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Buchtipp – Reinhard Tötschinger, Rochade

Im Talk mit Jan Vermeer – Reinhard Tötschingers Fälscherroman „Rochade“


Als eines der berühmtesten Gemälde des Kunsthistorischen Museums – Jan Vermeers „Die Malkunst“, das man nach Amsterdam verliehen hatte, bei einem Anschlag ebendort beschädigt wird, muss natürlich der Chefrestaurator Clemens Hartman mit äußerster Sorgfalt vorgehen. Allein, der junge Kanzler der Republik – der mit den gegeelten Haaren – will das Gemälde so schnell wie möglich wieder vollkommen wiederhergestellt in seinen Amtsräumen haben. Und so greift Clemens gemeinsam mit seinem pfiffigen Assistenten Hubert zu einer List. Sie wollen „Die Malkunst“ mit der gebotenen Ruhe zu Hause fertig restaurieren und dem Kanzler eine schnell hergestellte Kopie unterjubeln.

Der Unternehmensberater und Psychotherapeut Reinhard Tötschinger hat schon Theaterstücke und Essays geschrieben, „Rochade“ ist nun sein Romandebüt. Eines, das sich sehen lassen kann. In die sehr witzig geschriebene Geschichte einer Fälschung flechtet er historische Erzählungen über die vielen Besitzer dieses berühmten Vermeers ein. Das Gemälde galt nämlich als eines von Hitlers Lieblingsbildern – als Österreich annektiert wurde, schaffte man es nach Deutschland, wo es zum Prunkstück des Führermuseums werden sollte. Und Tötschingers Erzähler Clemens Hartmann hatte einen Großvater, der als Kunstkurator zeitweise in Hitlers Diensten stand.

Die Spannung ergibt sich klarerweise dann dadurch, dass wir bis zum Ende nicht wissen, ob der Schwindel mit der Fälschung durchgehen wird. Zudem wird das Kunsthistorische gerade von einem Unternehmensberater heimgesucht, der von Kunst keine Ahnung hat, sich aber überall einmischt und bald schon Kündigungen verlangt. Alles muss schneller und billiger gemacht werden. Die üblichen Verwerfungen bei einer neoliberalen populistischen Regierung. Als Leser wünscht man sich, Tötschinger hätte auch die Nebenfiguren besser charakterisiert. Wir bekommen gerade noch den interessanten Assistenten Hubert zu fassen, die Tochter Hartmanns scheint allerdings nur angedeutet. Dafür bleibt aber das Vergnügen, Jan Vermeer himself kennenzulernen, denn Hartmann spricht bald schon mit dem Meister, der ja auch im Bild selbst – allerdings eben nur von hinten – zu sehen ist, und der dann auch antwortet. Vermeer will übrigens schleunigst wieder im Museum ausgestellt werden, wo er sich an den hübschen Touristinnen erfreuen kann…


Reinhard Tötschinger: Rochade, Picus Verlag
ISBN: 978-3-7117-2109-9
288 Seiten, € 22,–

Buchtipp – Carolina Setterwall, Betreff: Falls ich sterbe

Plötzlich Alleinerzieherin


Plötzlich Alleinerzieherin – „Betreff: Falls ich sterbe“ der Bestseller der Schwedin Carolina Setterwall. Ein Buchtipp von Helmut Schneider


Als Roman wäre der Welterfolg „Betreff: Falls ich sterbe“ der Musikredakteurin Carolina Setterwall eine Katastrophe. Zu viele Türen werden aufgemacht ohne dass man dadurch woanderns hinkäme. Die Ich-Erzählerin Caroline verliebt sich in ihren Traummann Aksel – man ist jung, feiert das Leben und dann will sie unbedingt ein Kind, wozu er nur widerwillig ja sagt. Als das Baby dann da ist, schickt er ihr eine Mail mit dem Betreff „Falls ich sterbe“, in der alle seine Daten und Passwörter aufgelistet sind. Wenig später stirbt er plötzlich im Schlaf. Sehr viel später erfährt sie von seiner Herzschwäche, aber es ist nicht klar, ob er davon wusste. Und ein anderes Mal macht sich Caroline – obwohl selbst ziemlich betrunken – Sorgen, weil er ein paar Biere zu schnell geschluckt hat. Wem fällt da nicht Tschechows Revolver ein, der hier allerdings keine Kugel abfeuern wird.

Was die fast 500 Seiten Selbstbespiegelung für manche aber sicher interessant macht sind die genaue Schilderung der Zeit vor und vor allem nach der Katastrophe. Anfang Dreißig mit Baby plötzlich ohne Geliebten und Vater dazustehen ist sicher herausfordernd. Dabei hat Caroline wirklich die besten Voraussetzungen, ihre Situation durchzustehen. Es sind immer Freunde und Familie für sie da – Caroline ist nie alleine, wenn sie es nicht will. Finanzielle Sorgen gibt es auch keine. Dazu die großzügigen schwedischen Sozialgesetze. Als Leser denkt man sich da oft, sie solle einmal an die vielen anderen Alleinerzieherinnen denken, die ganz andere Probleme zu meistern haben. Caroline fühlt das manchmal auch, wenn sie etwa im Urlaub zu dem sie eingeladen wurde neidisch auf Menschen ohne Kind blickt. Dabei war es doch ihr großer Wunsch, endlich Mutter zu werden. Und natürlich klebt sie an ihrem Sohn Ivan, der sich naturgemäß unverzüglich in einen Tyrannen entwickelt. So detailliert und genau wollen wir es bisweilen gar nicht wissen, wenn etwa jedes Wehwechchen detailiert beschrieben wird.

Immerhin gibt es so etwas wie ein Finale. Caroline verliebt sich in einen alleinerziehenden Vater mit einer etwas älteren Tochter. Wäre doch eine prima Familie. Doch dann stellt sich heraus, dass dieser Mann – fast niemandem sonst in dem Buch gönnt die Erzählerin einen Namen – möglichst schnell noch ein Kind von ihr will. Als sie wirklich schwanger wird, merkt sie, dass sie jetzt noch nicht dafür bereit ist. Nun ja, das Buch ist immerhin ein internationaler Bestseller.


„Betreff: Falls ich sterbe“ von Carolina Setterwall
480 Seiten, € 22,90
ISBN: 978-3-462-05260-2

Literaturcafé

Pop-Up Literaturcafé

Pop-Up Literaturcafé


SDas mobile Pop Up Literatur-Café im Gemeindebau bietet WienerInnen die Möglichkeit, eine kurze Auszeit bei Gratis Kaffeepause und Lesungen zu genießen. Am 20. August geht’s los!


Zu den unten angeführten Terminen können Sie sich erfreut in einen Innenhof eines Gemeindebaus, in einen Park oder an einen ruhigen Platz ohne allzu viel Autolärm begeben und

  • als Erwachsener Kaffee aus einer richtigen Espressomaschine & Kuchen
  • als Kind  Getränk & Kuchen und 2 x 10 Minuten Vorlesung aus einem Kinderbuch

genießen.  Und das ganze natürlich GRATIS!!!

Das ganze findet in einem netten Rahmen bestehend aus Sonnenschirmen, Kaffee-Tischen und –Sesseln an einem ungewöhnlichen Ort statt.

Damit machen wir Wien noch lebenswerter – und das mitten im Sommer!

Termine & Adressen

Fr. 20.08.2021 | 15:00 – 18:00 Uhr, Paul-Speiser-Hof, 1210 Wien
Mo. 23.08.2021 | 15:00 – 18:00 Uhr, Rennbahnweg 27, 1220 Wien
Di. 24.08.2021 | 15:00 – 18:00 Uhr, Thürnlhof, 1110 Wien
Mi. 25.08.2021 | 15:00 – 18:00 Uhr, Stromstraße 14-16, 1200 Wien
Do. 26.08.2021 | 15:00 – 18:00 Uhr, Weinberggasse 60, 1190 Wien
Fr. 27.08.2021 | 15:00 – 18:00 Uhr, Hugo-Breitner-Hof, 1140 Wien
Mo. 30.08.2021 | 15:00 – 18:00 Uhr, Reumannhof, 1050 Wien
Di. 31.08.2021 | 15:00 – 18:00 Uhr, George-Washington-Hof, 1100 Wien
Mi. 01.09.2021 | 15:00 – 18:00 Uhr, Putzendoplergasse 2-28, 1230 Wien
Sa. 04.09.2021 | 15:00 – 18:00 Uhr, Per-Albin-Hansson-Siedlung, 1100 Wien

Buchtipp – Maarten T Hart, Der Nachtstimmer

In der niederländischen Provinz


Maarten ’t Hart: Der Nachtstimmer – ein Roman über einen Orgelstimmer, der plötzlich Ziel von Attentaten wird. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.


Maarten ’t Hart, der im südholländischen Warmond bei Leiden lebt, ist einer der erfolgreichsten Schriftsteller Hollands. Mit seinen skurrilen Helden, die gegen ein durch Zufälle bestimmtes Schicksal ankämpfen, hat er sich eine treue Leserschaft erschrieben. In seinem neuen, bei Piper erschienenen Roman „Der Nachtstimmer“ geht es um den Orgelstimmer Gabriel Pottjewijd, der wegen einer lauten Fabrik in einem kleinen Nest an der südholländischen Meeresküste oft nur nachts arbeiten kann. Dabei hilft ihm ein Mädchen, das bei den Einheimischen als debil gilt, in Wirklichkeit aber nur eine leichte Form des Autismus aufweist. Lanna weigert sich schlicht, Niederländisch zu sprechen und kommuniziert mit ihrer brasilianischen Mutter – die Witwe eines Matrosen – nur auf Portugiesisch. Aber der Ort ist sowieso voller Skurrilitäten – der Wirt des einzigen Gasthofs, wo der Orgelstimmer wohnt, ist kauzig und trägt eine Brille ohne Gläser. Die Einheimischen diskutieren stundenlang über unbedeutende Bibelstellen und einer von ihnen sammelt sogar Bibelausgaben – sein Haus ist von oben bis unten voll damit.

Als sich Gabriel Pottjewijd dann mit der ebenso schönen wie spröden Brasilianerin und ihrer Tochter sehr, sehr langsam anfreundet, ist er bald schon nicht mehr seines Lebens sicher. Er wird ins Hafenbecken gestoßen und eines Nachts fallen in der Kirche, in der er arbeitet sogar Schüsse. Wahrscheinlich ist er nicht der einzige Verehrer der Schönen. Aber Maarten ’t Hart interessiert der Krimi, den er uns auftischt, nur bedingt. Dafür ist das Ganze ja auch viel zu langsam erzählt. Er liebt es, leicht ironische und humorvoll pointierte Sätze zu schreiben – wirklich Böses kündigt sich in anderer Sprache an. Und so ist „Der Nachtstimmer“ ein Buch für Leser, die sich an skurrilen Wendungen und der sehr calvinistisch-puritanischen Stimmung erfreuen können – sozusagen ein Krimi für Menschen, die keine Krimis mögen.


„Der Nachtstimmer“ von Maarten ’t Hart
320 Seiten
ISBN: 978-3-492-07043-0
€ 24,00

Buchtipp – Hans-Ulrich Treichel, Schöner denn je

Im West-Berlin der 80er Jahre


Hans-Ulrich Treichels Roman „Schöner denn je“ über eine Männerfreundschaft, die auf Konkurrenz gebaut ist.
Text: Helmut Schneider


Beide wachsen in der Provinz auf und ziehen dann nach West-Berlin zum Studieren. Aber während der Erzähler Andreas dann doch lieber das Lehramt macht, absolviert Erik überraschenderweise zunächst eine Tischlerlehre, um dann als Filmarchitekt durchzustarten. Einmal in der damals noch geteilten Stadt angekommen, sieht man sich sowieso kaum noch. Dabei hatte Andreas alles getan, um Erik als seinen besten Freund zu gewinnen. Doch Erik war schon immer anders – brutal gesagt besser. Es schaut gut aus, hat die hübscheren Mädchen, ist beliebt und fährt ein cooles Auto. Am schlimmsten aber: Erik nimmt das alles nur beiläufig wahr, er ist bescheiden, gibt nie an und drängt sich niemals auf. Erik ist einfach lässiger.

Zum Wendepunkt im Roman kommt es erst, als Andreas nach einer gescheiterten Ehe eine Wohnung sucht und zufällig Erik in einem Restaurant trifft. Der bietet ihm für die nächsten Monate selbstlos seine 8-Zimmer-Wohnung in bester Lage als Bleibe an, weil er selbst beruflich nach New York und Hollywood muss. Und dann ruft in Eriks Wohnung noch die berühmte Schauspielerin Hélène an, für die Andreas schon seit Jahren schwärmt und die Erik, wie auch andere Berühmtheiten – zu Klaus Kinski, sagt er nur „Ach, der Klaus“ –anscheinend sehr gut kennt.

Der 1952 geborene deutsche Schriftsteller Hans-Ulrich Treichel kostet in seinem neuen Roman die Komik dieser Männer-Nicht-Freundschaft aus. Wir erleben das Ganze ja aus der Sicht des Underdogs. Wobei Andreas als Lehrerausbildner in Romanistik ja ganz gut leben könnte und würde – wäre da nicht Erik wie die sprichwörtliche Karotte vor seiner Nase. Je länger man in diesem Roman liest, desto mehr bekommt man das Gefühl, dass Erik in Wirklichkeit nur ein Phantom, ein Spiegelbild des Erzählers, ist. Andreas findet in Eriks großer Wohnung nichts Persönliches, alles ist ebenso geschmackvoll wie nichtssagend. Als er dann beim verzweifelten Stöbern in den Läden ganz hinten auf Röntgenbilder von Eriks Schädel stößt, wirkt das fast auch wieder wie eine Metapher. Der perfekte Mensch hat möglicherweise einen Hirntumor.

Lustig und doch auch wieder mysteriös sind auch die Szenen mit Hélène, die Andreas schließlich bittet, ihn in Berlin herumzufahren. Weit kommen sie aber nicht – überall wird der Star angesprochen. Als sie ihn dann in Eriks Wohnung besucht, schläft sie – natürlich ohne ihn – im Bett ein. Ein Filmstar ist eben immer müde. Witzig ist auch wieder einmal vor Augen geführt zu bekommen, was vor kurzem noch normal war. In der 80er-Jahren gab es noch keine Computer und wer einen Anruf erwartete, musste brav zu Hause bleiben und warten. Hans-Ulrich Treichels Roman „Schöner denn je“ ist vielleicht eine Studie darüber wie sehr uns Vorbilder und Wünsche unser Leben vermiesen. So einen Hinweis kann man ja ab und zu brauchen.


„Schöner denn je“ von Ulrich Treichel, suhrkamp Verlag
ISBN: 978-3-518-42973-0
175 Seiten
€ 22,70

Buchtipp – James Scudamore, English Monsters

Die Schatten einer Erziehung


James Scudamores Internatsroman „English Monsters“ – ein Buchtipp von Helmut Schneider.


Das unbeschwerte Leben des zehnjährige Max wird jäh beendet, als er auf ein englisches Internat kommt. Bisher waren die Sommer vom herben Charme seines Großvaters bestimmt gewesen und den Rest des Jahres verbrachte er mit seiner Familie, die in hohen Wirtschaftsfunktionen überall auf der Welt zu Hause war, in Mexiko – dem aktuellen Betätigungsfeld seines Vaters. Wir sind in den 80er-Jahren, auf englischen Schulen sind körperliche Strafen endlich verboten – nicht aber in den sogenannten Elite-Internaten. Und auf ein solche muss Max jetzt, wenngleich dieses seine besten Jahre längst hinter sich hat. Es kommt, wie es in solche Institutionen fast immer kommt – auf Züchtigung folgt Missbrauch.

James Scudamores Roman „English Monsters“ (erschienen bei Hanserblau) ist die Geschichte einer nicht unproblematischen Freundschaft zwischen den Zöglingen und einer späten Rache. Aber nicht der sadistische Geschichtslehrer, der später sogar wegen Missbrauchs verurteilt wird, ist das eigentliche Problem der Freunde, sondern der sanfte Englischlehrer, der mit der Klasse Theaterstücke aufführt und das Vertrauen vieler gewinnt. Denn auch er pflegt zu seinen minderjährigen Lieblingen sexuelle Beziehungen, die oft auch noch später anhalten. Max – der Erzähler – ist nur Beobachter, das wahre Ausmaß des Missbrauchs erfährt er erst später von seinen Freunden.  „English Monsters“ ist abwechslungsreich und spannend erzählt, wir erleben wie die Schüler erwachsen werden und in ihre Jobs finden. Doch manche scheinen gebrochen – und der Neoliberalismus der Marke Magaret Thatcher tut sein übriges, um die Träume von Freiheit und Selbstverwirklichung zu zerstören. James Scudamore ist ein kluges Buch um ein zentrales Thema der britischen Klassengesellschaft gelungen, das auch literarisch überzeugt. Manchmal muss man sich vor den freundlichen Lehrern eben noch mehr fürchten als vor den sadistischen.


„English Monsters“ von James Scudamore
464 Seiten, € 22,00
ISBN: 978-3-446-26946-0

Buchtipp – Marilyn und Irvin Yalom, Unzertrennlich/Die Unschuld der Opfer

Über den Tod und das Leben


Marilyn und Irvin Yalom waren 65 Jahre lang „Unzertrennlich“. Kurz vor Marilyns Tod schrieben sie gemeinsam ein Buch über ihr gemeinsames Leben.
Text: Helmut Schneider


Als sie wusste, dass sie nicht mehr lange leben würde, wollte Marilyn Yalom mit ihrem Mann Irvin noch gemeinsam ein Buch schreiben, in dem sie ihrer beider gemeinsam verbrachtes Leben noch einmal reflektieren wollten. Ein Kapitel schrieb sie, das nächste Irvin. Leider waren die Schmerzen dann bald schon so groß, dass sie das in Kalifornien geltende Recht auf ärztlich begleiteten Suizid beanspruchen musste. Das letzte Kapitel musste der bekannteste lebende Psychiater und Romanautor alleine schreiben. Und er erkennt, dass Marilyn das Projekt vor allem als Hilfe für ihn nach ihrem Ableben unbedingt durchziehen wollte.

Dass die erfolgreiche Kulturpublizistin – unter anderem schrieb sie als erste Feministin ein Buch über die weibliche Brust und die Dame im Schachspiel – und der Pionier der existenziellen Psychotherapie – beide lange Zeit Professoren in Stanford – ein innig verbundenes Paar waren, konnten auch Außenstehende leicht beobachten. 2009 waren die beiden zu Gast in Wien, Irvin Yaloms Roman „Und Nietzsche weinte“ wurde bei der Gratisbuchaktion „EineStadt.EinBuch.“ verteilt, zuvor durften wir das Ehepaar in ihrem Haus in Palo Alto besuchen. Marilyn Yalom war in Wien bei allen Veranstaltungen dabei und hatte kein Problem unterstützend im Hintergrund zu bleiben.

In „Unzertrennlich – Über den Tod und das Leben“ können Leser vor allem Irvin Yaloms Leiden am Schicksal seiner Frau nachspüren. Dem Motto des Buches „Trauern ist der Preis, den wir zahlen, wenn wir den Mut aufbringen, andere zu lieben.“ stimmt er natürlich zu, in der Praxis fällt er nach ihrem Tod allerdings in das berühmte schwarze Loch. An das Begräbnis kann er sich kaum erinnern. Immer wieder ertappt er sich dabei, dass er ihr etwas erzählen will – ja ohne dieses Ritual scheint es für ihn gar nicht stattgefunden zu haben.

Dabei hatte Irvin Yalom wahrlich Erfahrungen mit dem Thema Tod. Als allererster Psychiater der Welt initiierte und begleitete Yalom sterbenskranke Menschen auf ihrem letzten Weg und beschrieb das auch in seinen Werken. Damals waren Psychiologen ja der Ansicht, dass es keinen Sinn hätte Patienten aufzunehmen, die in ein paar Wochen nicht mehr kommen würden. Und Yalom fand auch heraus, was Menschen den Tod leichter macht, nämlich ein Leben ohne Reue. Einfach gesagt: Wer das Gefühl hat, im Leben seine Ziele nach Maßgabe seiner Möglichkeiten erreicht zu haben, stirbt leichter. Zitat: „Je geringer die Zufriedenheit im Leben, desto größer die Angst vor dem Tod.“

Marilyn Yalom war das beste Beispiel dafür. Sie fand trocken, dass es keine Tragödie wäre mit 87 zu sterben – vor allem wenn man ein glückliches Leben mit vier Kindern und vielen Enkelkindern hatte. Beiden waren gerne und viel gereist, hatten viele Freunde und lebten immer in einer großen Gemeinschaft, in der sie sich geistig austauschten.

Marilyn Yalom war nicht nur eine sehr kluge frühe Feministin, sondern auch jemand, der Menschen zusammenbrachte. In ihrem letzten Buch hat sie die Erlebnisse von Menschen aufgeschrieben, die den Zweiten Weltkrieg als Kinder erleben mussten. In die „Unschuld der Opfer“ berichten sechs Zeitzeugen aus verschiedenen Nationen vom Trauma des Krieges. – allesamt Beispiele von erstaunlicher Resilienz. Und auch Merilyn selbst erzählt, wie sie die Kriegsjahre im sicheren Amerika erlebt hat. Trotzdem die erzählten Geschichten natürlich alle gut ausgehen, sind sie eine eindringliche Warnung nicht zu vergessen, was Traumata wie Krieg, Flucht und Gewalt gerade Kindern antun können.      


Marilyn Yalom
Die Unschuld der Opfer
Übersetzt von Holfelder von der Tann, btb
280 Seiten, € 12,40

Irvin D. Yalom/ Marilyn Yalom
Unzertrennlich
Übersetzt von Regina Kammerer, btb
313 Seiten, € 22,70

Summerstage

Buchpräsentation: „Zeit.Gespräche“


Auf der summerstage wurde „Zeit.Gespräche“ von Gerhard Schmid, erschienen im echomedia buchverlag, präsentiert – Pamela Rendi-Wagner und Heinz Fischer im Talk über Demokratie.
Fotos: Stefan Diesner


Mit den „Zeit.Gesprächen“ schuf SPÖ-Bundesbildungsvorsitzender Gerhard Schmid ein neues, viel beachtetes Format – zunächst analog in der Wiener Urania, dann virtuell und dabei immer über den Tellerrand hinausschauend. Der erste Gast war Ärztekammerpräsident Thomas Szekeres. Die Bandbreite der weiteren Gäste spannt sich von Erika Pluhar über Franz Vranitzky, Lukas Resetarits, Harald Krassnitzer, Steffen Hofmann, Kardinal Christoph Schönborn und viele andere. Als besonders bewegend empfand Schmid das Gespräch mit Hugo Portisch, der sich bis zuletzt als glasklarer politischer Analytiker gezeigt hat.

Auf der summerstage wurde das Buch zur Reihe, das Medienprofi Christoph Hirschmann redigiert hat, nun aus der Taufe gehoben. Dabei diskutierte – von Hirschmann moderiert – SPÖ-Klubobfrau Pamela Rendi-Wagner mit Alt-Bundespräsident Heinz Fischer über die Lage in Österreich unter der Kurz-Regierung: „Ich mache mir Sorgen. Unsere Demokratie ist zumindest auf einer schiefen Ebene. Denn wir haben eine Bundesregierung, die die Institution des Verfassungsgerichtshofs ignoriert, die das Parlament diffamiert und die Justiz und Staatsanwält*innen persönlich attackiert sowie Kritiker*innen und Medien einzuschüchtern versucht.“, erläuterte Pamela Rendi-Wagner. Österreich ist nicht Ungarn, aber man kann sehen, wie antidemokratische Strömungen ihren Anfang nehmen. Vor 20 Jahren habe es in der Politik noch einen Konsens gegeben: „Den Respekt vor der Demokratie und dem Rechtsstaat. Dieser Konsens ist mehr oder weniger verloren gegangen“, sagte Rendi-Wagner. Alt-Bundespräsident Heinz Fischer erklärte, dass „der Kampf und das Bemühen um die Demokratie eine dauernde Aufgabe“ ist.

Fischer betonte, dass die Sozialdemokratie angetreten sei, um die Gesellschaft zu verändern, gerechter und sozialer zu machen. Die Wirksamkeit der Sozialdemokratie ist nicht nur in Wahlresultaten zu sehen, „die ungeheuer wichtig sind“, sondern auch in den Wohnmöglichkeiten, der Emanzipation der Frauen, der Sozialpolitik, dem Arbeitsrecht. „Wir brauchen beides: die von uns geprägte Gesellschaft und den Auftrag, in diesem Sinne weiterzumachen“, so Fischer.

„Zeit.Gespräche“ von Gerhard Schmid, Hrsg.: SPÖ-Bundesbildungsorganisation/SPÖ-Bundesgeschäftsstelle, ISBN 978-3-903989-2-4, echomedia buchverlag


Buchtipp – Lena Gorelik, Wer wir sind

Als Fremde in Deutschland aufwachsen


Lena Gorelik erzählt in „Wer wir sind“ (rowohlt berlin) ihre Geschichte als hochbegabtes Kind.
Text: Helmut Schneider / Bild: rowohlt berlin


Es geht um Familie. Die Eltern könnten ihr Leben in St. Petersburg, das damals noch Leningrad hieß, durchaus ertragen – auch wenn sie als Juden immer wieder angefeindet werden. Doch das Kind, das soll es einmal besser haben. Und so wechseln sie nach Deutschland, wo der Akademiker und die Fabriksleiterin plötzlich im Flüchtlingsheim wohnen müssen und froh sind, einen Job als Putze zu bekommen. Das 11-jährige Kind ist auch in Deutschland bald die Klassenbeste, die neue Sprache lernt sie mühelos. Und bald schon kann sie eine Klasse überspringen – was sich als Fluch herausstellt. Jetzt wird sie nicht nur als Ausländerin, sondern auch als Streberin gemobbt, während die Familie alles, was deutsch ist, als besser wahrnehmen will. Zwischendurch gibt das Kind weiße Zettel als Klassenarbeit ab, um nicht immer als Beste dazustehen.

Lena Gorelik, die inzwischen in München lebt und auch Theaterstücke schreibt, hat schon mit 23 ihren ersten Roman veröffentlicht – „Meine weißen Nächte“ –, ihr neues Buch ist aber anders, man könnte auch sagen gereifter. Die Ich-Erzählerin ist eine genaue Beobachterin, die nicht nur überall Fremdenfeindlichkeit sieht und die immer wieder gezogenen Vergleiche mit dem Leben in Russland peinlich findet. Vor allem ihre Eltern, die mit Engelsgeduld und Unterwürfigkeit die Schikanen in ihrer neuen Heimat erdulden, kann sie lange nicht verstehen. Aber es gibt eben auch Glückserlebnisse. Etwa als eine gar nicht wohlhabende Deutsche ein paar Flüchtlingskinder übers Wochenende zu sich aufs Land nimmt, damit sie einmal in die Natur kommen.

„Wer wir sind“ ist ein kluges Buch über Heimat und Identität, das auch manches auslässt, was nicht zu benennen ist. Zitat:

„Zwischen den Zeilen lasse ich Platz. Für alles, was wir beschweigen, für den Respekt. Für alles, was uns zusammenhält.“


„Wer wir sind“ von Lena Gorelik
EAN: 9783644008786
320 Seiten, € 22,90

Buchtipp – Keith Gessen, Ein schreckliches Land

Ein Idiot in Moskau


Keith Gessen lässt im Roman „Ein schreckliches Land“ einen russischstämmigen Amerikaner Russan im Krisenjahr 2008 erleben.
Text: Helmut Schneider


Die Karriere des Ich-Erzählers Andrew Kaplan will nicht so recht starten, er kann keine Professorenstelle in New York ergattern und muss sich mit öden Anfängerkursen begnügen. Da wird er von seinem Bruder nach Moskau gebeten, um ihrer betagten Großmutter zur Seite zu stehen – er soll also dort zurück, wo er geboren ist. Doch schon bald erkennt er, dass er auch als muttersprachiger Russe mit russischen Eltern in einen völlig anderen Kulturkreis zurechtkommen muss. Er kommt sich sehr oft wie ein Idiot vor. Im ersten Drittel des Romans gelingt es dem passionierten Eishockeyspieler etwa nicht, in einer russischen Hobbymannschaft mitspielen zu dürfen. Zudem erkennt er bald, dass es eine Kunst darstellt mit den wenigen eigenen Mitteln im teuren Moskau über die Runden zu kommen. „Es ist ein schreckliches Land“ erzählt ihm seine Oma bei jeder Gelegenheit – die alte Dame lebt mitten im Zentrum weil ihre Mutter dereinst bei einem Film mitwirkte, der Stalin gefallen hat – worauf alle mit einer Wohnung belohnt wurden. Ab dann ging es mit der Familie allerdings bergab, nur mit Glück überlebten sie die Schreckenszeit.

Keith Gessen hat eine ähnliche Herkunft wie sein Protagonist Andrew. 1975 in Moskau geboren wuchs er in den USA auf und gründete die anerkannte literarische Zeitschrift n+1 und arbeitete für verschiedene Publikationen. 2009 erschien sein erster Roman „All die traurigen jungen Dichter“ auf Deutsch. In „Ein schreckliches Land“ ist natürlich nicht alles in Moskau schlecht. Vor allem findet Andrew nach langem Bemühen Anschluss an ein Hockey-Team und an eine politische Gruppe, die sich für die entrechteten Arbeiter einsetzt. Wir schreiben 2008 und Russland gerät in den Strudel der Finanzkrise, weil fossile Rohstoffe eine Zeit lang weniger nachgefragt sind. Andrew ist dabei selbst für einen Amerikaner zu naiv um zu verstehen, dass man in Moskau nicht so einfach gegen Putin demonstrieren kann. Am Ende steuert alles einer Katastrophe zu.

Gessen schildert auf fast 500 Seiten ziemlich genau das gesellschaftliche Leben in Russland wo zwar fast alle wissen, dass ihr Präsident ein Scharlatan ist, aber trotzdem alle an ihm festhalten – weil er zumindest einer von ihnen ist und sie sich eine nicht korrupte Regierung gar nicht vorstellen können. Der Roman liest sich sehr gut, obwohl Gessen noch den kleinsten Cafébesuch genau beschreibt. Selbst die Reparatur eines verstopften Abflussrohrs  beschreibt er vergnüglich. Wäre der Autor aber nicht ein solcher Kenner der Verhältnisse, würde man ihm allerdings die Verwendung von Klischees vorwerfen. Aber vielleicht ist Putins Russland ja längst ein zur Realität gewordenes Klischee.