WIENschräg

WIENschräg – (Kultur)hauptstadt Salzburg


WIENschräg, der Satireblog von Walter Posch.
Text: Walter Posch / Foto: picturedesk.com


Mit der nicht übertrieben kurzen Reaktionszeit von einem dreiviertel Jahrhundert hat der Mahlstrom der Geschichte auch Salzburg erfasst und so wie in anderen europäischen Städten einen Prozess in Gang gesetzt, der gerne mit dem Begriff „Vergangenheitsbewältigung“ beschrieben wird, gleichwohl niemand so genau weiss, was da eigentlich bewältigt wird bzw. in welcher Form dieser Prozess zum Abschluss kommen sollte. Am besten endlich einmal aufhören!

Umso mehr verdient der Beschluss des Gemeinderates der Stadt Salzburg Anerkennung, sein Stadtarchiv 2008 mit der Organisation eines Projekts zu betrauen, um die NS- Geschichte der Stadt unter Einbeziehung zahlreicher Wissenschafter*innen und Expert*innen aufzuarbeiten und Entscheidungsgrundlagen für entschlossenes Handeln zu liefern: dort, wo die finstere Vergangenheit am sichtbarsten den öffentlichen Raum beherrscht, in der Benennung von Strassen und Plätzen nach nationalsozialistischen Würdenträger*innen.

Ein zu diesem Zweck eingesetzter Fachbeirat von honorigen Expert*innen mit ausgewiesener historischer, archivarischer und publizistischer Kompetenz identifizierte schliesslich 66 solcherart „belastete“ Strassennamen. Immerhin 8 dieser Personen hatte die Stadt Salzburg nach 1945 mit der Ehrenbürgerschaft ausgezeichnet, und fast alle der Strassenbenennungen zwischen 1957 und 1991 fasste der Salzburger Gemeinderat einstimmig.

Diesem Tatbestand ist auch die Schwierigkeit geschuldet, die der unvoreingenommene Laie, wie oben beschrieben, mit der Fragestellung hat, in welcher Form welche Vergangenheit eigentlich bewältigt wurde bzw. wie diese fortlebt in deren Nachfahren.

Jene Schwierigkeit wird nicht gerade dadurch erleichtert bzw. behoben, dass der sogenannte Fachbeirat es sich zur Aufgabe gesetzt hat, die 66 belasteten Personen nach dem Prinzip zu kategorisieren, inwieweit diese in die NS- Geschichte „verstrickt-verstrickter-am verstricktesten“ sind, wobei nicht eindeutig zu erkennen ist, wie diese Kategorien voneinander abgegrenzt wurden, in welche die belasteten Personen eingeteilt wurden. Eindeutig sind bloss die Handlungsempfehlungen, mit denen die Expert*innen nach mehrjähriger Forschung und Beratung ihren Kopf geschickt aus der Schlinge gezogen haben:

Kat.1: Nicht gravierende Verstrickung bedeutet nur einen Eintrag im digitalen Stadtplan auf der Website der Stadt Salzburg.

Kat.2: Gravierendere Verstrickung bedeutet zusätzlich eine Erläuterungstafel zum Strassennamen.

Kat.3: Gravierende NS- Verstrickung bedeutet Diskussions- und Handlungsbedarf für die politischen Entscheidungsträger*innen (sic!), ob nicht eine Umbenennung in Erwägung gezogen werden solle!


Derart mit über 1000 Seiten Information, zahlreichen Publikationen und Vortragsreihen und eben jenen „Empfehlungen“ ausgestattet, entscheidet demnächst der Salzburger Gemeinderat über seine zu bewältigende Vergangenheit und damit auch die heikle Angelegenheit, wem der 13 in Kategorie 3 gereihten Ehrenmänner – es sind ausschliesslich Männer! – die Ehre in der Form abhanden kommen soll, dass ihre Strasse umbenannt wird – oder auch nicht!

Denn die Sache ist noch keineswegs entschieden, und die öffentliche Meinung oszilliert breit zwischen der Position des KZ-Verbandes, alle „braunen“ Strassen umzubennen, und jener der Bürgermeisterpartei, keiner einzigen die Ehre des Namenspatrons abzuerkennen. Befinden sich doch unter den 13 gravierend „Verstrickten“ sehr illustre Namen wie der des Heimatdichters Karl Heinrich Waggerl, des Domorganisten und Professors am Mozarteum Franz Sauer, Hitlers Lieblingsbildhauers Josef Thorak, der schon 1950 mit einer Ausstellung im Rahmen der Salzburger Festspiele öffentlich rehabilitiert wurde, des Komponisten Hans Pfitzner und der des weltberühmten Dirigenten Herbert von Karajan. Auffällig ist vor allem, dass alle 13 schwer „Verstrickten“ Kulturschaffende waren mit der einzigen Ausnahme des Konstrukteurs Ferdinand Porsche, den die Ehraberkennung allerdings selbst posthum vermutlich weniger schmerzen würde, fahren doch seine Gefährte höchst erfolg- und prestigereich rund um die Welt.

Dass die delikate Angelegenheit die Salzburger Lokalpolitiker*innen schwer fordern würde, war schon in der Gemeinderatssitzung vom 22. September spürbar, deren Bedeutung noch dadurch augmentiert wurde, dass diese auch im Internet übertragen und damit der ganze Planet Zeuge eines welthistorischen Ereignisses wurde.

Eine besonders irritierende Interpretation von Vergangenheitsbewältigung lieferten dabei die NEOS, die der Umbenennung von Strassennamen nichts abgewinnen können, weil das gleichsam einer Auslöschung der Geschichte gleichkäme, dafür das Problem mit der Anbringung erklärender Zusatztafeln lösen und quasi kompensatorisch die monumentalen Statuen des Bildhauers Thorak, unter anderen Paracelsus, denkmalstürmend aus dem Kurgarten entfernt wissen wollen.

Im wesentlichen teilen den Standpunkt mit den Zusatztafeln – ganz zeitgeistig neben analogen Tafeln solche mit QR-code – auch die anderen bürgerlichen Parteien ÖVP und Liste SALZ, die ebenso Umbenennungen der Strassen ablehnen und die Vergangenheit lieber mit Zusatztafeln bewältigt wissen wollen.

Nicht ganz unerwartet stösst die FPÖ in ein ähnliches Horn, wobei die Bemerkung des Gemeinderates Heindl aufhorchen lässt, dass „Opfer vielleicht ab und zu froh sind, wenn sie Tätern verzeihen können.“

So wird der Vorstoss der Grünen, Strassen umzubenennen, wohl keine Mehrheit finden, zumal die in dieser wichtigen Causa positionslose und blasse SPÖ dem ihrer Meinung nach „weit über die Landesgrenzen hinaus anerkannten Salzburger Modell“ mit den Erklärungstafeln vermutlich ihre Zustimmung geben wird.

So gesehen ist es ex post ein Glücksfall, dass niemand in der Nazizeit auf die Idee gekommen ist, den Elisabethkai zur Erinnerung an Himmlers Salzburgbesuch im Jahre 1938 in Heinrich-Himmler-Gedächtnispromenade umzubenennen. Die Vergangenheitsbewältigung wäre schier unmöglich gewesen.

Ob nun mit oder ohne Zusatztafel, der inkriminierte Herbert von Karajan hätte jedenfalls das Dirigat des diesjährigen Don Giovanni der Salzburger Festspiele nicht angenommen, dessen Premierenpublikum einer Inszenierung frenetisch applaudierte, dessen Regisseur die Interpretation nicht verständlicher Szenen gar in die Obsorge des Unterbewusstseins des Publikums entlässt und der Festspielpräsidentin Tränen der Rührung entlockte, weil zahlreiche Salzburger Frauen als Statistinnen teilgenommen hatten.

Vergangenheit hin, Bewältigung her, ganz gleich, welches Auto da vom Himmel fiel, es war kein Porsche! Das hätte sich der Porsche-Enthusiast Karajan verbeten.


Buchtipp – Jonathan Lethem, Anatomie eines Spielers

Anatomie eines Spielers


Berlin, Berkeley, Singapur – Jonathan Lethem zeichnet einen Gambler im Kampf mit dem Kapitalismus. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.


Der Amerikaner Alexander Bruno ist weltweit agierender Profispieler, freilich auf dem eher ungewöhnlichen Feld des Backgammon-Spiels. Doch seit kurzem hat er schlechte Karten, das heißt bei ihm natürlich Steine. Denn nicht nur hat er in Singapur eine Art Pechsträhne, er bemerkt in einem Auge auch einen massiven Gesichtsfeldverlust, einen schwarzen Fleck – was leider sehr wahrscheinlich auf einen Tumor hinweist. In Berlin fällt er während eines Spiels mit einem reichen Gegner in dessen Villa zusammen und landet in der Charité. Er hat inzwischen eine Wucherung im Gehirn, der nach Ansicht der deutschen Ärzte nicht operierbar ist. Allerdings soll es in San Francisco einen Neurochirurgen geben, der dem Tumor von vorne zu Leibe rückt, indem er das Gesicht „wegklappt“. So genau will man sich das gar nicht vorstellen – allein Jonathan Lethem beschreibt die Operation des Hippiearztes und Jimmy-Hendrix-Fans in aller Ausführlichkeit.

Finanziert wird Brunos zig-teure Operation von einem College-Klassenkameraden, den er zufällig in Singapur trifft und der – obschon gekleidet wie ein Obdachloser – in beider Heimatstadt Berkeley ein Immobilien- und Fastfood-Imperium aufgebaut hat. Frisch operiert wacht Bruno schließlich in Berkeley auf – geheilt, aber natürlich ziemlich entstellt und weiterhin von den Zuwendungen seines „Freundes“ abhängig. Dankbar will Bruno aber nicht sein, im Gegenteil: er schließt sich der Protestbewegung gegen die neue Ausbeutung durch das Großkapital – namentlich durch seinen Ex-Klassenkameraden an.

„Anatomie eines Spielers“ ist ein witziger, literarisch ambitionierter Noir-Krimi Jonathan Lethems, der mit seinen Brooklyn-Romanen „Die Festung der Einsamkeit“ und „Motherless Brooklyn“ (verfilmt mit  Bruce Willis, Gugu Mbatha-Raw, Alec Baldwin und Willem Dafoe) berühmt wurde. Inzwischen lebt er allerdings in Kalifornien. Auf den knapp 400 Seiten findet er auch Platz für einige Romanzen, denn Bruno ist sowohl von der Freundin seines Gönners als auch von einer Berlinerin angezogen. Letztere lernte er beim Privatspiel eines reichen Magnaten kennen, als sie unten ohne und oben komplett in Leder eingepackt Sandwichs servierte. Die Schrecken des Turbokapitalismus werden in dem Universitätsstädtchen Berkeley, das ja eigentlich ein Stadtteil von SF ist, anschaulich gemacht. Die völlig unakzeptable bezahlte Unterschichte hat da schön langsam die Nase voll. Eat the Rich!


Jonathan Lethem: Anatomie eines Spielers, Tropen Verlag
432 Seiten
ISBN: 978-3-608-50154-4
€ 25,90

Theaterkritik – Richard II., Burgtheater

RICHARD II.  von William Shakespeare  Deutsch von Thomas Brasch Saison 2020/21 Burgtheater

Wenn die Ordnung zerfällt


Shakespeares Richard II. im Burgtheater. Eine Theaterkritik.
Text: Helmut Schneider / Foto: Marcella R. Cruz


Den buckeligen Bösewicht Richard III. kennt jeder Theaterbesucher. Shakespeares Richard II. wird hingegen viel weniger gespielt, denn so wirklich spannend ist die Handlung in diesem Königsdrama ja nicht. Interessant wird das Spiel um den schwachen König aber, wenn man über Staatsmacht und die Legitimation von Herrschaft nachdenken will. Johan Simons gewollt unspektakuläre Inszenierung im Burgtheater gibt dazu viel Gelegenheit. Zwar wird ein König entmachtet und später sogar ermordet – die entscheidende Frage ist allerdings, woraus der neue Machthaber seine Herrschaft begründen wird. So wie ein Geldschein nur ein Stück Papier ist, wenn niemand dafür etwas eintauschen will, ist ein König nur ein Mensch wie jeder andere, solange er nicht von seinen Untertanen anerkannt wird.

Jan Bülow ist der entscheidungsschwache König, den Shakespeare zu der Erkenntnis bringt, dass er als abgesetzter Monarch eigentlich kaum mehr wirklich ein Mensch ist. Zum Philosophen fehlt ihm noch viel, aber er spürt, dass er durch den Verlust des Amtes ein anderer wird. Seinen Widersacher Bolingbroke hat Johan Simons mit einer Frau besetzt, nämlich mit der exzellenten Sarah Viktoria Frick, die tatsächlich eher sachlich an das Regieren herangeht. Kein Triumpf, keine Lust am Töten – Richard II wird von einem übereifrigen Höfling abgemurkst – dafür eine begreifliche Unsicherheit in Zeiten des Interregnums. Daneben klagen die Hüter des Rechtes ihr Leid und werden eifrig Mordanschläge und Intrigen versucht.

Die Bühne bilden große Metallsesseln mit absurd hohen Lehnen – ein cooler Raum für eine coole Inszenierung als Anregung über eine Diskussion über Staat, Ordnung und Herrschaft.


INFO:
Tickets & Termine

Buchtipp – J. Courtney Sullivan, Fremde Freundin

Drei-Klassen-Gesellschaft


J. Courtney Sullivans Roman über eine scheinbare Freundschaft zwischen einer Autorin und ihrer Babysitterin.
Text: Helmut Schneider


Elisabeth ist eine gutverdienende Schriftstellerin, die wegen ihres gerade geborenen Sohnes Gil mit ihrem Mann Andrew gerade vom schicken Brooklyn in den Nordosten der USA zieht. Dort haben sie Haus und Garten, Andrew kann am College unterrichten und an seiner Erfindung eines solarbetriebenen Grills arbeiten und dort bekommt sie auch problemlos eine Studentin als Babysitterin. Sam ist – schon weil sie bereits als Kind einer Arbeiterfamilie auf ihre Geschwister aufpassen musste – die ideale Betreuerin für Gil. Und sie wird schnell auch zu so etwas wie eine Freundin Elisabeths.

Die New Yorkerin J. Courtney Sullivan erzählt abwechselnd aus der Perspektive von Sam und der von Elisabeth, ihre Sympathien sind gut verteilt. Denn einerseits ist Elisabeth eine liberale Frau, die versucht, ihre Mitmenschen zu verstehen – andererseits aber auch ein typischer Brooklyner Snob – ihre neuen Nachbarn, die anscheinend alle Collegeabschlüsse haben, aber als Mütter längst nicht mehr arbeiten, kommen ihr furchtbar spießig vor. Ihre 500-Dollar-Kleider und 50-Dollar-Seifen hält sie für normal. Dass ihr geschiedener Vater Millionär ist, verdrängt sie und weigert sich, Geld von ihm anzunehmen. Für Sam spielt sie die Frau, die sich hochgearbeitet hat und vergisst, dass sie ihre ersten Praktika nur durch Daddys Netzwerke bekommen hatte.

TURBULENT
Sam ist beeindruckt von Elisabeth, zumal ihre Freundinnen am College ja alle verwöhnte Töchter aus Familien sind, die den Winter in Aspern und den Sommer in der Karibik oder in Europa verbringen, während sie selbst den Studienkredit noch Jahre abzahlen wird. In London, wohin sie ihre beste Freundin Isabella einlädt, lernt sie Clive kennen, der sie bald schon heiraten will. Ein bisschen viel Probleme auf einmal für ein junges Leben.

Geschickt hat J. Courtney Sullivan aber noch eine andere Gesellschaftsschichte eingearbeitet, denn Sam arbeitet auch in der Mensa und lernt dort eingewanderte Frauen kennen, die echte Schwierigkeiten haben, ihr Leben mit ihren Minimalstlöhnen zu bestreiten. Es gibt also nicht nur die Klasse der reichen Erben und der prekären ehemaligen Mittelschicht, sondern auch noch das neue, quasi rechtlose Proletariat der Migranten. Als Sam mit einem unter Pseudonym verfassten Brief an die Collegeleitung versucht, deren Arbeitsbedingungen zu verbessern, wird deren Lage noch schlechter. Längst sind wir in der Drei-Klassen-Gesellschaft – und niemand regt sich mehr darüber auf.

„Fremde Freundin“ hat sicher einige Längen, doch der Roman greift ein wichtiges Thema – den schleichenden gesellschaftlichen Wandel nach neoliberalem Muster – auf. Und er lässt sich wunderbar lesen, denn er gibt uns tiefe und intime Einblicke in das Alltagsleben heutiger junger Frauen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten.


J. Courtney Sullivan: Fremde Freundin, Zsolnay Verlag
528 Seiten
ISBN: 978-3-552-07251-0
€ 24,-

Theaterkritik – Der Weg ins Freie, Theater in der Josefstadt

„Der Weg ins Freie“ im Theater in der Josefstadt


Derzeit gibt es im Theater in der Josefstadt Arthur Schnitzlers „Der Weg ins Freie“ zu sehen. Eine Theaterkritik.
Text: Helmut Schneider / Foto: Roland Ferrigato


Der Hauptplot des 1908 erschienenen Romans „Der Weg ins Freie“ geht darum, dass Baron Georg von Wergenthin, ein Aristokrat und Künstler, die junge Musikerin Anna Rosner auch dann nicht heiraten will, als sie sein Kind erwartet. Schließlich ist er Künstler und muss frei sein. Die Kindesmutter betrügt er noch vor deren Entbindung. Als das Kind dann stirbt, will er Anna wieder als Geliebte, so als ob nichts gewesen wäre. Schnitzler verarbeitete darin den Umgang von Seinesgleichen mit Frauen und wahrscheinlich aus deswegen zeigten sich seine Freunde von diesem Prosawerk wenig angetan. Inzwischen gilt „Der Weg ins Freie“ allerdings als eines der Hauptwerke der österreichischen Literatur im 20. Jahrhundert. Zumal ein zweites Thema – nämlich der Antisemitismus in Wien schon vor Lueger – darin schonungslos dargestellt wird.

Susanne Wolf hat nun für das Theater in der Josefstadt eine überaus wirksame und spannende Theaterfassung hergestellt. Schnitzlers Witz auskostend wird man sich bei den fast drei Stunden des Abends (mit Pause) niemals langweilen. In der pointiert eingesetzten Regie von  Janusz Kica spielt Alexander Absenger den Frauenheld Georg, Alma Hasun die Anna, Raphael von Bargen den jüdischen Freund und Schriftsteller Bermann und Michaela Klamminger die in Georg verliebte Tochter des reichen Ehrenberg Else. Und natürlich gibt es auch beispielhafte Antisemiten, die allerdings nicht das von Juden gespendete Geld verachten. Vergessen ist etwa in Wien, dass die Volksoper 1898 dezidiert als arisches Haus für christliche Komponisten und Schriftsteller gegründet wurde. Da war Hitler gerade einmal 10 Jahre alt. Schnitzler zeigt alle Formen des Antisemitismus sowie alle Reaktionen darauf – schließlich wurde ja auch der Zionismus durch Herzl in Wien erfunden. Es wäre zu wünschen, dass sich alle Maturaklassen Wiens „Der Weg ins Freie“ ansehen.


Buchtipp – Heimito von Doderer, Die Wasserfälle von Slunj

Ein Buchtipp von Helmut Schneider. Heimito von Doderer: Die Wasserfälle von Slunj


Für viele ist dieser letzte erschienene Roman (1963) Doderers gelungenstes Prosawerk. „Die Wasserfälle von Slunj“ sind „Doderer im Goldenen Schnitt, sind Doderer in Vollendung, sie sind die Essenz seines Schreibens…“ findet etwa Schriftstellerkollegin Eva Menasse im Nachwort der Jubiläumsausgabe.

Nun, die „Die Wasserfälle von Slunj“ sind mit knapp 400 Seiten zunächst einmal viel weniger umfangreich als „Die Strudlhofstiege“ (900 Seiten) und „Die Dämonen“ (1350 Seiten). Und sie haben daher naturgemäß auch viel weniger Personal. Allerdings waren sie auch bloß als erster Teil eines Romanprojektes gedacht, das Doderer sich in Analogie zu Beethovens 7. Symphonie vierteilig dachte. Da der Autor allerdings wenig später 1966 verstarb, sind nur noch Entwürfe von den weiteren Teilen übriggeblieben.

Wir erleben das Schicksal der englischen Industriellenfamilie Clayton ab den 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts. Rasch erzählt Doderer von der Heirat des jungen Robert Clayton mit Harriet und ihrer Hochzeitsreise auf den Kontinent, wo sie auch in Wien Halt machen – noch nicht wissend, dass sie sehr bald schon dort leben werden. Denn für die Maschinenfabrik Clayton empfiehlt sich eine Firmenzentrale in Mitteleuropa. Besonders beeindruckt ist das Paar aber von den Wasserfällen, den Wassermassen im kroatischen Slunj. Und genau dort wird ihr Sohn Donald, der 9 Monate später geboren wird, dann auch viele Jahre später ums Leben kommen. Die Fälle bilden sozusagen die Klammer des Romans. Dazwischen hat Doderer aber eine Fülle von Schicksalen gespannt – vom Aufstieg des einfachen Buchhalters Chwostik zum eigentlichen Firmenchef bis zum einfachen Volk der Hausmeister und Prostituierten, der Salondamen und Museumswärter. Die Kunst des Erzählers ist es, die jeweiligen Leben in wenigen Szenen auszustellen und dabei die Leser auch noch bestens zu unterhalten. Doderer ist unzweifelhaft einer der humorvollsten Autoren, die die österreichische Literatur je hervorgebracht hat.

Das dunkle Zentrum des Romans aber bildet der Industriellensohn Donald Clayton. Er lernt mühelos, ist technisch begabt und kann alle an ihn gestellten Anforderungen zur Zufriedenheit erfüllen. Allerdings redet er schon als Kind kaum und als er sich dann eine Partnerin fürs Leben suchen sollte, versagt er natürlich kläglich. Doderer gelingt dabei eine der witzigsten Szenen der Literatur. Während sich die von ihm verehrte Monica in ihrem Schlafzimmer bereits nackt auszieht und Donald dies auch andeutet, glaubt dieser, sie wolle erst noch einen Brief schreiben und betrachtet eine halbe Stunde lang wortlos den anbrechenden Starkregen. Wenig später kommt Donald dann bei einem ähnlichen Setting fast ums Leben. Doderer hat das Inszenieren solcher Parallelen spürbar Spaß gemacht. Das Scheitern und die Katastrophe Donalds so kurz vor dem Ersten Weltkrieg hat möglicherweise auch noch als Beispiel für ein viel größeres kommunikatives Versagen Bedeutung. Die Qualität dieses Romans liegt eben auch darin, dass er viele Deutungen zulässt.

„Die Wasserfälle von Slunj“ können sicher als ein Appetitmacher zum Romanwerk Heimito von Doderers herhalten. Und sie sind – auch wenn Doderer die großen politischen Probleme der Zeit seltsam ausspart – zweifelsohne eine schillernde Darstellung der Wiener Gesellschaft vor dem Ende der Donaumonarchie. 


„Die Wasserfälle von Slunj“ von Heimito von Doderer, C.H.Beck Verlag

€ 24,90
ISBN: 978-3-406-69960-3

Buchtipp – Marco Missiroli, Treue

Mittelschicht in mittleren Jahren in Mailand


Marco Missirolis Roman „Treue“ (Wagenbach Verlag) über ein Paar auf der Suche nach seinen Bedürfnissen soll heuer noch auf Netzflix als Serie herauskommen.
Buchtipp von Helmut Schneider.


War da was, oder war da nix? Als der Literaturdozent Carlo seiner Studentin Sofia auf der Damentoilette zu nahekommt, wird das als Hilfeleistung nach einem Schwächeanfall erklärt. Seine Ehefrau Margherita – obwohl nur mäßig eifersüchtig – will sich diese Sofia zwar ansehen, nimmt die Sache aber auch nicht wirklich ernst. Zumal sie gerade in erotische Träumereien mit ihrem Physiotherapeuten Andrea schwelgt. Wir sind im Jahr 2009, also mitten in der Weltwirtschaftskrise, als sich der Immobilienmarkt in Mailand von der Krise unbeeindruckt zeigt und Margherita ist Maklerin. Sie sichert auch das Familieneinkommen, denn Carlo verdient als Dozent fast nichts und als Redakteur von Reiseprospekten nur mäßig. Trotzdem wollen sie ihre Traumwohnung kaufen – ein sonnendurchflutetes Appartement im letzten Stock ohne Lift. Im zweiten, 2018 spielenden Teil des Romans wird Margheritas Mutter Anna – die 5. Hauptperson – dann auf der Treppe zu diesem Appartement dann böse stürzen und sich einer Operation unterziehen müssen.

WELTERFOLG
Marco Missirolis Roman „Treue“ ist ein Welterfolg und wird Ende des Jahres in einer Serie-Adaption bei Netflix gestreamt. Man kann vermuten, dass das damit zusammenhängt, dass in diesem Buch das Personal und die Zielgruppe perfekt zusammenpasst. Die Mittelschicht in den westlichen Ländern in den mittleren Jahren samt ihren Sorgen und Sehnsüchten mit den obligaten Ehebrüchen als Katalysator. Carlo und Margherita sind nicht reich, Carlos Eltern aber wohlhabend, während Margheritas Mutter Anna Schneiderin war. Zähneknirschend lassen sie sich von den Eltern finanziell helfen, weil die Traumwohnung zu verlockend scheint. Sofia, die Studentin kehrt nach dem Ausrutscher mit Carlo, der eigentlich ja keiner war, nach Rimini zurück, wo sie mit ihrem verwitweten Vater ein Eisenwarengeschäft führt. Einzig Andrea passt nicht so recht ins Milieu, denn er hat ein dunkles Geheimnis. Er ist in der Szene, die natürlich illegale Hundekämpfe veranstaltet. Als er dann ein Hund, an dem er sein Herz verloren hat im Kampf getötet wird weicht er in die Boxkampfszene aus. Außerdem ist er schwul, was Margherita, die ihn dann doch einmal verführt, erst später erfährt.

SPANNUNG
Marco Missiroli, der auch für den Corriere della Siera schreibt, erzählt abwechselnd aus der Sicht seiner Protagonisten, die Übergänge sind meist fließend. Im Zentrum steht die alte Frage, ob man sich in einer Beziehung selbst treu bleiben kann, wenn man seine Bedürfnisse nicht auslebt. Manches erscheint klischeehaft, die Obsessionen Andreas wirken wie aus dem „Fight Club“ entlehnt. Aber dann wieder gelingt es Missiroli, Spannung und Anteilnahme herzustellen. Am besten ist ihm wohl die Figur der alte Anna gelungen, die einmal in ihrer Karriere als Schneiderin die Ehre hatte, ein zerrissenes Kleid von Yves Saint Laurent auf die Schnelle balltauglich zu machen. Und dann ist da noch im zweiten Teil Carlos und Margheritas Sohn Lorenzo, der die Welt mit seinen Kinderaugen betrachtet und von seiner Großmutter innbrünstig geliebt wird. Herzschmerz gibt es eben auch viel in dem Buch – ideal also für eine Netflix-Adaption.


Marco Missiroli: Treue
Aus dem Italienischen von Esther Hansen
Wagenbach Verlag
ISBN: 978-3-8031-3330-4
252 Seiten, € 23,70


Lust auf mehr Literatur? Hier entlang zum letzten Buchtipp.

Buchtipp – Reinhard Tötschinger, Rochade

Im Talk mit Jan Vermeer – Reinhard Tötschingers Fälscherroman „Rochade“


Als eines der berühmtesten Gemälde des Kunsthistorischen Museums – Jan Vermeers „Die Malkunst“, das man nach Amsterdam verliehen hatte, bei einem Anschlag ebendort beschädigt wird, muss natürlich der Chefrestaurator Clemens Hartman mit äußerster Sorgfalt vorgehen. Allein, der junge Kanzler der Republik – der mit den gegeelten Haaren – will das Gemälde so schnell wie möglich wieder vollkommen wiederhergestellt in seinen Amtsräumen haben. Und so greift Clemens gemeinsam mit seinem pfiffigen Assistenten Hubert zu einer List. Sie wollen „Die Malkunst“ mit der gebotenen Ruhe zu Hause fertig restaurieren und dem Kanzler eine schnell hergestellte Kopie unterjubeln.

Der Unternehmensberater und Psychotherapeut Reinhard Tötschinger hat schon Theaterstücke und Essays geschrieben, „Rochade“ ist nun sein Romandebüt. Eines, das sich sehen lassen kann. In die sehr witzig geschriebene Geschichte einer Fälschung flechtet er historische Erzählungen über die vielen Besitzer dieses berühmten Vermeers ein. Das Gemälde galt nämlich als eines von Hitlers Lieblingsbildern – als Österreich annektiert wurde, schaffte man es nach Deutschland, wo es zum Prunkstück des Führermuseums werden sollte. Und Tötschingers Erzähler Clemens Hartmann hatte einen Großvater, der als Kunstkurator zeitweise in Hitlers Diensten stand.

Die Spannung ergibt sich klarerweise dann dadurch, dass wir bis zum Ende nicht wissen, ob der Schwindel mit der Fälschung durchgehen wird. Zudem wird das Kunsthistorische gerade von einem Unternehmensberater heimgesucht, der von Kunst keine Ahnung hat, sich aber überall einmischt und bald schon Kündigungen verlangt. Alles muss schneller und billiger gemacht werden. Die üblichen Verwerfungen bei einer neoliberalen populistischen Regierung. Als Leser wünscht man sich, Tötschinger hätte auch die Nebenfiguren besser charakterisiert. Wir bekommen gerade noch den interessanten Assistenten Hubert zu fassen, die Tochter Hartmanns scheint allerdings nur angedeutet. Dafür bleibt aber das Vergnügen, Jan Vermeer himself kennenzulernen, denn Hartmann spricht bald schon mit dem Meister, der ja auch im Bild selbst – allerdings eben nur von hinten – zu sehen ist, und der dann auch antwortet. Vermeer will übrigens schleunigst wieder im Museum ausgestellt werden, wo er sich an den hübschen Touristinnen erfreuen kann…


Reinhard Tötschinger: Rochade, Picus Verlag
ISBN: 978-3-7117-2109-9
288 Seiten, € 22,–

Buchtipp – Carolina Setterwall, Betreff: Falls ich sterbe

Plötzlich Alleinerzieherin


Plötzlich Alleinerzieherin – „Betreff: Falls ich sterbe“ der Bestseller der Schwedin Carolina Setterwall. Ein Buchtipp von Helmut Schneider


Als Roman wäre der Welterfolg „Betreff: Falls ich sterbe“ der Musikredakteurin Carolina Setterwall eine Katastrophe. Zu viele Türen werden aufgemacht ohne dass man dadurch woanderns hinkäme. Die Ich-Erzählerin Caroline verliebt sich in ihren Traummann Aksel – man ist jung, feiert das Leben und dann will sie unbedingt ein Kind, wozu er nur widerwillig ja sagt. Als das Baby dann da ist, schickt er ihr eine Mail mit dem Betreff „Falls ich sterbe“, in der alle seine Daten und Passwörter aufgelistet sind. Wenig später stirbt er plötzlich im Schlaf. Sehr viel später erfährt sie von seiner Herzschwäche, aber es ist nicht klar, ob er davon wusste. Und ein anderes Mal macht sich Caroline – obwohl selbst ziemlich betrunken – Sorgen, weil er ein paar Biere zu schnell geschluckt hat. Wem fällt da nicht Tschechows Revolver ein, der hier allerdings keine Kugel abfeuern wird.

Was die fast 500 Seiten Selbstbespiegelung für manche aber sicher interessant macht sind die genaue Schilderung der Zeit vor und vor allem nach der Katastrophe. Anfang Dreißig mit Baby plötzlich ohne Geliebten und Vater dazustehen ist sicher herausfordernd. Dabei hat Caroline wirklich die besten Voraussetzungen, ihre Situation durchzustehen. Es sind immer Freunde und Familie für sie da – Caroline ist nie alleine, wenn sie es nicht will. Finanzielle Sorgen gibt es auch keine. Dazu die großzügigen schwedischen Sozialgesetze. Als Leser denkt man sich da oft, sie solle einmal an die vielen anderen Alleinerzieherinnen denken, die ganz andere Probleme zu meistern haben. Caroline fühlt das manchmal auch, wenn sie etwa im Urlaub zu dem sie eingeladen wurde neidisch auf Menschen ohne Kind blickt. Dabei war es doch ihr großer Wunsch, endlich Mutter zu werden. Und natürlich klebt sie an ihrem Sohn Ivan, der sich naturgemäß unverzüglich in einen Tyrannen entwickelt. So detailliert und genau wollen wir es bisweilen gar nicht wissen, wenn etwa jedes Wehwechchen detailiert beschrieben wird.

Immerhin gibt es so etwas wie ein Finale. Caroline verliebt sich in einen alleinerziehenden Vater mit einer etwas älteren Tochter. Wäre doch eine prima Familie. Doch dann stellt sich heraus, dass dieser Mann – fast niemandem sonst in dem Buch gönnt die Erzählerin einen Namen – möglichst schnell noch ein Kind von ihr will. Als sie wirklich schwanger wird, merkt sie, dass sie jetzt noch nicht dafür bereit ist. Nun ja, das Buch ist immerhin ein internationaler Bestseller.


„Betreff: Falls ich sterbe“ von Carolina Setterwall
480 Seiten, € 22,90
ISBN: 978-3-462-05260-2

Buchtipp – Maarten T Hart, Der Nachtstimmer

In der niederländischen Provinz


Maarten ’t Hart: Der Nachtstimmer – ein Roman über einen Orgelstimmer, der plötzlich Ziel von Attentaten wird. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.


Maarten ’t Hart, der im südholländischen Warmond bei Leiden lebt, ist einer der erfolgreichsten Schriftsteller Hollands. Mit seinen skurrilen Helden, die gegen ein durch Zufälle bestimmtes Schicksal ankämpfen, hat er sich eine treue Leserschaft erschrieben. In seinem neuen, bei Piper erschienenen Roman „Der Nachtstimmer“ geht es um den Orgelstimmer Gabriel Pottjewijd, der wegen einer lauten Fabrik in einem kleinen Nest an der südholländischen Meeresküste oft nur nachts arbeiten kann. Dabei hilft ihm ein Mädchen, das bei den Einheimischen als debil gilt, in Wirklichkeit aber nur eine leichte Form des Autismus aufweist. Lanna weigert sich schlicht, Niederländisch zu sprechen und kommuniziert mit ihrer brasilianischen Mutter – die Witwe eines Matrosen – nur auf Portugiesisch. Aber der Ort ist sowieso voller Skurrilitäten – der Wirt des einzigen Gasthofs, wo der Orgelstimmer wohnt, ist kauzig und trägt eine Brille ohne Gläser. Die Einheimischen diskutieren stundenlang über unbedeutende Bibelstellen und einer von ihnen sammelt sogar Bibelausgaben – sein Haus ist von oben bis unten voll damit.

Als sich Gabriel Pottjewijd dann mit der ebenso schönen wie spröden Brasilianerin und ihrer Tochter sehr, sehr langsam anfreundet, ist er bald schon nicht mehr seines Lebens sicher. Er wird ins Hafenbecken gestoßen und eines Nachts fallen in der Kirche, in der er arbeitet sogar Schüsse. Wahrscheinlich ist er nicht der einzige Verehrer der Schönen. Aber Maarten ’t Hart interessiert der Krimi, den er uns auftischt, nur bedingt. Dafür ist das Ganze ja auch viel zu langsam erzählt. Er liebt es, leicht ironische und humorvoll pointierte Sätze zu schreiben – wirklich Böses kündigt sich in anderer Sprache an. Und so ist „Der Nachtstimmer“ ein Buch für Leser, die sich an skurrilen Wendungen und der sehr calvinistisch-puritanischen Stimmung erfreuen können – sozusagen ein Krimi für Menschen, die keine Krimis mögen.


„Der Nachtstimmer“ von Maarten ’t Hart
320 Seiten
ISBN: 978-3-492-07043-0
€ 24,00