Wie ein jüdisches Arbeiterkind die Nazi-Zeit in Wien überlebte – „Glockengasse 29“ von Vilma Neuwirth

„Dieses Buch habe ich gelesen wie einen Krimi“ schreibt Elfriede Jelinek im Vorwort. Dabei bleibt die 2016 verstorbene Autorin ihrem fast heiterem – wienerischen – Ton bis zum Schluss treu. Aber es geht in dieser Lebensgeschichte aus der Leopoldstadt tatsächlich oft um Leben oder Tod. Denn die kleine Vilma ist ein aufmüpfiges Kind: „Wir waren acht richtige Gfraster“, heißt es gleich zu Beginn über ihre Geschwister und Spielkameraden. Und als sich nach dem Anschluss so gut wie alles in Österreich änderte, war jede Ordnungswidrigkeit gefährlich, denn Vilma war nach Nazijargon „Halbjüdin“. Ihre christliche Mutter aus Niederösterreich war mit einem jüdischen Friseur, der nach dem Tod seiner Frau mit drei Kindern dastand, eine Zweckehe eingegangen, da sie selbst eine uneheliche Tochter hatte. Vilma kam 1928 zur Welt, als die Nazis kamen, war sie 11 und konnte nicht begreifen, warum die Nachbarn in der Glockengasse 29 plötzlich ihre Mutter als „Judenhur“ beschimpften und ihre Spielkameraden nicht mehr mit ihr spielen wollten. Bis zum Anschluss war sie in deren Wohnungen aus und ein gegangen, man hatte das Wenige, was man hatte, geteilt. Für einen Nachbarn hatte man im Austrofaschismus sogar einen Koffer aufbewahrt – nicht ahnend, dass darin die damals illegale SA-Uniform versteckt war. In ebendieser Uniform wollte dieser dann Vilmas Vater zum berüchtigten Gehsteigputzen mit der Zahnbürste zwingen. Doch Vilmas Mutter wusste das mit ihrem energischen Auftreten zu verhindert. Ihr Mut sollte die Familie noch oft retten, zwei von Vilmas Brüdern gelang die Flucht.

Vilmas ungebrochener Übermut brachte die Familie aber oft in Gefahr. Sie ging etwa auch ins Kino oder auf den Eislaufplatz, was für Juden natürlich strengstens verboten war. Auch den Arbeitsdienst überstand Vilma trotz ihrer Unfähigkeit mit Maschinen umzugehen, denn es gab – sehr wenige allerdings – auch anständige Zeitgenossen, die Juden halfen.

Vilma Neuwirths Lebenserinnerungen aus der NS-Zeit sind ein einzigartiges zeitgeschichtliches Dokument, das sich auch dringend als Schullektüre empfiehlt. Da Vilma niemals eine ordentliche Schulbildung erlangen konnte, ist ihr Bericht frei von künstlerischen Ambitionen. Aber gerade das macht es zu einer „literarischen Kostbarkeit“ wie der Autor Erich Hackl in einer ersten Rezension anmerkte. Der Milena Verlag bringt das erstmals 2008 erschienene Buch jetzt mit vielen SW-Familienbildern und mit dem Vorwort der Nobelpreisträgerin neu heraus. Ein wichtiges Buch, das daran erinnert, wie schnell politische Umbrüche Menschen zu Unmenschen machen können.

Vilma Neuwirth: Glockengasse 29. Eine jüdische Arbeiterfamilie in Wien. Milena Verlag, 140 Seiten, € 24,95