Der Aufstieg hat seinen Preis – Das Debüt der Nobelpreisträgerin Annie Ernaux erstmals auf Deutsch
Als Kind ist Denise Lesur eigentlich ganz glücklich. Die Mutter führt in der Kleinstadt im Norden Frankreichs einen kleinen Krämerladen, der Vater daneben eine Kneipe. Die Kunden lassen anschreiben, niemand hat viel Geld, die Säufer sind Stammgäste – und dass es nur ein Plumpsklo im Hof gibt, stört auch niemanden. Denises Eltern arbeiten ständig, sie haben es geschafft, sich als Besitzlose hochzuarbeiten und sind nun froh, keinen Chef mehr zu haben.
Als sie Denise in eine katholische Privatschule stecken, bricht allerdings ihre Welt zusammen. Denise wird als Asoziale gehänselt, die Bürgertöchter blicken auf sie herab. Und Denise sieht zum ersten Mal ihr Elternhaus mit anderen Augen: die schlechten Manieren, den Nachttopf im Schlafzimmer, die schmierige Küche, das lächerliche Angebot ihres Ladens und die kotzenden Zechbrüder. Mit zähem Fleiß kämpft sich Denise nach oben, sie wird Klassenbeste und schafft mühelos die Anforderungen für den Besuch einer Universität. Da sieht sie längst auf ihre Eltern herab, deren Geld ihr erst den Besuch der Schulen ermöglicht hat. Als letzte Schranke will sie die Freundin eines Bürgerlichen werden. Mit den im Jahr 1961 noch verheerenden Folgen einer Schwangerschaft. Denise gerät an eine Engelmacherin, denn Abtreibungen sind noch illegal. Mit diesem Schock beginnt und endet der erste Roman der Nobelpreisträgerin Annie Ernaux, der 1974 bei Gallimard erschienen ist. Noch schreibt Ernaux, die sich später ja als „Ethnologin ihrer selbst“ begreift, fiktional, wenngleich die Handlung ja mit den späteren autofiktionalen Büchern fast identisch ist. „Die leeren Schränke“ ist auf jeden Fall ein faszinierender Roman über die zerstörerischen Brüche, die ein sozialer Aufstieg mit sich bringt. Denise hasst ihre Herkunft, obwohl sie klug genug ist zu erkennen, dass auch in der bürgerlichen Welt vieles nur Schein ist. Als ihr Liebhaber erfährt, dass sie schwanger ist, macht er sich aus dem Staub.
Während Ernaux später für ihren lakonischen Stil bekannt wurde, ist dieser Erstling noch durchaus drastisch und plastisch erzählt. Stellenweise wirkt der in der ersten Person geschilderte Text wie eine Anklage gegen die Gesellschaft und sich selbst. Spannend und interessant zu lesen ist das Ganze aber auf jeden Fall.
Annie Ernaux: Die leeren Schränke
Aus dem Französischen von Sonja Finck
Suhrkamp
220 Seiten
€ 24,50