Foto: ©Stefan Diesner
Heute Abend (14. 6. 24) liest Shelly Kupferberg im Buchcafé-Bar Tiempo in der Taborstraße 17a, 1020 Wien, um 19 Uhr, aus ihrem Roman „Isidor“ über das Leben ihres Großonkels, der ein Opfer Hitlers wurde. Hier können Sie unseren Artikel im Heft nach Erscheinen des Romans lesen. Wir haben 2022 Shelly Kupferberg auch vor dem Haus ihrer Vorfahren in Wien fotografiert.
Die sonntäglichen Bankette im Palais Rothschild gegenüber dem Musikverein, wo Isidor Geller standesgemäß auf zehn Zimmern wohnte, waren für seinen staunenden Neffen Walter Grab ein Blick in die mondäne Welt der Metropole. Hier saßen wichtige Männer aus der Wiener Wirtschaft, aber auch Künstlerinnen und Künstler wie die ungarische Sängerin Ilona Hajmassy – die Geliebte des Onkels –, die später in Hollywood als Ilona Massey Karriere machte und neben Stars wie Peter Lorre spielte. Denn Isidor hatte es in Wien zu etwas gebracht. In einer bettelarmen Familie in einem Schtetl bei Lemberg geboren, war er nach Wien gekommen, hatte seinen Namen von Israel auf Isidor geändert, Jus studiert und war durch sein kaufmännisches Geschick reich geworden. Er durfte sich Kommerzialrat nennen und verkehrte in besten Kreisen. Doch leider war er politisch naiv und übersah bis zuletzt die lebensbedrohende Gefahr durch die Nationalsozialisten, die ihn sofort nach dem „Anschluss“ 1938 verhafteten, seinen Besitz konfiszierten und ihn so brutal folterten, dass er kurz nach der Freilassung mit nur 52 Jahren starb. Seinem Neffen Walter, der später Historiker wurde und ihn nach dem Einmarsch zur Flucht drängte, gelang die Ausreise nach Palästina.
„Vor einigen Jahren habe ich in Berlin eine Tagung über NS-Raubkunst moderiert. Und während der Vorträge dachte ich – ich hatte doch einen Urgroßonkel in Wien, der angeblich in einem Palais lebte und der sicher auch Kunst besessen hat. Mit diesem Funken im Kopf startete ich dann – zuerst im Österreichischen Staatsarchiv – eine Privatrecherche und wurde bald fündig“, erzählt Shelly Kupferberg, Enkelin von Walter Grab, der in Isidors Palais oft zu Gast gewesen war. Kupferberg ist Journalistin und vielbeschäftigte Moderatorin in Berlin. Durch die Spurensuche – anfangs noch ohne Absicht, daraus ein Buch zu machen – kam sie oft nach Wien. „Isidor“ beginnt auch mit einem Kapitel, in dem ihr Großvater 1956 Wien besucht, um zu erkunden, ob er hierher zurückkehren sollte. Denn er vermisste in Tel Aviv die Wiener Kultur ganz schrecklich. Als er – nach dem Besuch von Oper und Burg – in seiner ehemaligen Wohnung am Bauernfeldplatz vorbeischaut, öffnet ihm die ehemalige Hausmeisterin und schreit in die Wohnung hinein „Der Jud’ is wieda doa!“ Dann schlägt sie ihm die Tür vor der Nase zu. Da weiß Walter, dass er in dieser Stadt nicht bleiben kann.
Kupferberg erzählt geschickt abwechselnd von Isidor und Walter und füllt Lücken mit viel Gefühl für die historischen Hintergründe literarisch auf. So gehen wir mit dem Blick ihres Großvaters durch das Wien von 1956 oder besuchen das Schtetl, in dem Isidor aufwuchs, wo sein Vater ein angesehener Talmud-Gelehrter war und nur die Frauen Geld verdienten.
„Bei meinen Recherchen stellte ich mir bald die Fragen: ,Was bleibt von einem Menschen, wenn offensichtlich gar nichts übrig bleibt?‘ Isidor hatte ja keine Kinder und ich musste ständig überlegen, ,Wo könnte er Spuren hinterlassen haben?‘ Wäre ich gescheitert, hätten die Nazis erreicht, was sie wollten – ein jüdisches Schicksal auslöschen …“, erzählt Kupferberg bei dem Gespräch in Wien.
Sehr erstaunlich war Isidors schneller Aufstieg vom Hungerleider zum Berater der österreichischen Regierung. War das Wien um den Ersten Weltkrieg trotz des herrschenden Antisemitismus durchlässiger als heutige Gesellschaften? Kupferberg: „Ich habe mich auch gewundert, wie schnell das ging. Es war vielleicht einfach die Zeit der Selfmademen und auch Selfmadewomen – auch Isidors Schwester hat sich mit einem kleinen Hutsalon auf ihre Weise in Wien selbst verwirklicht. Ich glaube, es war gerade für Juden, für ethnische Minderheiten, eine durchlässige Gesellschaft. Historiker erklären das so, dass sich der Adel nur für Pferderennen und die Jagd interessiert hat – und kaum für Kunst. Da scheint es eine Lücke gegeben zu haben für Menschen, die etwas Neues wollten. Wobei die Unverblümtheit des Antisemitismus im damaligen Wien sogar mich noch erstaunen konnte.“
Vier Jahre hat Shelly Kupferberg recherchiert und geschrieben und dabei auch alle relevanten Wiener Institute und Stellen kennengelernt. Stets wurde ihr freundlich weitergeholfen. „Immer wenn ich erzählte, es geht um eine jüdische Geschichte, waren alle sehr aufgeschlossen und hilfsbereit. In Wien habe ich als Berlinerin ja immer das Gefühl, ich wandle durch eine Filmkulisse – man spürt noch immer das Imperium. Diesen Prunk, diesen Zuckerguss finde ich total faszinierend.“