Die Geschichte holt uns immer ein: Marko Dinić und sein Balkan-Roman „Buch der Gesichter“

2010 veröffentlichte der US-Historiker Timothy Snyder sein vielbeachtetes Buch „Bloodlands“, in dem er das Gebiet des östliche Polens, Belarus, den Westteil Russlands, des Baltikum sowie Teile der Ukraine als die Teile Europas mit dem höchsten Blutzoll im 2. Weltkrieg festmachte. Durchaus Gebiete, in denen aktuell auch heute Kämpfe stattfinden. Aber wenn man es genau betrachtet, ist auch der Balkan ein solches Bloodland. Bekanntlich begann ja dort schon der 1. Weltkrieg und im 2. herrschte am Balkan ein brutaler Krieg, bei dem nicht nur die Nazis gegen die Bevölkerung, sondern auch die faschistischen Ustascha-Kroaten gegen die Serben und die Partisanen gegen die Besatzung kämpften. Und nach dem Tito-Jugoslawien folgte bekanntlich abermals ein blutiger Krieg, dessen Wunden bis heute nicht verheilt sind.

Marko Dinić, der in Belgrad aufgewachsen ist, aber schon lange in Wien lebt, wo er auch geboren wurde und der auch auf Deutsch schreibt, hat jetzt einen sehr umfangreichen und sehr poetischen Roman über eine Familie inmitten der Kriege geschrieben. Er erzählt mit unterschiedlichen Stimmen in acht Kapiteln die Geschichte einer jüdischen Waise, die schon im ersten Weltkrieg beginnt. Der kleine Junge Isak Ras verliert seine Mutter und wird von einem befreundeten kommunistischen Ehepaar aufgezogen. Die Story ist allerdings so komplex, dass sie unmöglich nachzuerzählen ist. Marko Dinić setzt auf starke Bilder und schildert sehr plastisch auch grausame Szenen. Mehr als einmal geht es um das nackte Überleben im Elend. Da wird etwa von Juden aus Wien berichtet, die über die Donau auf einem Schiff vor den Nazis fliehen wollen und dabei tragisch scheitern.

„Buch der Gesichter“ ist so vielschichtig, dass man das Buch mehrmals lesen kann und vielleicht auch soll. Man darf sich dabei nicht vom ersten Kapitel, in dem der Autor noch seinen Erzählton anzustimmen scheint, abschrecken lassen. Eine unbedingte Leseempfehlung für Menschen, die wissen wollen, wozu Literatur fähig ist.

Am 6. Oktober wird der Autor seinen Roman in der Alten Schmiede im Gespräch mit seinem Schriftstellerkollegen Doron Rabinovici vorstellen.

Marko Dinić: „Buch der Gesichter“, Hanser Verlag, 464 Seiten, € 28,80

Neue Ära am Volkstheater mit Jura Soyfer und Michael Haneke

Nur 26 Jahre alt war der in Russland geborene, aber in Wien sozialisierte Autor Jura Soyfer, als er 1939 im Nazi-KZ Buchenwald an Typhus starb. In den 70er- und 80er-Jahren wurde er als linker Nachfahre von Johann Nestroy viel gespielt, ein „Jura-Soyfer-Theater“ zog etwa durch die Wiener Gemeindebauten. Sein interessantes Romanprojekt „So starb eine Partei“ blieb leider nur Fragment. Aktuell ist es aber sehr still um ihn geworden. Der neue Volkstheater-Direktor Jan Philipp Gloger beginnt jetzt mit einer Fassung aus mehreren Soyfer-Stücken – „Weltuntergang“, „Astoria“, „Vineta“ – sowie einigen Einzelszenen seine erste Saison. Eine gute Wahl für ein Volkstheater, man kokettiert gleich am Anfang mit dem „armen Theater“, die Bühne beherrscht die Raumkapsel aus dem Weltuntergang, die aufklappbar zur Theaterpawlatsche werden kann. Das spielfreudige Ensemble – Andrej Agranovski, Alicia Aumüller, Tjark Bernau, Maximilian Pulst, Sissi Reich, Samouil Stoyanov, Kostia Rapoport – agiert beherzt zur Freude des Publikums. Soyfers berühmtes „Lied von der Erde“ („Voll Hunger und voll Brot ist diese Erde, Voll Leben und voll Tod ist diese Erde, In Armut und in Reichtum grenzenlos“) bildet die Klammer zu dieser kurzweiligen Inszenierung, die nur wenig Längen hat.

Am Samstag feierte das neue Volkstheater-Team einen Tag der offenen Tür und erlebte einen Besucheransturm und am Sonntag hatte dann die Bühnenadaption von Michael Hanekes Film „Caché“ in einer Inszenierung von Felicitas Brucker Premiere – ein wahres Kontrastprogramm, denn im Film verschwimmen ja die Realitätsebenen. Doch der Abend gelingt nicht zuletzt durch die geschickt eingesetzten Mittel –  auf mehreren Ebenen werden Videos gespielt, die Bühne ist gleichzeitig Projektionsleinwand. Es geht ja um eine Familie, die plötzlich anonym Videokassetten erhält, auf denen ihr Haus und sie selbst von außen zu sehen sind. Als der Vater dem Verdacht nachgeht, sie könnten von jemandem stammen, den er als Kind aus der Familie gemobbt hatte – der Sohn der plötzlich verstorbenen Bediensteten, kippt die Story in eine Art Kriminalfall. Der vom Vater zur Rede gestellte Mann streitet glaubhaft alles ab, begeht aber dann vor dessen Augen Selbstmord. Das Rätseln über die Motive aller Figuren wird immer bedrückender. Nur vier DarstellerInnen braucht der Abend (Bernardo Arias Porras, Sebastian Rudolph, Johanna Wokalek und Moritz Grossmann). Allesamt spielen großartig nüchtern – Burgtheater-Publikumsliebling Johanna Wokalek kehrt damit nach Jahren in Deutschland wieder nach Wien zurück. Auch hier setzte der begeisterte Applaus des Premierenpublikums ein.

Infos & Karten: volkstheater.at

Heinrich Bölls „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ wird zum Hit im Burgtheater

Was 1974 geschah, als Heinrich Bölls Erzählung „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ erschien, lässt sich heute kaum mehr nachvollziehen. Klar, der Text ist eine Abrechnung mit den Praktiken der deutschen Boulevardpresse, unter der der Autor auch selbst stark leiden musste – in der Erzählung ist von DER ZEITUNG die Rede, aber jeder wusste, dass BILD gemeint war. Die Springer-Presse rotierte, sogar der Bundespräsident verurteilte Böll und machte sich selbst zum Gespött, weil er Namen verwechselte und offenbar das Buch nicht gelesen hatte. 3 Millionen erreichte die Auflage des Buches…

Dabei erzählt Böll ziemlich nüchtern anhand von Gerichtsprotokollen die Geschichte der fiktiven Katharina Blum, die auf einer Party einen Mann kennenlernt, der sie am nächsten Morgen wieder verlässt. Was sie nicht weiß: der Liebhaber ist Terrorist und gesucht wegen Raubüberfalls und steht schon längst unter polizeilicher Beobachtung. Sie wird verhört und bereits am nächsten Tag in der Zeitung als Terroristenflittchen verunglimpft. Ein Rufmord, der tagelang weitergeht. Bis Blum den Redakteur zu einem Interview lockt und erschießt. Seine letzten Worte waren „Ich schlage vor, dass wir jetzt erst einmal bumsen?“

Das Burgtheater spielt jetzt die Theaterfassung von Bastian Kraft (eine Übernahme aus Köln, als Burgchef Bachmann dort Direktor war). Der dichte Theaterabend braucht dabei nur 3 – allerdings grandios agierende – Schauspielerinnen, nämlich Lola Klamroth, Rebecca Lindauer und Katharina Schmalenberg, die gleichzeitig in diversen Rollen 3 riesige Videowände bespielen. Der Text wird aber fast immer live gesprochen. Das entwickelt einen enormen Sog, die Protokolle werden dadurch auf wundersamer Weise lebendig. Nun kann man Böll natürlich den Vorwurf nicht ersparen, seine Personen allzu klischeehaft angelegt zu haben. Und was damals die BILD sind heute die – sicher nicht besseren – sozialen Medien. Aber es ist interessant, dass ein derart mit seiner Entstehungszeit verschränkter Text auch heute noch funktioniert. Das könnte ein Theaterhit werden wie der Premierenapplaus vermuten lässt.

Foto: Tommy Hetzel/Burgtheater

Infos & Karten: burgtheater.at

Charity-Dinner vor dem Schloss Schönbrunn

Am 6. September erlebten 360 Gäste im Ehrenhof von Schloss Schönbrunn einen unvergesslichen Abend, der alle Sinne verzauberte. „The Grand Table Dinner“ vereinte ein edles Menü und beeindruckende Unterhaltung vor einer magischen Kulisse.

Stelzengeherinnen in prachtvollen barocken Kostümen begrüßten die Gäste und unterhielten sie mit humorvollen Show-Einlagen. Das imposante Schloss Schönbrunn im Hintergrund bot einen glanzvollen Rahmen und versetzte die Gäste in eine andere Welt. Acht Musiker des Schönbrunn Orchesters steuerten für stimmungsvolle Klänge bei, der Pianist spielte dabei auf einem „Steinway & Sons“ Flügel. Schauspieler Marco di Sapia leitete den offiziellen Beginn mit einer herzlichen Begrüßung ein. Mit seiner charmanten Art sorgte er für eine lockere, angenehme Stimmung, während die Musiker musikalische Akzente setzten und damit die Traumkulisse Schönbrunn zum Leben erweckten.

Großzügige Spende an UNICEF.

Die Gastgeber Christian Pöttler und Josip Susnjara übergaben einen Scheck in Höhe von € 10.000,- an die Vertreter von UNICEF Austria, was den Abend mit einer sozialen Botschaft krönte. Pöttler: „Wir sind dankbar, dass wir es dank Ihnen allen geschafft haben so eine große Spende für UNICEF zu sammeln. Durch meine Tätigkeit im Vorstand bei UNICEF weiß ich, wie viele Kinder heute an Tischen sitzen, an denen es gar nichts zu essen gibt. Das macht uns vielleicht ein bisschen demütiger.“ Und Christoph Jünger, Executive Direktor von UNICEF Österreich, ergänzte: „Es ist wichtig, dass wir nicht vergessen, dass wir alle das Recht haben, das Leben zu feiern. Aber dabei nie vergessen, dass es Kinder gibt, die das in ihrem ganzen Leben nicht sehen dürfen. Und wir alle dürfen ihnen eine Chance geben. Das ist unsere Aufgabe als UNICEF Österreich: Für jedes Kind da zu sein.“

Von Carla Hoffmann

Foto v. Stefan Burghart: (v.l.n.r.) Christan Pöttler GF echo Medienhaus, Josip Susnjara GF SHI Group, Claudia Cordié von UNICEF Österreich, Schloss Schönbrunn GF Klaus Panholzer, Christoph Jünger Executive Direktor von UNICEF Österreich

Die Postmoderne ist an allem schuld – Raphaela Edelbauers Terroristenroman „Die echtere Wirklichkeit“

Alternative Wahrheiten & Fake News bestimmen schon lange den politischen Diskurs. Dass Politiker lügen, ist nichts Neues, aber dass sie frech einfach Fakten negieren und auf ihre „subjektiven Wahrheiten“ pochen, scheint erst mit den Wahlsiegen von Populisten Mainstream geworden zu sein.

In Raphael Edelbauers neuem Roman „Die echtere Wirklichkeit“ findet sich eine Gruppe von Philosophen zusammen, die die Ursache für die Aushöhlung der Wahrheit just bei den Denkern der Moderne ausmachen. Ihr Subjektivismus gewann den Kampf gegen die analytische Weltsicht, wie sie etwa Wittgenstein und Popper propagierten. Edelbauer lässt eine – allerdings höchst unzuverlässige, nach einem Autounfall auf einen Rollstuhl angewiesene Erzählerin, die sich Byproxy nennt, zufällig auf zwei Philosophen und zwei Philosophinnen treffen, die mithilfe von Terror die Gesellschaft zur Wahrheit zwingen wollen. Und zwar durch einen Bombenanschlag plus Geiselnahmen auf das österreichische Parlament und die Universität.

Das klingt ein wenig nach der dilettantischen judäischen Befreiungsfront in Monty Pythons „Das Leben des Brian“. Aber Edelbauer hat in ihrer Geschichte zusätzlich noch zwei Ebenen eingebaut, die das Erzählte desavouieren. Byproxy programmiert Computerspiele, die anders funktionieren als die gängigen. „Think backwards“ heißt es da – die Spieler müssen herausfinden, wie es zu der gezeigten Situation gekommen ist und nicht wie üblich Aliens und Monster abknallen. Weiters werden die Hintergründe des Autounfalls beleuchtet, denn Byproxy war zu dieser Zeit mit ihrer besten Freundin im letzten Schuljahr in Schweden und die Freundin ließ ihr kaum Luft zum Atmen. Sie organisierte schon eine heimliche Flucht. Gab es diesen Zwilling überhaupt, oder ist Dorothea nur eine Spiegelung der Erzählerin?  

Die vier Philosophie-Terroristen – sie nennen sich übrigens „Aletheia“ nach dem altgriechischen Wort für Wahrheit – werden zwar brav geschildert, mehr dürfte die Autorin allerdings tatsächlich die Ideengeschichte der Menschheit – von Sokrates bis zu Foucault – und dazu noch die Entwicklung des Lebens interessiert haben. Das ist dann manchmal auch spannender als die oft ermüdenden Streitereien und Heimlichtuereien in der Gruppe. Am Ende wartet Edelbauer aber doch noch ein bombiges Finale auf.

Raphaela Edelbauer: Die echtere Wirklichkeit. Klett-Cotta, 444 Seiten, € 29,95

Karl Kraus im Burgtheater und Daniel Kehlmann in den Kammerspielen

Dušan David Pařízeks Fassung von Karl Kraus „Die letzten Tage der Menschheit“ ist nach der Premiere bei den Salzburger Festspielen jetzt im Burgtheater zu sehen. 220 Szenen mit gut tausend Figuren – Karl Kraus (1874–1936) war klar, dass das nicht komplett gespielt werden kann. Der jetzt dreieinhalbstündige Abend ist trotzdem vielschichtig, bietet dem Publikum einige reißerische Szenen und Manches zum Nachdenken. Zum Mittelpunkt wird die Figur der berüchtigten Kriegsberichterstatterin Alice Schalek, die von Marie-Luise Stockinger verjüngt und mit burschikosem Haarschnitt und mit einer Kamera bewaffnet als Netzreporterin gespielt wird. Absolut sehenswert. Auch die anderen Darsteller – Michael Maertens, Dörte Lyssewski, Felix Rech, Elisa Plüss, Branko Samarovski und Peter Fasching können ihr Potenzial entfalten. Letzterer spielt auch live Musik mit vielen Instrumenten. Am Schluss verwirrt man das Publikum eine halbe Stunde lang mit mehreren Abschiedsszenen samt Vorhängen. Aber es ist halt so: Zum Krieg ist das Schlusswort leider noch immer nicht gesprochen.  

Ein Stück über Corona, jetzt, wo alle froh sind, sich nicht mehr daran erinnern zu müssen – Daniel Kehlmann hat noch während der ersten Monate der Pandemie Szenen geschrieben, aber Direktor Föttinger wollte sie erst viel später aufführen, wie aus einem im Stück auch vorgelesenen Brief hervorgeht. Nun, er hatte recht: Heute sieht man vieles als Kabarett, was damals normal war. Da werden nicht in Niederösterreich gemeldete Wiener aus ihrem eigenen Haus zurück in die Stadt getrieben, man blickt argwöhnisch auf die Nachbarin, weil die mehrmals am Tag das Haus verlässt, ein Polizist belangt einen Mann, der allein auf einer Bank ein Buch liest und Sicherheitskräfte genießen endlich ihre Minuten der absoluten Macht. Corona zeigte uns, dass auch in mutmaßlich lupenreinen Demokratien Machtgier schlummert und Bürgerrechte nicht selbstverständlich sind. Raphael von Bargen, Robert Joseph Bartl, Katharina Klar, Alexandra Krismer, Julian Valerio Rehrl und Ulrich Reinthaller zeigen Spiellust, Stephanie Mohr hat professionell inszeniert. Im zweiten – wesentlich später geschriebenen – Teil, sehen wir einen recht unsympathischen Schauspieler (Raphael von Bargen) in Hotelquarantäne, der offensichtlich durchdreht. Das Armageddon der modernen Zeit ist real geworden: es gibt kein Internet! Bis ein Obdachloser auftritt sind wir in seinem Kopf gefangen – aber Kehlmann zerstört damit diese Interpretation und lässt dann Tote auftreten. Das wirkt ein wenig unausgegoren.

Foto Kammerspiele: Moritz Schell

Kopflose Politik – Die Josefstadt und das Akademietheater eröffnen die Saison mit politischen Stücken von Jean-Paul Sartre und Ferdinand Schmalz

„Bumm Tschak oder Der letzte Henker“ von Ferdinand Schmalz – eine Koproduktion des Burgtheaters mit den Bregenzer Festspielen – ist jetzt im Akademietheater zu sehen. Schmalz ließ sich dabei von der historischen Figur des letzten Henkers von Wien inspirieren, der äußerst beliebt war und ein florierendes Wirtshaus betrieb. Im Stück ist er Clubbesitzer und wird dabei von der neuen Kanzlerin in die Rolle des Henkers gezwungen, weil er nur so seinen Geliebten Flo aus dem Gefängnis retten kann. In der Regie des Hausherrn Stefan Bachmann tragen alle Darsteller skurrile, oft glitzernde Gewänder, die Systemschergen – die moderne SS der Machthaberin – sind wie Dalmatiner oder Kühe gepunktet. Das passt gut zur rhythmisierten Sprache, die Bachmann zu betonen weiß. Am stärksten ist die erzählte Geschichte eines geköpften Huhns, das vom Besitzer am Leben gehalten wird und das auf Jahrmärkten viel Geld einbringt. Am Schluss erscheinen dann alle Figuren wie kopflose Lemuren, die ihre kopflosen Agenden verfolgen. Eine starke Aufführung mit vielen Sprachbildern, die die Spannung bis zum Schluss hält – und mit sehenswerten Schauspielleistungen (Max Simonischek, Maresi Riegner, Mehmet Ateşçi, Stefanie Dvorak, Sarah Viktoria Frick, Melanie Kretschmann, Thiemo Strutzenberger, Stefan Wieland).

Jean-Paul Sartres 1948 uraufgeführtes Stück „Die schmutzigen Hände“ spielt in einem fiktiven Land, es geht aber ganz klar um die allgemeingültigen Grenzen des politischen Handelns. Lässt sich der Mord an einem Parteigenossen rechtfertigen, wenn der Auftrag dazu von der Partei selbst kommt? Im Theater in der Josefstadt versucht David Bösch dem doch recht angegrauten Drama mit eher heutiger Kleidung und dem Einsatz von französischen Chansons und Pop-Musik die Patina abzukratzen. Er setzt dabei auf ein hervorragendes Schauspiel-Terzett mit Nils Arztmann als intellektuellen Attentäter, Johanna Mahaffy als seine lebenslustige Frau (eigentlich die interessanteste Figur) und Günter Franzmeier als charismatischen Parteiführer, der die Kooperation mit anderen politischen Kräften wagen will. In den zentralen Stellen des Stücks, in denen es um politisches Handeln – und was das mit den ausführenden Menschen macht – geht, gelingt das auch recht gut. So wirft der Politprofi seinem Mörder zurecht vor, Menschen zu hassen – ein Eindruck, den man auch heute noch bei vielen Politikern hat. Dass der Mord dann schließlich aus persönlichen Motiven – der Jungaktivist findet seine Frau in den Armen des Alten – ist ebenso Sartres Pointe wie, dass die Parteiführung wenig später ebenjenes Bündnis eingeht, das sie mit dem Mord verhindern wollte. Etwas antiquiert wirkt das Drama allerdings trotzdem. 

„Sie sah aus wie eine Frau, die ihren Schönheitschirurgen auf Kurzwahl hatte.“ – der coole Thriller „Moonlight Mile“ von Dennis Lehane

Dennis Lehane, 1965 in Boston geboren und auch jetzt noch dort lebend, wurde durch seine Thriller um den Privatdetektiv Patrick Kenzie und seiner Frau Angela Gennaro in der Szene bekannt, er schreibt aber auch Krimis aus anderen Genres. Spätestens durch die Verfilmung von „Shutter Island“ 2009 durch Martin Scorsese mit Leonardo di Caprio ist er international in der Top-Liga. Inzwischen verlegt ihn der Schweizer Diogenes Verlag und so kam jetzt mit „Moonlight Mile“ auch der letzte der sechs Kenzie/Gennaro-Thriller in neuer Übersetzung von Peter Torberg heraus.

Dabei muss Kenzie eine Jugendliche finden, die er als Kind den Entführern entrissen und seiner Mutter zurückgebracht hatte. Doch der Fall war kompliziert – die Entführer waren Paradeeltern, während Mutter Helene drogensüchtig war und sich nicht um die kleine Amanda kümmerte. Amanda wird trotzdem eine Musterschülerin, bis sie mit 16 plötzlich verschwindet. Auf der Suche nach Amanda sticht der Privatdetektiv in ein Wespennest aus Identitätsdiebstahl, Babyverkauf und Drogenkriminalität. Er legt sich mit der russischen Mafia an und gerät mehrmals in Lebensgefahr.

Die Ingredienzien eines klassischen Thrillers eben, aber Lehane kann wirklich sehr gut und sehr lässig erzählen. Allein die Dialoge sind schon lesenswert. Über die Frau des Mafiapaten bemerkt Kenzie, dessen ich den Roman erzählt: „Sie sah aus wie eine Frau, die ihren Schönheitschirurgen auf Kurzwahl hatte.“ Was aber fast noch bemerkenswerter ist: Lehane erweist sich als Seismograf der US-Gesellschaft nach der Wirtschaftskrise, die auf den Börsencrash folgte – der Thriller spielt Ende der Nullerjahre und erschien erstmals 2010. Bei seinen Recherchen trifft Kenzie wiederholt Bürger, die von der Regierung und ihrem schwieriger gewordenen Leben frustriert sind und den Humus bilden werden, die dann einen Trump an die Macht spült. Das Finale ist ein echter Hardcore-Thriller. Ein Buch, das man locker an zwei Tagen liest, so spannend ist es.

Dennis Lehane: Moonlight Mile. Aus dem amerikanischen Englisch von Peter Torberg. Diogenes. 384 Seiten, € 20,95

Verborgene Moderne – „Faszination des Okkulten in Wien um 1900“

Wien war wohl schon in der Monarchie ein Hot-Spot der Alternativbewegungen. 1897 gründete der deutsche Maler Karl Wilhelm Diefenbach nach schlechten Erfahrungen in Deutschland, wo er im Gefängnis saß, weil er seine Kinder nackt baden ließ, mit Gleichgesinnten die Künstlerkommune „Humanitas“ im Hause der ehemaligen Gaststätte „Am Himmel“ in Ober Sankt Veit. Fleisch und Alkohol waren streng verboten, es galt, seinen Körper für den Geist rein zu halten. In Wien fand 1922 auch ein großer Theosophenkongress statt – Rudolf Steiner war schließlich ein Altösterreicher –, und auch das „Rote Wien“ versuchte mit den neuen Gemeindebauten das menschliche Bedürfnis nach „Luft und Sonne“ zu erfüllen. Diefenbachs Gemälde „Du sollst nicht töten“ ist eines der Hauptwerke in der bis 18. Jänner 2026 zu sehenden, unglaublich umfassenden Ausstellung „Verborgene Moderne – Faszination des Okkulten um 1900“ im Leopold Museum.

Denn während sich der Materialismus am Höhepunkt der Industrialisierung in seiner reinsten Form ausbreitete, entstanden weltweit auch alternative Gegenbewegungen. Körperkult, Vegetarismus, Kleiderreform, Ausdruckstanz und Theosophie waren Symptome einer von Friedrich Nietzsche eingeforderten ethischen Revolution. Auch Geisterbeschwörungen und Séancen waren weit verbreitet und beeinflussten Künstler nicht nur in Wien. Aber im Geist Richard Wagners entstand eben auch ein unheilvoller rassischer Nationalismus. Die von Matthias Dusini und Ivan Ristic kuratierte, sehr umfangreiche Schau zeigt eine Epoche im Umbruch. 165 Kunstwerke von etwa 65 Künstler:innen, darunter Karl Wilhelm Diefenbach, Fidus, Gabriel Von Max, Albert von Keller, August Strindberg, Edvard Munch, Ferdinand Hodler, Arnold Schönberg, Richard Gerstl, Oskar Kokoschka, Egon Schiele, František Kupka, Wassily Kandinsky sowie viele weniger bekannte Persönlichkeiten. Sogar erste Fitnessgeräte aus einem Reformhotel sind zu sehen. Das sollte man sich nicht entgehen lassen!

(Foto: FERDINAND HODLER, Blick ins Unendliche III, 1903/04 © Musée cantonal des Beaux-Arts de Lausanne. Erworben 1994 | Foto: MCBA/Lausanne)

„Verborgene Moderne – Faszination des Okkulten um 1900“

Leopold Museum im MuseumsQuartier

Täglich außer Dienstag geöffnet:
10 bis 18 Uhr

leopoldmuseum.org

Cagliostro – Johann Strauss im Zirkuszelt Am Heumarkt

Im Zelt des Circus-Theater Roncalli am Heumarkt verschmelzen fantastische Artistik, große Stimmen und die unvergängliche Musik von Johann Strauss zu einem mitreißenden Musikspektakel zwischen Pop, Theater und Zirkuswelt für die ganze Familie. Mit Eva Maria Marold sowie weiteren bekannten Persönlichkeiten des österreichischen Musiktheaters und verfasst von Erfolgsautor Thomas Brezina.

Buch von Thomas Brezina

Die Geschichte stammt von Erfolgsautor Thomas Brezina, den die 150 Jahre alte Strauss-Operette „Cagliostro in Wien“ neu inspiriert hat: „Cagliostro ist die Geschichte eines Täuschers und Blenders, der Menschen an der Nase herumführt – und von dem Mut, sich gegen ihn aufzulehnen. Zugleich geht es um Liebe, Staunen und Spaß – mit Clowns, Artistik und großen Gefühlen. Diese Geschichte in die Welt des Zirkus zu verlegen, mit Melodien von Johann Strauss, die von Johnny Bertl neu komponiert und arrangiert wurden, war eine große Herausforderung. Für mich als Geschichtenerzähler ist es spannend, nun zum ersten Mal zu erleben, wie mein Libretto den Weg ins Zirkuszelt findet.“

Verbindung von Tradition und Moderne

Musikalisch hat Komponist Johnny Bertl Strauss’ berühmte Melodien neu arrangiert: „Es war mir wichtig, die Essenz dieser Musik zu bewahren und sie zugleich in einen frischen, heutigen Kontext zu setzen – so, dass Strauss auch im Zirkuszelt mitreißend klingt.“

„Mit dem Zelt, den historischen Circuswagen aus der Sammlung von Bernhard Paul, tausenden Lampen und tonnenschwerem Equipment ist ein Stück Roncalli nach Wien gekommen. Bernhard Pauls Circus-Theater Roncalli steht seit jeher für poetische Bilder und die Verbindung von Tradition und Moderne – genau das macht diese Kooperation mit dem Festjahr Johann Strauss 2025 Wien so besonders“, erklärte Geschäftsführer Patrick Philadelphia.

Hochkarätiges Ensemble

Regisseur Michael Schachermaier und Dirigent Gabor Rivo werden mit einem hochkarätigen Ensemble – darunter Thomas Borchert, Eva Maria Marold, Josef Ellers, Andreas Lichtenberger, Katharina und Sophia Gorgi – und Artist*innen des Roncalli-Circus das Musikspektakel in Szene setzen. Der Wiener Eislauf-Verein am Heumarkt verwandelt sich ab sofort bis zur Premiere am 10. September in eine einzigartige Bühne. Bis zum 28. September ist dieses musikalische Zirkusspektakel für Jung und Alle zu erleben.

Die Weltpremiere steigt am 10. September 2025, 19.30 Uhr. Weitere Vorstellungen finden bis zum 28. September statt – jeweils um 15.00 und 19.30 Uhr. Am Heumarkt, Tickets sind erhältlich unter www.johannstrauss2025.at