Maurer.Kafka.Komisch – Thomas Maurer präsentiert die komischen Seiten Franz Kafkas im Rabenhof

Thomas Maurer ist am 27. 1., 24. 2. und 24. 3. mit „Maurer.Kafka.Komisch“ im Rabenhof zu sehen. – ©Pertramer/Alamy/Rabenhof

Vor 100 Jahren starb in Kierling bei Wien der 40jährige Franz Kafka an Tuberkulose. Im Gedenkjahr gibt es auch in Wien, der Stadt, die er nicht wirklich mochte, viele Veranstaltungen und Aktivitäten. Der Kabarettist Thomas Maurer stellte jetzt im Rabenhoftheater sein Programm „Maurer.Kafka.Komisch“ vor. Im ersten Teil las er – sehr pointiert – Skizzen, Fabeln und Ausschnitte aus dem Prozess und der Verwandlung. Nach der Pause wurde es dann wirklich skurril, weil Mauerer da weniger bekannte Stellen aus den Tagebüchern und Briefen brachte. Köstlich etwa die Episode in einer alternativen Kuranstalt, wo alle nackt herumlaufen und wegen der Kost – wenig gekochte Hülsenfrüchte – an Flatulenzen leiden. Das sind Szenen, die an Charly Chaplin erinnern.

Die Briefe an Milena aus Meran zeichnen das Bild eines entschlussunfähigen, zerrissenen Charakters. Kafka ändert täglich seine Meinung, ob er seine Geliebte bei seiner Rückkehr nach Prag in Wien besuchen wird oder nicht. Kafka von Mauerer gelesen ist einfach ein Genuss. Zwischendurch bringt der Kabarettist auch viel aus der Biografie des Schriftstellers unter. Ich weiß jetzt nicht, ob an den eimischen Gymnasien noch viel Kafka gelesen wird – nach dem Besuch dieses Abends würden aber auch lesefaule Schüler wieder zu seinen Werken greifen.

„Maurer.Kafka.Komisch“ steht im Rabenhof wieder am 27.1., 24.2. und 24.3. am Programm.
rabenhoftheater.at

Schon am Samstag hat Kafkas „Die Verwandlung“ am Akademietheater Premiere.
burgtheater.at/akademietheater

Und am 29.1., 19 Uhr, wird das Buch „Für K.“ im Augustinertrakt der Nationalbibliothek präsentiert – mit Kurzgeschichten heutiger Autorinnen und Autoren im Gedenken an Franz Kafka.

Das Sterben eines Gefassten – Bernhard Schlinks „Das späte Leben“

Mit 76 erfährt Martin, dass er nur noch wenige Wochen zu leben hat – Bauchspeicheldrüsenkrebs. Dabei hat der Professor für Recht gerade die vielleicht glücklichste Phase seines Lebens mit einer um vieles jüngeren Frau und einen Sohn im Kindergarten. Was also tun in den letzten Tagen, die im noch bleiben?

Bernhard Schlink stellt in seinem neuen Roman jene Fragen, die alle Menschen sich irgendwann stellen müssen. Denn dem Tod kann niemand entkommen, manche können ihr Ende aber genau datieren. Ulla, seine 43jährige Frau, schlägt Martin vor, seinem Sohn etwas zu hinterlassen – einen Brief oder ein Video. Und daran arbeitet Martin dann auch obwohl ihm Gefühle immer schwergefallen sind. Schicksalsschläge hat er immer erst mit einiger Verzögerung begriffen, manche nannten ihn deswegen gefühlskalt. Schlink beschreibt Martin auch als einen sehr nüchternen Menschen, als einen Gefassten.

Dramatik bekommt der Plot freilich dadurch, dass Martin erfährt, dass Ulla ihn mit einem jüngeren Mann betrügt. Und wieder erweist sich der Professor als durch und durch von Vernunft getrieben. Er macht seiner Frau keine Szene, sondern sucht den Liebhaber auf und bittet ihn, sich um Ulla und seinen Sohn zu kümmern.

„Das späte Leben“ ist somit ein Roman über die zwei wichtigsten Themen aller Menschen, nämlich Liebe und Tod. Es freut ungemein, wenn das ein Autor einmal so unspektakulär und ohne auf Auflagen zu schielen behandeln kann.


Bernhard Schlink: Das späte Leben
Diogenes Verlag
240 Seiten
€ 27,50

Vor 110 Jahren wurde George Tabori geboren – Rückblick auf ein Interview

Bild: ©Oliver Mark

Heuer ist ja ein richtiges Literatur-Gedenkjahr: 100. Todestag Franz Kafka, 150. Geburtstag von Hugo von Hofmannsthal, 150. Geburtstag von Karl Kraus und Friederike Mayröcker wäre im Dezember 100 Jahre alt geworden. Auf einen gerade auch für Wien wichtigen Autor und Spielmacher (Regisseur wollte er nicht genannt werden) könnte da leicht vergessen werden, aber George Tabori wurde vor 110 Jahren in Budapest – damals noch Österreich-Ungarn – geboren.

Nach Jahren in Berlin, wo er etwa im berühmten Hotel Adlon arbeitete, emigrierte er nach der Machtergreifung Hitlers 1933 über einige Umwege in die USA, wo er mit Bertolt Brecht, Elia Kazan und Alfred Hitchcock zusammenarbeitete und Drehbücher schrieb. Vom FBI überwacht zog er nach dem Krieg wieder nach Europa und schrieb erste Stücke fürs Theater. Ab 1986 arbeitete Tabori in Wien bei Peymann im Burgtheater und als Chef der Schauspielhauses, das er in „Der Kreis“ umbenannte. In den letzten Lebensjahren arbeitete er wieder in Berlin. Das folgende Interview führte ich wenige Monate vor seinem Tod (23. Juli 2007) in Wien.

Tabori wird aktuell wieder im Burgtheater gespielt. Itay Tiran inszenierte die Farce „Mein Kampf“ mit Adolf Hitler im Männerasyl in Wien, wo ihn selbstlos ausgerechnet ein Jude umsorgt. Eine durchaus gelungene Produktion – besonders Markus Hering als Schlomo Herzl ist sehenswert, Silvie Rohrer spielt die Frau Tod, Marcel Heupermann den obdachlosen Adolf Hitler und Oliver Nägele den Koscherkoch, der sich für Gott hält, den Tabori bei der Uraufführung in Wien selbst gespielt hatte. Zu sehen wieder am 1. Februar.

Interview George Tabori (geführt am 16. Oktober 2006 am Lusterboden im Volkstheater von Helmut Schneider)

Herr Tabori, Sie haben am Theater ja fast alles gemacht. Sie waren Regisseur, Schauspieler, Autor. Was war das Schwierigste?

Tabori: Das ist eine gute Frage. Also das Schreiben ist wirklich nicht das Schwierigste, weil da redet niemand zurück – beim Schreiben ist man alleine. Dann Regisseur … Ich bin eigentlich nicht ein Regisseur. Was Regisseure üblicherweise machen, ist sehr schön, aber nicht mein Weg. Ich glaube, die Schauspieler sind am Theater die wichtigsten Beteiligten und ich versuche da immer herauszufinden, was sie schon gemacht haben – weil meistens wiederholen sich Schauspieler – und das versuche ich zu verhindern, ich will etwas Neues mit ihnen machen.

Ich glaube, dass jeder Mensch und besonders die Schauspieler, jeden Tag anders sind. Der Schauspieler weiß es vielleicht nicht, aber wenn man beobachtet, dann findet man etwas, das er gestern noch nicht gemacht hat. Und das Anderssein, das Neue, das noch nicht da war, das interessiert mich.

Ich weiß nicht, ob mir das als Regisseur auch gelingt, aber ich schaue mir die Schauspieler genau an, weil ich sie für am wichtigsten halte. Bühnenbildner und Assistenten, die sind auch sehr wichtig – aber für mich sind die Schauspieler der Schlüssel bei einer Inszenierung.

Sie waren ja selber als Schauspieler auf der Bühne oder sind zumindest eingesprungen. In „Mein Kampf“ habe ich Sie am Akademietheater als Koscherkoch Lobkowitz gesehen.

Nein, ich bin kein Schauspieler, ich bin in „Mein Kampf“ eingesprungen, weil der Hugo Lindinger, ein sehr guter Schauspieler, krank wurde. Ich wollte die Premiere verschieben, aber Peymann hat gesagt: Nein, mach du seine Rolle. Ich dachte, ich probiere es mal, habe die Kochkappe aufgesetzt und mit Ignaz Kirchner gespielt – und es war ganz schön. Jetzt könnte ich es nicht mehr tun. Jetzt bin ich schon 5310 Jahre alt (lacht) also, 93. Aber das Denken funktioniert noch. Ich liege zum Beispiel oft im Bett und schaue für eine Stunde den Plafond an. Dann kommen mir verschiedene Gedanken und das habe ich gern.

Aber die Rolle war ja insofern auch interessant, als sie ja einen Koch spielten, der Gott ist, oder der sich zumindest für Gott hält…

Ja also, der Lobkowitz, der ist schwierig. Er ist verrückt, er glaubt er ist Gott, aber er war ein Koscherkoch. Ich hab mich in der Rolle auch nicht als Gott gefühlt.

Aber ich beschäftige mich sehr oft mit Gott, zum Beispiel gestern, vorgestern habe ich wieder das erste Kapitel der Bibel, das Alte Testament, gelesen und das Interessante ist, da steht immer „Und Gott sagte“ und ich frage mich dann – Zu wem hat er gesprochen? Zu den Tieren, den Bäumen oder dem Morgen und dem Gestern – was auch immer –. Und ich dachte immer, das erste Kapitel der Bibel, dass da der Gott mir sehr sympathisch war, weil er Ideen hatte, die nicht stimmten, also als er mit Tieren und Bäumen fertig gewesen ist, wollte er nach Hause gehen und dann ist ihm erst der Mensch eingefallen und er hat den Adam geschaffen. Adam steht nackt da, Gott ist zufrieden – auf Wiedersehen, ich gehe – und dann geht er und denkt „Hallo? Der kann ja nicht allein leben. Ich muss eine, wie nennt man das, Frau erfinden…“ Und er erfindet die Eva und jetzt will er endlich wirklich weggehen. Aber er hat ihnen gesagt, sie dürfen nicht Liebe machen. Und als sie sich nicht daran halten – also er hat sie allein gelassen, nackt, was hat er erwartet? – als sie doch Liebe gemacht haben, hat er sie rausgeschmissen aus dem Paradies und das ist ja eine interessante Geschichte…

Ich denke oft daran, wie er jetzt wäre, ich weiß noch nicht aber wenn ich es weiß, dann werde ich Ihnen Bescheid sagen. Diese Widersprüchlichkeiten, die finde ich schon sehr stark ausgeprägt. Wenn ich könnte, würde ich ihn danach fragen.

Sie glauben also an ein höheres Wesen, hab ich das richtig verstanden?

Ein höheres Wesen, das ist ein Ausdruck, den ich nicht genug kenne … höheres Wesen … Ich denke immer an den Renoir, Da Vinci, Malerei, wo gottartige Schöne dargestellt sind. Wo Gott „so“ macht und Adam den Finger zeigt, und ich sag dann: na ja der Michelangelo oder der Leonardo hat sich das genau so vorgestellt. Das finde ich heutzutage schwer, wenn ich an Gott denke, ich denke nicht an ihn als allgegenwärtiger Herrn, sondern ich weiß nicht wie er aussieht, ich weiß nicht, ich möchte es wissen, aber ich weiß es nicht wenn ich ehrlich bin. Ich habe ein Buch über Malerei zum Thema Christus bekommen. Da sieht man etwa ein sehr schönes Bild von Salvador Dalí, wo der Kopf nach unten gerichtet ist. Dieses Leiden kann ich verstehen, was hat Jesus gesagt, bevor er stirbt?

Er hat gesagt „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“

Ich habe mich sehr viel mit Christus beschäftigt, ich lebte auch während des Krieges ein Jahr lang in Jerusalem. Ich fuhr auch die „Via Dolorosa“ entlang, wo die heiligen Stätten sind. Aber ich glaube nicht, dass es sich so ereignet hat, wie es in der Bibel steht. Erstens: der Golgota, wo man Christus erhängt hat, das war freie Luft – und jetzt ist da ein Loch in der Wand und man sagt, es ist wichtig, weil da hat der tote Jesus gelegen und dann ist er wieder zum Leben erweckt worden – weil er ja unsterblich ist. Ich fand diese offizielle Religiosität interessant und schön – aber geglaubt habe ich das nicht.

Zurück zum Theater. Das Theater hat ja heute viel Konkurrenz – Fernsehen, Internet usw..

Ja, ja. Das ist sehr schade. Vor einigen Jahren sind die Medien wichtiger geworden. Etwa das Fernsehen. Ich schaue in Berlin jeden Tag vielleicht eine Stunde Fernsehen. Höchstens einmal in der Woche finde ich etwas, was mich interessiert, sonst gibt es immer nur hübsche Frauen, die etwas verkaufen wollen, oder dicke Herren, die politisch sprechen. Ich glaube das Fernsehen war am Anfang interessanter als jetzt. Also zum Beispiel Fußball. Ich habe Fußball sehr gern gehabt und war früher oft auf Fußballplätzen. Aber jetzt sieht man es im Fernsehen. Am Nachmittag ein Spiel, und nachher noch eins und noch eins. Ich glaube das Resultat wird sein, dass in ein paar Jahren die Leute überhaupt nicht mehr Fußball zugucken.

Aber trotzdem schauen sich ja noch viele Menschen Theaterstücke an, es ist immer wieder faszinierend volle Häuser zu sehen.

In Österreich schon, in Berlin weniger. Ich habe da eine Theorie, wobei ich hoffe sie ist nicht richtig. Ich denke das alte griechische Theater, das hat fünfzig Jahre gedauert, dann kam das römische Theater, das war brutal und so weiter, dann kam Shakespeare und mehrere Engländer, dann kamen mehrere Franzosen und dann im 19. Jahrhundert Goethe, Schiller, Kleist… Ein Jahrhundert lang waren wir die besten und die größten, jetzt aber nicht mehr. Und außerdem was haben wir hier, also ich hab Probleme mit dem wie heißt er Peter … wie heißt er der große Schriftsteller…

Handke?

Ja. Ich glaube er hat sich sogar antisemitisch geäußert. Das ist nicht unbedingt schön, aber die Düsseldorfer Sache (Anm.: Handke wurde von der Stadt Düsseldorf der Heinrich-Heine-Preis verweigert) hat man weggesteckt und jetzt schimpft Handke auf Günther Grass. Günther Grass ist ein Freund von mir und was er als 17jähriger gemacht hat, das interessiert mich nicht und dass er das zu spät zugegeben hat, das interessiert mich auch nicht, das ist seine Sache. Vielleicht hätte ich es auch so gemacht aber das finde ich es nicht richtig, dass man ihn so angreift, nur weil er einige Sachen nicht gleich zugegeben hat. Ich kenne ihn seit Jahren, mit seinen Kindern und seiner Ehefrau. Ich habe mich gefreut, dass er den Nobelpreis bekommen hat – ebenso wie die österreichische…..

Die Frau Jelinek, ja.

Ich hab sie gekannt, damals als sie hier lebte, wir haben uns bei Shakespeare & Company getroffen. Ich habe dann auch ein Stück von ihr gemacht und sie kam drei Mal zu der Probe und sie sagte „Sie haben gewisse Sachen geändert, kürzer gemacht. Gut, machen sie nur. Ich habe den Text geschrieben, aber das heißt nicht, dass es so bleiben muss. Sie war die einzige Schriftstellerin, die das zugegeben hat. Denn wenn man etwas schreibt, das ist anders, als wenn man etwas spielt. Ich hoffe ich werde sie irgendwann wieder sehen.

Übrigens, ich habe meiner Frau gesagt, ich bleibe in Wien, Good Bye. Sie hat gelacht. Also ich gehe, Samstag gehe ich nach Hause, aber ich werde versuchen, sie zu überreden, lass uns wieder nach Wien kommen!

Das wäre toll.

Warum das so ist, das kann ich nicht sagen, aber ich fühlte mich hier wohl. Ich bin immer zu Fuß ins Burgtheater gegangen, Währinger Straße, dort war ein Hotel, mit „R“ fängt es an, dort habe ich auch gewohnt…

In der Währinger Straße ist das Hotel Regina.

Es ist ein kleines Hotel, … na ja ich will nicht nostalgisch werden …

Was ist in Wien besser für Theatermacher als in Berlin?

Also ich würde es nicht so formulieren „Was ist besser“. Weil schauen Sie, ich bin der älteste Theatermachende der Welt, aber das heißt nicht, dass ich unbedingt Gutes geschafft habe, ich hab ja so viele Stücke geschrieben, warum habe ich das gemacht?

Haben Sie ein Lieblingsstück unter ihren eigenen? 

Bei mir ist es so, wenn ich ein Stück schreibe, dann bin ich nur darauf konzentriert, alle anderen Stücke interessieren mich nicht. So war das früher. Wenn die Premiere gekommen ist, Good Bye, Ciao … So war es früher. Jetzt, seit drei, vier Jahren denke ich auch darüber nach, welches Stück ich am besten finde. Ich habe sehr gerne „Weisman und Rotgesicht“, das ich in Amerika geschrieben hab, ich möchte das wieder in Wien machen lassen. Und dann „Die Kannibalen“ – das wurde in Berlin aufgeführt, das hat mich eigentlich nach Berlin geführt.

Uraufführung von Peter Turrinis „Es muss geschieden sein“ im Theater in der Josefstadt

Bild: ©Moritz Schell

Fleißiger Autor: Im Theater in der Josefstadt gibt es innerhalb weniger Monate schon die zweite Uraufführung eines Stückes von Peter Turrini. Nach alten grantigen Männern – „Bis nächsten Freitag“ im November – hat sich der Kärntener Autor einem historischen Thema gewidmet.

Wien im März 1848. In der Stadt rebellieren die Studenten gegen den Kaiser, während das Volk an Hunger leidet. Mittendrin der Überlebenskünstler Adam Holzapfel, der sich ein paar Kreuzer als Füsilier verdient, denn zum Tode Verurteilte gibt es gerade zuhauf. Um seine Familie zu ernähren, braucht aber einen zweiten Job und so wird er Hausmeister bei einer Theatertruppe, die gerade Ferdinand Raimunds Zaubermärchen „Der Bauer als Millionär“ probt. Auch dort machen sich revolutionäre Gedanken breit. Und bald schon steht man vor der Frage, ob man weiterproben oder mitkämpfen soll, denn die Haubitzen und Gewehrsalven stören sowieso längst den Betrieb.

Holzapfel, souverän gespielt von Günter Franzmeier, ist dabei so etwas wie die Mutter Courage der Revolution, denn als kaiserlicher Hilfs-Infanterist ernährt ihn eben auch der Kampf um Leben und Tod. Er fordert nicht Pressfreiheit, sondern endlich die Fressfreiheit. Turrini bietet aber sogar eine Liebesgeschichte auf. Die Schauspielerin Zäzilie, die schon vieles machen musste, um zu überleben und die mit viel Herzblut von Johanna Mahaffy gespielt wird, verliebt sich in den Studenten aus reichem Haus Karl (Julian Valerio Rehrl). In der bewegenden Schlussszene singt sie das traurige „Brüderlein fein“, den raimundschen Abschiedssong der Jugend, während schon das Gewehr auf sie angelegt ist. Ihr Liebhaber Karl wird vom Vater hingegen freigekauft. Die Wiener Revolution wird von Windischgrätz mit 60.000 Mann blutigst niedergeschlagen.

Stephanie Mohr hat sich dem historischen Stück mit viel Fingerspitzengefühl angenommen. Ihre Regie zeichnet sich durch eine schöne Klarheit aus. Nach dem eher mauen Zeitstück ist Turrini mit diesem Revolutionsdrama eine Tragikomödie gelungen, die auf den Theaterbühnen bleiben könnte.

Karten und Infos: josefstadt.org

Der Aufstieg hat seinen Preis – Das Debüt der Nobelpreisträgerin Annie Ernaux erstmals auf Deutsch

Als Kind ist Denise Lesur eigentlich ganz glücklich. Die Mutter führt in der Kleinstadt im Norden Frankreichs einen kleinen Krämerladen, der Vater daneben eine Kneipe. Die Kunden lassen anschreiben, niemand hat viel Geld, die Säufer sind Stammgäste – und dass es nur ein Plumpsklo im Hof gibt, stört auch niemanden. Denises Eltern arbeiten ständig, sie haben es geschafft, sich als Besitzlose hochzuarbeiten und sind nun froh, keinen Chef mehr zu haben.

Als sie Denise in eine katholische Privatschule stecken, bricht allerdings ihre Welt zusammen. Denise wird als Asoziale gehänselt, die Bürgertöchter blicken auf sie herab. Und Denise sieht zum ersten Mal ihr Elternhaus mit anderen Augen: die schlechten Manieren, den Nachttopf im Schlafzimmer, die schmierige Küche, das lächerliche Angebot ihres Ladens und die kotzenden Zechbrüder. Mit zähem Fleiß kämpft sich Denise nach oben, sie wird Klassenbeste und schafft mühelos die Anforderungen für den Besuch einer Universität. Da sieht sie längst auf ihre Eltern herab, deren Geld ihr erst den Besuch der Schulen ermöglicht hat. Als letzte Schranke will sie die Freundin eines Bürgerlichen werden. Mit den im Jahr 1961 noch verheerenden Folgen einer Schwangerschaft. Denise gerät an eine Engelmacherin, denn Abtreibungen sind noch illegal. Mit diesem Schock beginnt und endet der erste Roman der Nobelpreisträgerin Annie Ernaux, der 1974 bei Gallimard erschienen ist. Noch schreibt Ernaux, die sich später ja als „Ethnologin ihrer selbst“ begreift, fiktional, wenngleich die Handlung ja mit den späteren autofiktionalen Büchern fast identisch ist. „Die leeren Schränke“ ist auf jeden Fall ein faszinierender Roman über die zerstörerischen Brüche, die ein sozialer Aufstieg mit sich bringt. Denise hasst ihre Herkunft, obwohl sie klug genug ist zu erkennen, dass auch in der bürgerlichen Welt vieles nur Schein ist. Als ihr Liebhaber erfährt, dass sie schwanger ist, macht er sich aus dem Staub.

Während Ernaux später für ihren lakonischen Stil bekannt wurde, ist dieser Erstling noch durchaus drastisch und plastisch erzählt. Stellenweise wirkt der in der ersten Person geschilderte Text wie eine Anklage gegen die Gesellschaft und sich selbst. Spannend und interessant zu lesen ist das Ganze aber auf jeden Fall.


Annie Ernaux: Die leeren Schränke
Aus dem Französischen von Sonja Finck
Suhrkamp
220 Seiten
€ 24,50

10 Bücher, die ich gerne gelesen habe – Helmut Schneiders Buchtipps

Die Nobelpreisträgerin Toni Morrison schrieb „Rezitativ“ das von zwei Waisenmädchen handelt. – ©Bert Andrews

Ende des Jahres gibt es ja überall Bestenlisten. Sowas kann ich nicht anbieten, denn mehr als ein Buch pro Woche ist – so man sonst noch einen Job hat – kaum zu schaffen, denn die umfangreichen Bücher schlucken den Zeitgewinn, den man mit den schmäleren aufbaut. Jedes Jahr gibt es logischerweise sehr viele Bücher, die ich gerne gelesen hätte. Zudem weiß ich natürlich, dass jeder/jede einen ganz speziellen Buchgeschmack hat. Deshalb tue ich mir extrem schwer, wenn ich Menschen, die ich nicht gut kenne, etwas empfehlen soll.

Die unten angeführten Titel waren für mich jedenfalls ein großer Gewinn und mögen vielleicht für Menschen, die gerne lesen, eine Empfehlung für die Feiertage darstellen.


Steffen Kopetzky: Damenopfer
Hanser
444 Seiten
€ 27,50

Die ansprechend erzählte Geschichte einer klugen Revolutionärin des russischen Bürgerkriegs inmitten der implodierenden Weltpolitik. Ist sogar spannend.


Barbi Marković: Minihorror
Residenz Verlag
192 Seiten
€ 25,-

Skurrile Skizzen aus dem Leben eines Paares in Wien – samt Monstern plus Zeichnungen. Macht süchtig.


Sepp Mall: Ein Hund kam in die Küche
Leykam
192 Seiten
€ 25,50

Das vergessene Kapitel der von Hitler verratenen deutschsprachigen Südtiroler erzählt durch die Augen eines Kindes. Der Autor findet eindrucksvolle Bilder.


Wolf Haas: Eigentum
Hanser
160 Seiten
€ 23,50

Die Geschichte einer einfachen, arbeitssamen Frau – der Mutter des Autors – vor dem Hintergrund des um sie herum anwachsenden Wohlstandes.


Deepti Kapoor: Zeit der Schuld
Blessing Verlag
688 Seiten
€ 29,50

Eine Art indischer Mafia-Thriller, der allerdings viel über den Zustand des Landes offenbart. Spannender als Netflix-Schauen.


Susanne Gregor: Wir werden fliegen
Frankfurter Verlagsanstalt
254 Seiten
€ 25,50

Ein tschechoslowakisches Geschwisterpaar will aus dem Kommunismus heraus und hat dann andere Schwierigkeiten, als es die Grenzen nicht mehr gibt.


T. C. Boyle: Blue Skies
Hanser
400 Seiten
€ 29,50

Auch die Klimakatastrophe kann mit Galgenhumor betrachtet werden – und niemand macht das so ansprechend wie der Kalifornier.


Joshua Cohen: Die Netanjahus
Schöffling & Co.
288 Seiten
€ 26,50

Ein urkomischer Collegeroman, in der die berühmte israelische Familie wie ein Heuschreckenschwarm in einen kleinen Campus einfällt.


Eva Viežnaviec: Was suchst du, Wolf?
Zsolnay
141 Seiten
€ 23,50

Ein ungemein kraftvoller Roman über eine Familie in Belarus im Spiegel der wechselvollen und immer grausamen Geschichte.


Toni Morrison: Rezitativ
Rowohlt
96 Seiten
€ 21,50

Die einzige Erzählung der 2019 verstorbenen Nobelpreisträgerin über zwei Mädchen in einem Waisenhaus – eine ist weiß, die andere schwarz und die Autorin verrät nicht, welche welche ist.


DIE ZEIT VERKEHRT HERUM TRAGEN – Ein Stück über die Demenz der Mutter im Kosmostheater

Szenefoto von „Die Zeit verkehrt herum tragen“ im Kosmostheater. – ©Bettina Frenzel

Fast alle sind in irgendeiner Weise von Demenz betroffen – viele als Angehörige, manche als Betroffene und fast alle fürchten sich davor, einmal betroffen zu sein, denn alt werden wollen alle – alt sein aber die wenigsten. Die noch in Ost-Berlin aufgewachsene Autorin Bärbel Strehlau hat sich dem Thema mittels eines „dokumentarisch-poetischen Theaterstücks“ angenähert. Bald wird klar: Hier wurde eine eigene Geschichte literarisch aufgearbeitet. Eine jüngere Frau muss ihre Mutter betreuen, nachdem der Vater im Krankenhaus liegt. Und Mutti ist eben dement. Strehlau findet dafür zahlreiche gelungene Bilder, auch der Titel des Stücks ist ein solches. Während sich die Tochter an ihre umsorgte Kindheit erinnert, erkennt sie, dass es jetzt eben umgekehrt ist und sie sich um die Mutti kümmern muss, die nach Hause gehen will, wenn sie auf der eigenen Couch sitzt und nur noch in ihrem Gehirn verwalten kann, was unmittelbar vor ihr ist. Und gut analysiert sie, dass nicht funktionierende Familien in solchen Krisen noch stärker dysfunktional werden, sprich zerbrechen. Die strenge Schwester möchte nämlich Mutti sofort in eine Pflegeeinrichtung abschieben.

Für eine zweite Ebene sorgen im Kosmostheater nicht nur ein Bühnenbild mit beweglichen Würfeln, das schnelle Szenenwechsel ermöglicht, sondern auch die Figur einer – mit Maske gespielten – Puppe, die gerne das Geschehen kommentiert oder konkretisiert. Ein guter Einfall! Mit Mareile Metzner, Else Hennig, Sabrina Strehl und Michael Gangl – letzterer darf einen aus dem Fernsehen heraustretenden Schlagerstar mit viel Sexappeal spielen und singen – ist ein sehr gutes Schauspielteam im Einsatz. Ein wichtiger Theaterabend!


Noch bis 14. Dezember, Infos: kosmostheater.at

Muttertier wird zum Mutterwolf – Rachel Yoders Roman einer Metamorphose „Nightbitch“.

Werwolf heißt etymologisch aufgeschlüsselt ja Mannwolf. Die Verwandlung eines Mannes in einen Wolf gehört nach wie vor zu den beliebtesten Genres, es gibt unzählige Filme, in denen vor allem Teenager zu Bestien mutieren. Die in Iowa lebende Schriftstellerin Rachel Yoder zeichnet freilich die Verwandlung einer Mutter in einen Hund nach. Die Erzählerin nennt sich nach einer ersten Nacht, in der sie in der Kleinstadt nackt herumstreift, auf den Rasen des unsympathischen Nachbarn scheißt und kleine Säugetiere reißt, selbst „Nightbitch“ oder Wermutter. Vorangegangen ist dieser Metamorphose die Erkenntnis, dass sie sich als Nur-Mutter eines 2-jährigen Knaben auf einem gesellschaftlichen Abstellgleis befindet und absolut keine Zeit mehr für sich selbst hat.

Ihre Karriere als Künstlerin und Galeristin hat sie aufgegeben, zumal ihr sie durchaus liebender Mann die meiste Zeit auf Dienstreise ist und sie mit ihren Elternpflichten allein lassen muss. Das zählt auch zu den Stärken dieses feministischen Romans – die Autorin kommt ohne plumpe Feindbilder aus, denn Nightbitch liebt ihren Mann und ihr Kind, weiß aber keinen Ausweg aus der Öde zwischen Kinderspielplatz und den endlosen Ritualen, bevor ihr Sohn endlich einschläft. Zwar kann sie die anderen Mütter, die sie in der Bücherei und am Spielplatz trifft, nicht ausstehen, aber sie ist klug genug, sie als Spiegelungen ihrer selbst zu erkennen.

Aber eines Tages wachsen ihr eben Haare am Körper und am Steiß bekommt sie etwas, das einem Schwanz ähnelt. In den Schilderungen von Frauengesellschaften, denen plötzlich Flügeln wachsen oder eben Wölfe werden von einer geheimnisvollen Autorin namens Wanda White erkennt sie sich wieder. Und außerdem hat ihr Sohn viel Freude daran, wenn sie mit ihm Hund spielen kann. Er trägt gerne ein Hundehalsband und schläft endlich problemlos im Hundekörbchen.

Der Roman endet mit einer spektakulären „künstlerischen“ Performance vor den Müttern der Kleinstadt, in der Frauen oft die bessere Ausbildung, aber die Jobs die Männer haben. Rachel Yoder ist ein verstörender Roman über die Rolle der Mutter in unserer Gesellschaft gelungen, der aufzeigt, dass hier dringend Änderungsbedarf besteht. Sicher nicht nur in amerikanischen Kleinstädten.


Rachel Yoder: Nightbitch
Aus dem Englischen von Eva Bonné
Klett-Cotta
300 Seiten
€ 25,50

„Alice“, eine Opernrevue von Kurt Schwertsik im Odeon

Bild: ©Stefan Smidt

Lewis Carrolls Bücher „Alice im Wunderland“ und „Alice. Hinter den Spiegeln“ zählen sicher zu den einflussreichsten Texten, die jemals geschrieben wurden – haben sie doch auch sonst eher coole Naturwissenschaftler fasziniert. Im Odeon hatte jetzt im Rahmen des Wien Modern Festivals die Gemeinschaftsproduktion des Serapionstheaters mit dem Sirene-Operntheaters „Alice“ Premiere, zu der Kurt Schwertsik die Musik und Kristine Tornquist das Libretto geschrieben haben. Regie führten Kristine Tornquist & Max Kaufmann, die wunderbaren Kostüme stammen von Mirjam Mercedes Salzer.

Und das beschert Besuchern anderthalb Stunden reine Verzückung: Sopranistin Ana Grigalashvili als Alice taumelt durch die Wunderwelt – und wir mit ihr.  Oft sind aber Sängerinnen und Sänger von den darstellenden Tänzerinnen und Tänzer getrennt und sozusagen doppelt besetzt. Die Grinsekatze wird gar von 8 Personen dargestellt. Der Hof der Königin scheint in Papierkostümen gekleidet, die Raupe lässt sich von Alice als Sessel gebrauchen. Das weiße Kaninchen scheint überall gleichzeitig zu sein.

Die spannungsvolle Musik des Wiener Komponisten-Doyens Kurt Schwertsik arbeitet mit Leitmotiven und schwingt sich zuweilen zu großer Melodik auf. Das Rote Orchester unter der Leitung von Dirigent François-Pierre Descamps intoniert gefühlvoll – alles passt perfekt zusammen.

Ein wirklich gelungener Abend! 

Vorführungen noch am 1., 2., 7., 8., 9., 29., 30. und 31. Dezember 2023 um jeweils 20. Das Stück ist in englischer Sprache mit deutschen Übertiteln und dauert 95 Minuten.
Weitere Infos unter www.odeon-theater.at.

Letzte Jahre in Paris – Lea Singers Roman über Joseph Roths Geliebte Andrea Manga Bell 

Über Joseph Roths Ende im Mai 1939 als mittelloser Alkoholiker in Paris mit nur 44 Jahren gibt es viele Anekdoten und Legenden. Fast zehn Jahre war Roth, der zeitweise zu den bestbezahlten Autoren Europas gehörte, dem sein Geld allerdings aufgrund großzügiger Trinkgelder, exquisiter Hotels und natürlich wegen seines unfassbaren Schnapskonsums zwischen den Fingern zerrann, mit Andrea Manga Bell zusammen, die für ihn diverse Anstellungen als Journalistin und Grafikerin aufgab, seine Romane tippte und redigierte. Die Deutsche, deren Vater ein berühmter kubanischer Pianist und die mit dem Prinzen von Kamerun verheiratet war, der sie allerdings mit 2 Kindern sitzen ließ, soll neben Roths Ehefrau, die in diversen Nervenheilanstalten untergebracht war, Roths einzige Liebe gewesen sein.

Lea Singer hat dieser Frau jetzt mit ihrem Roman „Die Heilige des Trinkers“ ein literarisches Denkmal gesetzt. Das Buch beginnt und endet am Pariser Friedhof, auf dem Joseph Roth seine letzte Ruhestätte fand. Andrea Manga Bell erzählt aus ihrer Perspektive, sie kürzt sich bescheiden mit A. ab. Am Anfang steht das Begräbnis, wo sie von den meisten Freunden Roths geschnitten wird und am Ende A.s letzter Besuch am Friedhof im Frieden – denn 1941 ziehen die Deutschen unter Getöse in Paris ein. Dazwischen erleben wir – sehr dicht und sehr anschaulich geschildert – die Aufopferung einer Frau im Dienste eines von ihr verehrten Genies. A. ist permanent für Roth da, vernachlässigt ihre Kinder, erduldet rassistische Schmähungen und protestiert nicht, dass er überall herumerzählt, er kümmere sich um A.s Kinder – obwohl doch das meiste Geld von A.s Bruder kommt. Selbst Ausdrücke wie N*hure hält die dunkelhäutige Andrea Manga Bell, die man oft auch mit Josephine Baker verwechselt aus – wird doch gerade eine andere Gruppe von Menschen – Juden – ähnlich behandelt. Mit Entsetzen verfolgt das Paar die Ausschreitungen in Deutschland.

Roth war politisch hellsichtig, er flüchtete nach Hitlers Machtergreifung sofort nach Paris, auch in Österreich fühlte er sich als Jude schon vor dem Anschluss nicht mehr sicher, die Kapitulation Österreichs sah er voraus.

„Die Heilige des Trinkers“ – der Titel ist wohl eine Anspielung auf Roths Novelle „Die Legende vom heiligen Trinker“ – ist ein wunderbarer Roman, in dem man viel über die Widersprüche im Leben eines der größten deutschsprachigen Dichters erfährt und eine interessante Frau kennenlernt, die mutmaßlich keine Heilige aber sicher mehr als nur eine Helferin war.


Letzte Jahre in Paris. Lea Singers Roman über Joseph Roths Geliebte Andrea Manga Bell ist Helmut Schneiders Buchtipp.

Lea Singer: Die Heilige des Trinkers
Kampa Verlag
300 Seiten
€ 25,50