Essay
Dr. Österreich – Oder wie ich lernte, Erwin Ringel zu lieben
Seine äußere Erscheinung stand in scharfem Gegensatz zur Kraft seiner Rede. Eine schleichende Krankheit lähmte seinen Körper in den letzten Lebensjahren zunehmend. Umso unvergesslicher seine letzten öffentlichen Auftritte, etwa in der legendären ORF-Sendung „Club 2“, in denen der Seelenarzt der Nation vom Rollstuhl aus, mit hinter dicker Hornbrille blitzenden Augen seine scharfsichtigen Analysen zum Besten gab. Beide Formate, Erwin Ringel wie den Club 2, gibt es nicht mehr in diesem Land.
Text: Dominik Orieschnig
Wenn dabei seine Stimme immer höher wurde und gelegentlich hinüber kippte ins Überzogene, ins bewusst überspitzt Formulierte, dann verschwamm plötzlich der Seelenarzt mit dem Kabarettisten – jener zweiten Profession, die man nur in Österreich und hier vor allem in Wien nach allerhöchsten Maßstäben ausüben kann. Wie das? Darauf gab Ringel selbst mit raunender Stimme die Antwort, als er am 26. Oktober 1983, dem österreichischen Nationalfeiertag, seine berühmt-berüchtigte „Neue Rede über Österreich“ in einem Saal des Wiener Musikvereins hielt: „Ich will das Verdienst Freuds, dieses einmaligen Genies, wahrlich nicht schmälern, aber es war nicht schwer, in diesem Land die Neurose zu entdecken.“ Ringel und Qualtinger, das waren zwei Sprachpartituren ein und desselben Landes und seines schwierigen Verhältnisses zur Vergangenheit, das lange von den drei großen „S“ geprägt war: Schweigen, Suff und Suizid. Helmut Qualtinger verbriefte dies mit seiner Darstellung des österreichischen Mitläufers „Herrn Karl“, Erwin Ringel mittels Tausender psychiatrischer Befunde, hunderter Fachpublikationen und seiner an Anton Wildgans angelehnten, „neuen Rede“. In dieser benannte er auch gleich die heimliche Bundeshymne der Österreicher, nämlich das Lied aus der „Fledermaus“: „Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist.“ Ringels Kernthese hinter solchen psychokabarettistischen Ausritten: Die nicht aufgearbeitete, verschwiegene und verdrängte Beteiligung und Mitschuld so vieler Österreicher am Nationalsozialismus und seinen Verbrechen seien die Ursache weit verbreiteter psychosomatischer Krankheiten mit teils dramatischen Auswirkungen in unserer Gesellschaft.
Erwin Ringel, Psychiater, Neurologe und Suizidforscher, geboren am 27. April 1921, kleidete seine Analysen über Österreich und die Österreicher in Worte, die sich wie ein Schwarm weißer Tauben aus der Masse öffentlicher Gebrauchsprosa erhoben. Für mich als jungen Menschen der 80er- und 90er-Jahre hatten seine Worte etwas Seherhaftes, fast Heiliges. Die Welt, in der ich mich als Wiener Sängerknabe und späterer Schüler altehrwürdiger kirchlicher und staatlicher Bildungseinrichtungen bewegte, war ja das kulturelle und klerikale Österreich mit allen seinen Qualitäten – ein fantastisches Land des Donauwalzers und des Beamtenwesens, des Dressurritts und der Mozartkugel, in einer bedeutenden Tradition, die weit in die Vergangenheit zurückreicht. Es war aber auch eine Welt des pädagogischen Drills und der Tabuisierung von Bedürfnissen, des in patriarchalen Strukturen verordneten Silentiums. In diesem Altwiener Suppentopf aus Monarchie, Klassenkampf, Nazitum, Kitsch, Kirche und 68er-Bewegung schwamm mit Erwin Ringel plötzlich einer daher, der das alles bestens zu kennen schien, ohne aber irgendeine dieser Suppeneinlagen unkritisch zu schlucken. Als ich den Ringel zum ersten Mal im Fernsehen sah, vertraute ich ihm sofort. Der ging ans Eingemachte, sprach schonungslos zur Sache, hatte offensichtlich als Österreicher schon genug andere Österreicher auf der Couch gehabt.
Als er 1994 verstarb, verlor das Land einen seiner glaubwürdigsten Mahner und Humanisten. Der kürzlich verstorbene Hugo Portisch hat uns die Oberflächenkarte Österreichs erklärt, Erwin Ringel das unterirdische Keller- und Kanalsystem des Landes. Er war ein besonderer Wissensträger, ein moderner Schamane, ein Orakel, das wissenschaftliche Evidenz mit therapeutischem Zuspruch und moralischem Anspruch verband. Der Augur Ringel las nicht im Vogelflug die Zukunft Österreichs, sondern in den nicht bewältigten Gefühlen jener Tausenden von Patienten, denen er als Seelenarzt zu helfen versuchte. Er hat in individuelle Vergangenheiten geblickt und gesehen, wie sehr der geglückte oder missglückte Umgang mit persönlichen Tragödien das Schicksal vieler anderer mitbestimmen kann. Er, der selbst eine äußerst liebevolle Kindheit genoss, erlebte früh die Verführbarkeit einer aus so vielen Unglücklichen bestehenden Gesellschaft: 1939 als Achtzehnjähriger für einige Wochen von der Gestapo in Haft genommen, weil er bei einer antinationalsozialistischen Großkundgebung am Wiener Stephansplatz als Pfarrjugendhelfer mitgewirkt hatte, stand sein Medizinstudium bereits im Schatten von Krieg und Wehrmachtsdienst.
Als Ringel in den letzten zwei Kriegsjahren im Reservelazarett im Rudolfspital ärztlich tätig war, betreute er dort 1945 mehrere Wochen lang die von der österreichischen Schauspielerin Dorothea Neff über vier Jahre vor den Nazis versteckt gehaltene Jüdin Lilli Wolff. Ringel wohnte im selben Haus wie Neff und war von ihr eingeweiht worden. Es war zugleich eine Einweihung in die Abgründigkeit der Österreicher und der Beginn von Ringels lebenslanger ärztlicher Obsession: Die Freilegung und Durchtrennung des gefährlichen roten Fadens, der die Neurosen von Individuen mit dem emotionalen Leben von Nationen verbindet. Skandalös für viele seine spätere Bezeichnung Kaiser Franz Josephs I. als den „Totengräber Österreichs“ und des Ersten Weltkriegs als Ergebnis einer in diesem Monarchen sich vollziehenden „lebenslangen neurotischen Selbstvernichtung auf allen Ebenen“. Diese Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts sah Ringel fortgesetzt im „kleinen, unbekannten Gefreiten“ aus Braunau am Inn, „von allen verkannt und verstoßen, das ideale Identifikationsobjekt für den gedemütigten und sich getreten fühlenden Österreicher“. Hitlers menschliche Deformation im Elternhaus und später in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs musste laut Ringel gerade in einem Österreich so vieler ähnlich Beschädigter auf fruchtbaren Boden fallen und schließlich zur Nemesis Europas und der halben Welt werden. Geleitet von dieser Einsicht in die Wechselwirkung individueller Todessehnsucht und kollektiver Selbstvernichtung baute Erwin Ringel 1948 das weltweit erste Suizidpräventionszentrum in Wien auf, ursprünglich im Rahmen der Wiener Caritas. 1975 wurde daraus das von der Kirche unabhängige „Kriseninterventionszentrum“, das bis heute existiert. Nachdem er über 700 gerettete Selbstmordkandidaten untersucht hatte, beschrieb Ringel 1953 das „Präsuizidale Syndrom“, bis heute ein Meilenstein in der Selbstmordforschung. In den USA nannte man ihn dafür liebevoll „Mr. Suicide“.
Mit der Suizidverhütung war der Seelenarzt der Nation unweigerlich bei der Psychosomatik angekommen: Denn was kränkt, macht nicht nur krank (Max Herz), sondern kann unbehandelt auch zum Selbstmord führen. Unter Überwindung schwerster Widerstände gründete Ringel 1954 in Wien die erste psychosomatische Station in Österreich. Öffentlich kritisierte er die Verweigerung der Österreicher, sich ihrer Vergangenheit zu stellen. „Die österreichische Seele“, sein berühmtestes Buch und Kompendium seiner zehn Reden zur Lage der Nation, ist zum allgemein verwendeten Begriff geworden und gehört zum Besten, was je über dieses Land geschrieben wurde. Es war seine Kampfschrift für ein gesünderes, weil ehrlicheres Österreich. 1984 erschienen, enthielt sie Prophetisches: 1986 erschütterte die Affäre Waldheim das Land und der Patient Österreich begann langsam zu verstehen, dass er mit seinem sorgfältig gepflegten Narrativ, bloß ein Opfer Hitlers gewesen zu sein, nicht weitermachen konnte. Etwas war faul im Staate Österreich.
In diesen Tagen jährt sich Erwin Ringels Geburtstag zum hundertsten Mal. Wird sein Vermächtnis noch gebraucht? Als Ringel „Die österreichische Seele“ schrieb, war der Suizid in Österreich gerade dabei, mit ca. 2.200 Personen pro Jahr seinen Höchststand seit dem Zweiten Weltkrieg zu erreichen. Heute sterben hierzulande jährlich „nur“ etwa 1.200 bis 1.300 Menschen durch eigene Hand. Sind wir etwa auf dem Weg zur psychisch gesunden Gesellschaft? Als Erwin Ringel in seiner „Rede über Österreich“ beklagte, dass wir Österreicher „nirgendwo gelernt haben, mit unseren Gefühlen zurechtzukommen“ und dass wir mit unseren unbewältigten und krankmachenden Emotionen alleingelassen werden, gab es für das von ihm diagnostizierte Heer psychosomatisch Kranker in Wien ganze 16 Kranken- hausbetten. Heute gibt es einen „Psychosomatischen Versorgungsplan Wien 2030“, der eine flächendeckende medizinische Versorgung nicht nur im stationären, sondern auch im ambulanten Bereich zum erklärten Ziel hat. Seit Erwin Ringel hat ein Kulturwandel dafür gesorgt, dass heute mehr Menschen als früher psychotherapeutische oder psychiatrische Hilfe in Anspruch nehmen. Die Zahl psychischer Diagnosen ist laut den Abrechnungsdaten der Krankenkassen gestiegen. Das bedeutet nicht notwendigerweise, dass es mehr psychische Erkrankungen gibt als früher. Vieles war immer schon da, aber es wurde in unserer Gesellschaft tabuisiert. Doch es gibt auch Neues unter der Sonne: Eine ganze Generation, die von Google, Facebook und Co. geprägt wird, verfügt über nie da gewesene Möglichkeiten des sozialen Austauschs, ist aber auch den Gefahren noch nie da gewesener kollektiver Beeinflussung und Manipulation ausgesetzt. In einem neuen virtuellen Biedermeier, in dem jeder Smartphone-User zu seinem eigenen Metternich und zu dem aller anderen wird, verschwimmen Banales und Sakrales. Das Selfie mit Cappuccino-Tasse am Strand von Jesolo wird zum heiligen Gral, den es ebenso zu sharen oder zu liken gilt wie die schwer magersüchtige jugendliche Influencerin, der ein Millionenpublikum in ihren wöchentlichen Diät-Blogs online beim Sterben zusehen kann. Erwin Ringel hätte solchen Zeitphänomenen gewiss einige markante Sager entgegenzusetzen gewusst.
Über manches aber, vor allem über die stromlinienförmige Belanglosigkeit der heutigen politischen (und leider auch kirchlichen) Sprache, wäre vermutlich auch er ratlos. Ringels Ziel war es gewesen, die Sprache des Österreichers aus dem Dienst der Verdrängung herauszuholen. Doch wie soll man Sprache aus der Belanglosigkeit holen? Noch nie in der Geschichte der Menschheit konnte so einfach getextet, gemailt, getwittert, ge-SMS-t und ge-WhatsApp-t werden wie heute. Statt an präsuizidaler Sprachlosigkeit zu leiden, quatschen wir uns täglich zu Tode. Möglicherweise würde der Opernfreund und Opernexperte Dr. Ringel dem offiziellen Österreich heute statt einer psychoanalytischen Rede-Kur ein, wie es in Mozarts „Zauberflöte“ heißt, „heilsames Schweigen“ verschreiben. Danach aber bräuchte es dringend eine aktualisierte neue Rede über Österreich. Ein analytisches Update, das uns schonungslos ehrlich, aber respektvoll wie Ringel zeigt, wo wir heute wirklich stehen. Doch wer wird diese Rede schreiben? Und vor allem: Wer wird sie im elektronischen Stimmengewirr der Zeit noch hören?
Dominik Orieschnig geboren 1971 in Leoben, ist Bischöflicher Sekretär und Pressesprecher der Diözese Eisenstadt. Er ist Absolvent der Diplomatischen Akademie Wien und Träger des Kardinal-Innitzer-Förderpreises für wissenschaftliche Leistungen und war u. a. als Redakteur des ORF und als Rechtsreferent der Österreichischen Bischofskonferenz tätig. Orieschnig ist Herausgeber mehrerer Bücher kulturwissenschaftlichen und historischen Inhalts.