muss dann natürlich für Wochen in Quarantäne drinnen bleiben.

Der Erzählkunst des Autors ist es zu verdanken, dass wir auf 350 Seiten gleich mehrere durchaus komplexe Schicksale miterleben können. Kopetzky erzählt nicht nur eine Liebesgeschichte im noch verklemmten Nachkriegsdeutschland, sondern dröselt auch noch die zahlreichen Stränge, die zwischen dem 3. Reich und dem Wirtschaftswunder laufen, auf. Der mächtige Chef der Rither-Werke (Vorbild war die Otto Junker GmbH) war Liebkind der Nazis und ein Profiteur des Systems von Zwangsarbeitern. In seinem Unternehmen hat er sich mit Kriegsversehrten eine treue Gefolgschaft aufgebaut. Abhängig ist er nur von den Investoren im nahen Luxemburg, wo eine Alte Dame nach dem Vorbild Dürrenmatts, alle Fäden in der Hand hält. Dazu schnüffelt ein lästiger, unsympathischer Journalist der „Quick“ herum, der unschwer als Johannes Mario Simmel zu erkennen ist. Mit Jazzmusik, Sartre (Vera, die Erbin studiert in Paris) und vielen Details (der griechischstämmige Jungarzt kann etwa kein Moussaka kochen, da Melanzani in Deutschland zu dieser Zeit unbekannt sind) wird eine Atmosphäre geschaffen, in die der Leser wie in einen Mantel schlüpfen kann.

Und Kopetzky hält die Spannung wie in einem Krimi bis zuletzt aufrecht. Man wird da etwa an die frühere Meisterin dieses Genres Vicki Baum erinnert. Viele Fragen müssen schließlich beantwortet werden: Kriegen sich die beiden Verliebten aus gänzlich anderen Kreisen am Ende, gelingt es die Seuche einzudämmen und mit welchen Verlusten und entgeht der Ex-Nazi seiner Entlarvung? Schließlich fällt im Winterwald sogar noch ein Schuss. Aber mehr sei hier nicht verraten.


„Monschau“ von Steffen Kopetzky
Gebundene Ausgabe, 352 Seiten
ISBN: 978-3-7371-0112-7
Preis: 22,00€

Rund um die Burg 2021

Rund um die Burg 2021


Die Organisatoren des Literaturfestivals „Rund um die Burg“ haben sich aus Sicherheitsgründen nun doch für ein digitales Event entschieden.
Fotos: Nadine Studeny; Alain Barbero


„Wie alle freuen auch wir uns sehr, dass Kulturveranstaltungen Zug um Zug nun endlich wieder stattfinden können. Aus Verantwortungsbewusstsein hat sich echo event als Veranstalter des für Besucher kostenlosen Literatur-Festivals ‚Rund um die Burg‘ dennoch entschlossen, die Lesungen auch 2021 heuer nicht ‚hybrid‘, sondern nur digital über die Bühne gehen zu lassen. Unter Einhaltung der 20-m2-Regel pro Besucher könnten die somit wenigen, zugelassenen Besucher im Lesungs-Dome zwar auflagenkonform entsprechend platziert werden. Der Zustrom vor dem Zelt ließe sich mit den vorgeschriebenen 2-Meter-Abständen logistisch aber einfach nicht bewältigen. Und die Sicherheit und die Gesundheit gehen natürlich vor. Die Lesungen, wie beispielsweise von Romina Pleschko (Titelbild), finden wie im beigefügten Programm auch zeitlich unverändert statt und können auf www.rundumdieburg.at mitverfolgt werden.“

Barbara Rieger liest heuer bei „Rund um die Burg“.

Um auch bei hohen Streaming-Zugriffen einen reibungslosen, ruckelfreien Online-Ablauf der Lesungen zu gewährleisten, werden die dafür notwendigen IT-Voraussetzungen extra entsprechend verstärkt. Und als kleines „Trostpflaster“ für das entgangene Live-Erlebnis werden während der gesamten Festivaldauer auf www.rundumdieburg.at 15 Buchgutscheine im Wert von je € 100,–, von Morawa zur Verfügung gestellt, verlost. Das Gewinnspiel wird – wie auch Rund um die Burg selbst – von der Wiener Städtischen Versicherung unterstützt. Wir freuen uns schon jetzt darauf, „Rund um die Burg“ im nächsten Jahr hoffentlich wie in vergangenen Jahren wieder mit Publikum am Platz zwischen Café Landtmann und dem Burgtheater ausrichten zu können.“


INFO:

Rund um die Burg

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Roman

Was ist da los in Isreal?


Der weltbekannte Dramatiker Joshua Sobol hat einen bewegenden Familienroman geschrieben, der uns den Nahen Osten besser verstehen lässt.
Text: Helmut Schneider


Der Welterfolg des 1939 in Tel Aviv als Sohn osteuropäischer Einwanderer geborenen Schriftsteller Joshua Sobol ist eng mit Wien verknüpft. Berühmt wurde er nämlich 1983 mit seinem Stück „Weiningers Nacht“ (Originaltitel: The Soul of a Jew), in dem er die letzten Minuten des an seinem Judentum und Frauenhass leidenden Selbstmörders Otto Weininger auf die Bühne brachte. Paulus Manker spielte diese Rolle zuerst in Hamburg, ehe er das Stück auch in Wien inszenierte. Die Zusammenarbeit der beiden mündete dann in dem noch größeren Erfolg „Alma − A Show Biz ans Ende“ über das Leben von Alma Mahler-Werfel, das seit 1996 an verschiedenen Orten immer wieder neu aufgeführt wird.

Joshua Sobol ist eng mit Wien verknüpft.

Sobol veröffentlicht seit 2001 auch Romane, sein jetziger „Der große Wind der Zeit“ (Luchterhand) ist aber aufgrund seiner Konzeption – eine Zeitreise mit vier Generationen einer Familie – als auch seines Umfangs – 530 Seiten – etwas Besonderes. Im Zentrum stehen zwei Frauen, nämlich die junge Armee-Verhörspezialistin Libby und ihre Urgroßmutter Eva, die als eine der ersten Siedler über Wien nach Israel gekommen war. Libby kann ihren Job nicht weitermachen, weil sie die immer gleichen Folgen der von ihr äußerst geschickt erreichten Geständnisse – „Haft. Hauszerstörung. Vergeltungsanschlag. Untersuchungshaft. Verhör. Prozess. Hauszerstörung“ – nicht mehr erträgt. Außerdem blitzt da plötzlich bei ihrem letzten Verhöropfer – einem in England studierenden Palästinenser – so etwas wie Zuneigung auf. Nach der Kündigung fährt sie in den Kibbuz zu ihrem Großvater, der allerdings gerade mit seiner Harley die Berge Israels durchpflügt. Sie findet aber das Tagebuch ihrer Urgroßmutter Eva und schon tauchen wir ein in der Siedlerbewegung der 30er-Jahre, als noch alles offen und möglich schien. Eva nützt alle Freiheiten im Kibbuz aus, ohne sich vor der harten Arbeit zu scheuen. Sie hält Beziehungen zu mehreren Männern und startet zwischendurch noch einmal eine Karriere als Tänzerin in Berlin. Ohne Scheu lässt sie sich auch mit Nazigrößen ein, verkehrt in der Clique von Bertolt Brecht und hat großen Erfolg auf der Bühne. In Wirklichkeit will sie in Erfahrung bringen, was da – vor allem für Juden – noch zu erwarten ist. Ihre präzisen Warnungen vor dem drohenden Unheil schlägt die eigene Familie in Wien freilich in den Wind.

Sobol hat freilich nicht mit weiterem Personal gespart. Evas Nachfahren werden Kriegshelden, mehr oder minder erfolgreich in diversen Berufen und einer will sogar Ministerpräsident werden, womit das Spiel inklusive Korruption und Erpressung losgeht. Sobols Kunst besteht darin, seine Figuren mit wenig Aufwand plastisch erscheinen zu lassen. Ein Computergenie wird in der Firma, die er selbst mit aufgebaut hat, gekündigt und sucht jetzt Verbündete gegen den Terror von 1 und 0, die minderjährige Tochter des Politikers schläft aus Langeweile mit dem Konkurrenten ihres Vaters und Libbys Großvater wird durch den Verkauf der Kibbuz-Betriebe steinreich – ohne sich freilich darum zu scheren. Natürlich ist das alles wohl eher die jüdische Sicht der Geschichte – obwohl Sobol und die meisten seiner Figuren immer wieder Verständnis für die Palästinenser zeigen. Opfer sind auf beiden Seiten zu beklagen, Straßensperren und gefährliche Situationen allgegenwärtig und alle wissen nur zu gut, dass sich so schnell nichts ändern wird. Trotzdem bekommt man als Leser einen ganz guten Eindruck von diesem an Konflikten reichen Gebiet im Nahen Osten in dem gerade wieder ein Krieg auszubrechen droht.


„Der große Wind der Zeit“ von Joshua Sobol, erschienen im Luchterhand Literaturverlag

Gebundene Ausgabe, 528 Seiten
Übersetzt ins Deutsche von Barbara Linner
ISBN: 978-3-630-87573-6

Rezension

Ein Sommer in den Hamptons


August Richters neuer Roman „August“ ist eine Zustandsbeschreibung unserer westlichen Welt anhand zweier Paare.
Text: Helmut Schneider


Ein deutsches Paar, das es in Amerika geschafft hat: Richard ist vom Rave-Veranstalter in Berlin zum Immobilienhändler in New York geworden, seine Frau Stefanie war früher Fernsehmoderatorin und hat jetzt jede Menge Zeit, sich um Globuli und Ernährungspläne zu kümmern. Zu Gast in deren Haus mit Pool am Strand von Long Island ist für einen lange August Richards bester Freund Alec, ein Kalifornier, der lange in Deutschland gelebt hat und jetzt mit seiner aus Chemnitz stammenden Frau und Ärztin Vera als Intellektueller mit Buchprojekt in Brooklyn lebt. Ein Leben zwischen Strand, Pool und der Lobsterbude mit viel Gelegenheit zu auch kontroversen Gesprächen, die freilich immer vor der Schmerzgrenze stoppen – man kennt sich schließlich schon ewig. Richard spielt mit dickem Auto und lockerer Geldbörse den Muster-Amerikaner, Alec den europäischen Philosophen, beide wissen nur zu gut, dass sie dabei nur Rollenklischees bedienen. Quasi als Katalysatoren dienen ein von der Hummerbar wegengagiertes Kindermädchen sowie der Guru des Viertels – originellerweise ein ehemaliger Marketingmann aus Wien. Letzterer hilft Stephanie, sich ihrem „Schmerzkörper“ zu stellen und die Büsche im Garten als Götter zu erkennen – wenn er nicht gerade seine jungen Anhängerinnen flachlegt.

Peter Richter lebte lange Jahre als Kulturkorrespondent der Süddeutschen Zeitung in New York und schrieb schon zahlreiche Sachbücher und Romane – unter anderem das Wendebuch „89/90“ mit dem er für den Deutschen Buchpreis nominiert war. Richter kennt also die amerikanischen Befindlichkeiten sehr gut. Witzig ist in „August“ (erschienen bei Hanser) aber wie er die nur zum Teil gelungene Aneignung der in New York lebenden Deutschen beschreibt. Vera weiß etwa noch immer nicht, dass eine bei der Verabschiedung ausgesprochene Einladung zum Abendessen auf einer Party mitnichten eine Aufforderung bedeutet, einen Termin auszumachen, sondern genau das Gegenteil bedeutet. Richard stellt überraschend fest, dass sich der Guru nicht nur mit Esoterik, sondern auch mit Musecle Cars auskennt und einen Tesla fährt.

Und natürlich bröckeln nach und nach die Fassaden aller Protagonisten. Richard hat zwischenzeitlich arge Finanzprobleme und flüchtet vor der eigentlichen Besitzerin seiner Protzvilla, Stefanie sieht zwischen Yoga und der Kontrolle jedes Bissens auf Bioqualität und Nährwert ihre Ehe bröckeln, Alec kommt mit seinem Buchprojekt, in dem er nichts Weniger als unser aller Leiden am Kapitalismus beschreiben will, natürlich niemals auf einen grünen Zweig und Vera ist frustriert in ihrer Rolle als alleinverdienende Mutter. Den Sommer beendet Richter mit einem großen Wums auf einer spirituellen Party, auf der der Guru Großes ankündigt und alle mit pflanzlichen Drogen high macht. Mehr sei aber nicht verraten.


„August“ – Roman von Peter Richter
256 Seiten, erschienen im Hanser Verlag
ISBN: 978-3-446-26763-3
Preis: 22,70 €

Talking Heads

Großer Rausch auf 550 Seiten


Als die Talking Heads bei Andy Wahrhol vorbeischauten. Durch die wilden 70er-Jahre in New York – „Dive“, die Tagebücher des Künstlers Duncan Hannah.
Text: Helmut Schneider


Ein großer Rausch auf 550 Seiten ohne Gefahr eines Katers. Das sind die jetzt auf Deutsch im Rowohlt Verlag erschienenen Tagebücher von Duncan Hannah. Wir erleben wie der 18-jährige aus der Provinz nach der Highschool von Minneapolis nach New York aufbricht, um dort am Bard College Malerei zu studieren. Mit wenig Geld, aber mit immerhin halbwegs gut verdienenden Eltern im Hintergrund, erlebt er die Szene der Stadt. Aber Geld war damals noch nicht unbedingt nötig, die Mieten für die allerdings kakerlakenverseuchten heruntergekommenen Wohnungen sind billig, wenn es eng wird, findet sich immer ein Freund, den man anpumpen kann. Und Duncans Eintrittskarte ist sowieso gratis – er sieht unverschämt gut aus und passt genau in den Zeitgeist. Einzig, dass er als Hetero andauernd Schwule abwimmeln muss, nervt ihn bisweilen.

Rückblickend gesehen ist es trotzdem ein Wunder, dass er das Jahrzehnt nicht nur überlebt hat, sondern sogar seinen künstlerischen Durchbruch schaffte. Denn Duncan lässt kaum etwas aus, ist fast immer betrunken – Blackouts inklusive – nimmt Drogen (einzig von Heroin lässt er die Finger) und scheut auch vor gefährlichen Vierteln nicht zurück. Das New York der 70er war ja ebenso spannend wie kaputt, mit vielen kreativen Möglichkeiten und ebenso vielen Fallen. Duncan kennt alle in der Szene – von Patti Smith bis zu Debbie Harry oder Bill Evans und sein Idol David Bowie, von Andy Warhol bis zu David Hockney. Viele sind noch unbekannt. Als er bei Keith Haring ins Atelier kommt und seine Zeichnungen von Hunden und Babys ansieht, notiert er „Der arme Kerl hat keine Chance, dachte ich“. Und das erste, was ihn Warhol fragt ist, ob seine Eltern reich genug wären, um ein Porträt bei ihm in Auftrag zu geben.

Fast jeden Abend ist er bei einer Party oder einem Rock-Konzert. Die meisten Musiker gehen mit ihm auf Sauftour. Mit Debbie Harry (Blondie) dreht er einen irren Underground-Film und die Talking Heads lotst er in Warholds Factory. Seine Freundinnen leben ebenso grenzwertig wie er – die eine verdienst sich ihr Geld als Stripperin, die andere als Domina – alles ganz normal damals. Am Ende erleben wir, wie eine Ära zu Ende geht. Die Gentrifizierung kommt über die Stadt, die Reichen kaufen sich in die Künstlervierteln ein und AIDS macht mit der freien Liebe kurzen Prozess. Hannahs Buch ist aber auch so etwas wie ein Entwicklungsroman, denn trotz Dauerrausch weiß Duncan instinktiv, dass er nur als Künstler sein Leben in den Griff bekommen kann. Erste Ausstellungen bringen Erfolge. Ein wunderbares Zeitdokument!   


„Dive – Tagebuch der Siebziger“ von Duncan Hannah

  • Verlag: Rowohlt Berlin
  • Erscheinungstermin: 21.04.2021
  • Lieferstatus: Verfügbar
  • 560 Seiten
  • ISBN: 978-3-7371-0092-2
  • Autor: Duncan Hannah
  • Übersetzt von: Thomas Gunkel

Teresas Projekte

Teresas Projekte


Der neue Roman„Teresa hört auf“ von Silvia Pistotnig schildert die verstörenden Beziehung einer jungen Frau zu ihrem Körper. Die Autorin ist am 21. Mai beim Festival Rund um die Burg dabei.
Foto: Stefan Diesner / Text: Helmut Schneider


Eigentlich führt die Angestellte einer Agentur für Maturareisen in Wien ein komfortables Leben. Die coole Wohnung haben ihr die Eltern geschenkt, es gibt keine materiellen Sorgen und Beziehungen sind sowieso nicht ihr Ding. Wäre da nicht ihr fehlendes Vermögen, ihren Körper als Ganzes wahrzunehmen. Teresa kann nur immer Teile von sich selbst erkennen, die sie dann – durchaus talentiert – zu zeichnen versucht. Um sich zu spüren, startet sie nacheinander einige „Projekte“. So wäscht sie sich etwa monatelang nicht, versucht nicht zu schlafen, macht die Nächte durch und probiert es – nur kurz und erfolglos – mit Sex. Mitten in ihrem „Bulimie-Projekt“ lernt sie die kugelrunde Esssüchtige Nicole kennen, die ihr wie ein Luftballon entgegenschwebt und mit der sie schon bald ihre Fressorgien abhält. Nur dass Teresa ihr Essen danach im Klo wieder auskotzt, Nicole aber nicht. Was fasziniert Teresa an dieser Nicole, die anscheinend aus einer anderen sozialen Schicht stammt, geschieden ist und bereits einen erwachsenen Sohn hat? Davon handelt der Roman „Teresa hört auf“ der in Wien lebenden geborenen Kärntnerin Silvia Pistotnig.

„Der Roman hat sich aus einer Kurzgeschichte entwickelt“, erzählt sie im Gespräch, „aber Teresa und Nicole waren schon am Beginn da.“ Mit Teresa ist ihr eine Figur gelungen, die vielleicht schon mit einem Fuß in der Psychiatrie steht, die aber anfangs noch voll integriert scheint in der Konsumwelt und im aufreibenden Job in der Agentur. Für Christian, den Chef und der einzige im Laden ohne Matura, ist sie seine wichtigste Angestellte, die, die alles checkt: „Du bist eine Geheimwaffe“, flüstert er ihr zu. Aber unter der Oberfläche der jungen Karrierefrau brodelt es bereits gewaltig – die Banalität ihrer Mitmenschen ekelt sie an, im Shop findet sie Spaß daran, laut vor der Verkäuferin zu rülpsen und stellt nur lakonisch fest: „Das schlechte Karma, das bin ich.“ Wie die Obsession mit der dicken aber weit weniger oberflächlichen als anfangs vermuteten Nicole ausgeht, sei hier nicht verraten – aber es wird noch sehr turbulent. Und am Ende liefert uns die Autorin auch noch einen fulminanten Höhepunkt.

Bei RUND UM DIE BURG wird Silvia Pistotnig am 21. Mai um 15.30 Uhr aus „Teresa hört auf“ lesen.


„Teresa hört auf“ von Silvia Pistotnig
ca. 240 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, Fadenheftung, Leseband
Preis: € 23.00
ISBN 978-3-903184-68-8

Roman

Buchtipp von Helmut Schneider


„Über Menschen“ von Juli Zeh ist nicht nur der erste interessante Corona-Roman, sondern vor allem eine Auseinandersetzung mit der Tatsache, dass auf dem Land Rechtspopulisten als einzige Alternative erscheinen.
Text: Helmut Schneider


Die 46jährige Juli Zeh ist spätestens nach ihrem 2016 erschienenen Dorfroman „Unterleuten“ die erfolgreichste Schriftstellerin unseres deutschen Nachbarn. Der Bestseller wurde sogar vom ZDF verfilmt. Jetzt erschien mit „Über Menschen“ ein Roman, der aufgrund des Settings – wieder sind wir in der brandenburgischen Provinz in einem fiktiven Dorf – wie eine Fortsetzung wirkt. Doch statt wie in „Unterleuten“ aus der Perspektive vieler zu erzählen, erleben wir diesmal die natürlich nicht konfliktfreie Assimilation einer jungen Werbetexterin in einer Dorfgemeinschaft. Und es ist die Geschichte einer Art Freundschaft eben dieser Berlinerin Dora, die mitten in der Coronakrise in ein altes Haus am Land zieht, und dem sich selbst als „Dorfnazi“ vorstellenden, kahlrasierten Nachbarn Gote. Zeh hat dabei viel riskiert, denn wie kann es glaubhaft erscheinen, dass eine urbane, linksliberale, junge Frau Sympathie für einen älteren Mann entwickeln kann, der mit bekannten AfD-Aktivisten nach viel Bier und Schnaps das Hort-Wessel-Lied singt und eine Bewährungsstrafe wegen Körperverletzung ausgefasst hat? Aber Juli Zeh hat dabei ein Vorteil, den andere Schriftsteller nicht haben, sie wohnt nämlich schon seit einigen Jahren ebendort in der Provinz, in Brandenburg. Sie erlebt die Wut ihrer Nachbarn darüber, dass sich die Politik um ihre Bedürfnisse nicht kümmert, aus nächster Nähe mit. Und sie lässt das ihre Dora Schritt für Schritt lernen und vor allem auch erfahren wie es so ist, wenn die Busstation weit entfernt ist und nur zweimal am Tag ein Bus fährt – in einem Dorf, in dem es keine Einkaufsmöglichkeiten gibt. 

Köstlich sind aber auch die Szenen mit Doras Freund Robert im ersten Drittel des Buchs noch in Berlin. Der klimabewegte Journalist reagiert fast mit Freude auf die Pandemie, hält sich panisch an alle Vorschriften und verbietet Dora schließlich sogar längere Spaziergänge mit ihrem Hund. Corona ist für ihn und Seinesgleichen so etwas wie die gerechte Strafe für die Klimasünder. Und plötzlich lernen die gestressten Städter: „Echte Freizeit ist der Horror.“

Im Dorf gehen die Uhren natürlich anders. Und langsam stellt sich heraus, dass die Menschen auf dem Land komplexer sind als von der Hauptstadt aus gesehen. Der Nazinachbar Gote zimmert Dora ungefragt ein Bett und schenkt ihr Sesseln – einfach weil sie das nicht hat und fährt mit ihr einkaufen oder raucht eine Zigarette mit ihr zwischen den Grundstücken. Und bald schon freundet sich Dora mit Gotes kleinen Tochter Franzi an, die von der Mutter wegen Corona beim natürlich geschiedenen Vater abgegeben worden ist.

Juli Zeh gelingt es, Menschen am Land zu beschreiben und Doras Verwandlung in eine sogar spannende Handlung zu setzen. Vielleicht ist sie manchmal sehr nahe am Klischee, aber es ist sicher nicht leicht, sich ohne die übliche Pose des Besserwissenden mit Rechtsextremen auseinander zu setzen und sich dabei auch nicht vor Gefühlen zu fürchten. Die Autorin macht das, was andere nur fordern. „Wir müssen die Sorgen der Menschen ernst nehmen“ ist schließlich die größte Lüge fast aller Politiker.   


„Über Menschen“, Juli Zeh, Luchterhand Verlag
Gebundene Ausgabe, 416 Seiten
ISBN: 978-3-630-87667-2

Charlie Kaufman

Psychotrip durch ein Seelenleben


Mit dem Drehbuch zu „Being John Malkovich“ wurde Charlie Kaufman berühmt, jetzt hat er seinen ersten Roman veröffentlicht, einen 860-Seiten Psychotrip durch das Seelenleben eines erfolglosen New Yorker Filmkritikers.
Text: Helmut Schneider


So etwas muss man mögen: Schon Spike Jones Film „Being John Malkovich“ war ja äußerst schrullig. Dass ein Puppenspieler in einem Bürogebäude einen Tunnel findet, der direkt in den Kopf eines bekannten Schauspielers führt – das muss einem erst einmal einfallen. Aber der Film wurde in den USA und Europa zu einem Nischenerfolg und gilt als Kultfilm. Der Mann, der sich den Plot ausgedacht hatte, schrieb dann noch weitere ähnlich skurrile Drehbücher und produzierte bzw. inszenierte eigene Filme. Seinen letzten Streifen „I’m Thinking of Ending Things“, der allerdings ziemlich erfolglos im Kino lief, kann man sich aktuell etwa auf Netflix anschauen. 

Erstroman
Aber jetzt erschien bei Hanser sein erster Roman, und der ist fest im Kaufman-Universum angesiedelt. In „Ameisig“ geht es um den Filmkritiker B. Rosenberg (durch die Abkürzung seines Vornamens will er sein Geschlecht verschleiern, um niemanden zu nahe zu treten), der in Florida aus Zufall den sehr alten Filmemacher Ingo Cutbirth kennenlernt, der ihm als ersten seinen einzigen – allerdings drei Monate langen – Film zeigt. Der von Neurosen zerfressene New Yorker sieht darin die Chance seines Lebens, berühmt zu werden – als Entdecker eines Streifens, der die Filmgeschichte umschreiben wird. Als Cutbirth stirbt, mietet er einen LKW, um das hinterlassene Material nach New York zu schaffen. Doch leider geht der LKW in Flammen auf, Zelluloid brennt bekanntlich sehr gut und Rosenberg kommt mit leeren Händen zu Hause an. Fast das gesamte Buch hindurch versucht sich Rosenberg nun an den Film zu erinnern – unter Zuhilfenahme von Therapien und Hypnosesitzungen mit wechselnden Ärzten, die sich wie Scharlatane gebärden.

Höllentrip
In Wirklichkeit sind wir längst im persönlichen Höllentrip des B. Rosenberg gefangen, der geradezu paranoid über Regisseure, Drehbuchschreiber oder Kollegen schimpft. Auch mit seiner Tochter ist er längst im Clinch. Dazu gibt es unerfüllte Leidenschaften – er begehrt etwa heftig eine Frau im Clownskostüm –, skurrile Seitenstränge wie einen Präsidenten namens Trunk, der in Cutbirths Film auftaucht und sich klonen lässt, einen Doppelgänger, ein bisschen auch über Ameisen und so weiter und so fort. Am liebsten schimpft Rosenberg natürlich über Charlie Kaufman, diesen talentlosen Plagiator. Summa summarum ist das Buch wohl eine Satire auf die vergeistigte New Yorker Intellektuellenszene, wahrscheinlich könnte man den Roman auch „Being Charlie Kaufman“ nennen. Diese Art von Literatur auf 860 Seiten ist am ehesten etwas für Filmfans oder Menschen, die auch „Unendlicher Spaß“ von David Foster Wallace mit Vergnügen gelesen haben.


„Ameisig“, Charlie Kaufman

  • Erscheinungsdatum: 15.03.2021
  • 864 Seiten
  • Hanser Verlag
  • Fester Einband
  • ISBN 978-3-446-26833-3
  • Deutschland: 34,00 €
  • Österreich: 35,00 €