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Politsatire – Christoph Peters: Der Sandkasten

Kurt Siebenstädter ist der beliebteste Morgeninterviewer und Moderator in einer öffentlich-rechtlichen Radiosendung in Berlin. Er stellt zur Aufstehzeit respektlos Fragen sowohl an Minister als auch an Oppositionspolitiker, Wissenschaftler und Skeptiker, Imame und Geistliche, was ihm in den Jahren den Ruf der Unbestechlichkeit einbrachte. Von den Leitartiklern nicht für ernst genommen, gefällt er sich in seiner Rolle als kritischer Hinterfrager. Glücklich ist dieser Skeptiker in Christoph Peters Politroman „Der Sandkasten“ allerdings schon lange nicht mehr. Seine jüngere Frau, die als Lehrerin arbeitet, nimmt er nicht für voll, seine pubertierende Tochter entgleitet ihm – sie will auf Schüleraustausch in die USA, all die Dinge, die er sich vorgenommen hat, ihr zu zeigen und mit ihr zu machen, sind niemals geschehen.

Und jetzt deutet ihm ausgerechnet eine Politikerin der SPD, die er noch dazu sexuell anziehend findet, in einem vertraulichen Gespräch mit, dass an seinem Stuhl gesägt wird. In Zeiten der Pandemie gehören sich gewisse Fragen nicht. Besonders nicht, wenn es um die Regierung geht, die gerade jetzt in Pandemiezeiten alle Macht unhinterfragt in Händen hält. Das erfährt er wenig später auch von seinem Chefredakteur. Denn dieser Roman spielt nur in einem sehr kleinen Zeitfenster – Siebenstädter kommt abends nach Hause, geht wieder zu Terminen und moderiert am nächsten Morgen seine letzte Sendung. Offenbar achtet er nämlich beim Überqueren einer Straße fatalerweise nicht auf den Verkehr.

Wobei in „Der Sandkasten“ selbst nur oberflächlichen Kennern der deutschen Politik sofort bei den sehr detailfreudig gezeichneten Politikern reale Akteure in den Sinn kommen. Da ist etwa der manisch-vorsichtige Gesundheitssprecher der SPD, ein „hypochondrischer Zwangsneurotiker“ wie es im Buch heißt, oder der aalglatte Liberalenchef und der karrieregeile, stumpf-rechte aktuelle Gesundheitsminister der Union. Man muss das aber alles gar nicht wissen oder beachten – ähnliche Typen gab es ja überall.

Interessanter ist sowieso wie der Autor die schnell vorgenommenen Transformationen in den Medien und der Politik beschreibt. Christoph Peters hat etwa sehr genau beobachtet, wie uniform sich die Mehrzahl der Medien in der Pandemie verhalten haben und wie sie dabei eine Menge an Glaubwürdigkeit einbüßten. Wobei sich Peters dabei keineswegs verbissen an die Materie heranmacht – seine Lust an pointierten Beschreibungen offenkundig. Man erhält in diesem Roman dann aber doch eine ziemlich echt scheinende und noch dazu kurzweilige Darstellung der Mechanismen in der heutiger Politik und in den Medienunternehmen.


Als Geflüchtete in Ost-Berlin aufwachsen – Aroa Moreno Durán: Die Tochter des Kommunisten. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.

Als Geflüchtete in Ost-Berlin aufwachsen – Aroa Moreno Durán: Die Tochter des Kommunisten

Als der Bürgerkrieg in Spanien verloren ging, flüchteten viele Republikaner in die Sowjetunion. Einige zog es nach dem Weltkrieg dann in die neugegründete DDR – zurück ins Franco-Regime konnten sie ja nicht. In ihrem literarischen Debüt erzählt Aroa Moreno Durán eine Familiengeschichte aus der Sicht des Mädchens Katia, das in den 1950er-Jahren in Ostberlin im Schatten des Eisernen Vorhangs aufwächst. Mit den Eltern spricht sie zwar Spanisch, aber sonst ist sie natürlich eine ganz normale junge deutsche Frau, die sich nach dem Bau der Mauer freilich zunehmend eingesperrt fühlt. Obwohl die Eltern glühende Kommunisten sind und sie die Angebote der Bürokratendiktatur, in die sich die DDR immer mehr entwickelt – wie das bisschen Jugendkultur und Weltsolidarität – gerne annimmt, bleibt dieses Gefühl von Unfreiheit bestehen. Zumal Katia einen jungen Mann aus dem Westen kennenlernt, der ihr anbietet, sie nach West-Deutschland mitzunehmen. Mit falschen Papieren gelingt die Flucht über die Tschechoslowakei und Österreich, aber die Eltern und die jüngere Schwester bleiben ahnungslos zurück. Es wäre – wie sich später auch bestätigt – zu gefährlich gewesen, sie einzuweihen.

Damit beginnt Katias schmerzliche Integration in einer Kleinstadt in Süddeutschland. Ihr sehr familiär eingestellter Mann sieht sie als Hausfrau, ihr in Ostberlin begonnenes Studium zählt hier nichts. Sie bekommt Kinder und vermisst schmerzlich ihre Eltern, ihre Schwester und ihre Freundin. Jeglicher Kontakt ist unmöglich.

Aroa Moreno Durán kann Katias Schmerz und schließlich das Scheitern von Katias Ehe sehr subtil und doch nachvollziehbar darstellen. Heimat scheint letztlich immer dort zu sein, wo man aufwächst – auch wenn das Leben damals alles andere als ideal war. Nach der Wende sucht Katia ihre Familie und erfährt – im Nachhinein nicht wirklich überrascht – dass ihr inzwischen verstorbener Vater ein Stasi-Spitzel in der spanischen Community war. Ein Roman, der bewegt und der zeigt, dass sich Menschen nicht so einfach von einer Kultur in eine andere transferieren lassen. Und das selbst wenn sprachliche Barrieren nicht vorhanden sind.

Als Geflüchtete in Ost-Berlin aufwachsen – Aroa Moreno Durán: Die Tochter des Kommunisten. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.

Aroa Moreno Durán: Die Tochter des Kommunisten
Aus dem Spanischen von Marianne Gareis
btb
176 Seiten
€ 22,70

Identität und „Rasse“ entkommen wir nicht – Anna Kim: Geschichte eines Kindes. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.

Identität und „Rasse“ entkommen wir nicht – Anna Kim: Geschichte eines Kindes

Eigentlich sind es 2 Kinder, um die es in diesem Roman geht und nicht – wie der Titel ankündigt – um eines. Denn die Erzählerin, eine Autorin aus Wien, berichtet nicht nur von einem Adoptionsfall in Wisconsin Anfang der 50er-Jahre, sondern in der Folge auch von der eigenen Kindheit als Tochter einer koreanischen Mutter und eines deutschen Vaters. In beiden Fällen geht es um Identität und tatsächlich auch um „Rasse“.

Das amerikanische Problem stellt sich folgendermaßen dar: Eine aus Österreich stammende Sozialarbeiterin setzt alle Hebel in Bewegung um den Vater eines gleich bei der Geburt von der Mutter zur Adoption freigegebenen Kindes zu finden. Denn der Bub hat „negroide Züge“ und eine dunkle Hautfarbe. Nun gab es in Wisconsin – das ist der US-Bundesstaat nördlich von Chicago – aber fast keine Schwarzen. Und die Mutter kann oder will nicht sagen, wer der Vater gewesen kein könnte. Man müsste annehmen, dass das auch völlig egal ist, zumal sich schnell eine – weiße – Familie findet, die das Neugeborene aufnehmen will. Doch die Sozialarbeiterin geht mit geradezu biblischem Eifer an die Sache heran und verfolgt die Kindesmutter so aufdringlich, dass sie bald schon Job und Untermietzimmer verliert. Ihr Argument: Das dunkelhäutige Kind würde in der weißen Gesellschaft von Wisconsin Schaden nehmen, es solle unbedingt beim mutmaßlich schwarzen Vater aufwachsen. Anna Kim zitiert seitenweise Berichte des Sozialamtes, die in ihrer Diktion an die Rassengesetze der Nazis erinnern. Schließlich wird die Sozialarbeiterin von ihren Vorgesetzten eingebremst und entlassen.

Dieser Fall auf den die Erzählerin während ihres Stipendiums in Wisconsin durch Zufall über ihre Zimmerwirtin – die Frau des damals adoptierten Buben – stößt, erinnert diese aber auch an die Probleme ihrer eigenen Kindheit, an das Aufwachsen als – asiatisch ausschauendes aber vollkommen deutsch/österreichisch sozialisiertes Kind. Auch in den USA wird sie natürlich immer über ihre Herkunft befragt. Und ihre Zimmerwirtin erklärt ihr immer wieder, wie wichtig die Herkunft sei. Ihr Mann – der einzige Afroamerikaner im Städtchen – habe sehr darunter gelitten, als einziges schwarzes Kind im Kindergarten sitzen zu müssen. Dazu kommt, dass die Eltern der Erzählerin eine schwierige Beziehung hatten und sie sich gegen die Mutter gewandt hatte, die dann wieder nach Südkorea gezogen ist.

Kim verknüpft geschickt die beiden Fälle. Die Erzählerin findet nämlich noch heraus, dass die Tochter jener Krankenschwester in Wisconsin in Wien Hietzing wohnt und auch noch gerne über ihre Mutter Auskunft gibt. Am Ende rätselt man als Leser freilich unweigerlich über den Anteil von Realität in diesem Roman, denn Anna Kim ist eben auch Tochter einer südkoreanischen Mutter und eines deutschen Vaters und ist in Österreich aufgewachsen. Der wunderbar sachlich-reflektierte Stil der Autorin lädt auf jeden Fall zum Nachdenken über Identität und das Aufwachsen als Vertreter einer Minderheit in einer Mehrheitsgesellschaft ein.


Eine junge Pastorin, der Gott abhanden kommt – das wäre eigentlich ein Thema, das mich als nicht religiösen Menschen überhaupt nicht interessiert. Aber das ist eben die Kunst eines guten Autors und in diesem Fall einer guten Autorin, etwas Uninteressantes so zu erzählen, dass es von der ersten Zeile an packt.

Eine junge Pastorin in Köln – Tamar Noort: Die Ewigkeit ist ein guter Ort

Eine junge Pastorin, der Gott abhanden kommt (da muss ich unwillkürlich an Erich Kästners Gedicht „Sachliche Romanze“ denken: „Als sie einander acht Jahre kannten/ (und man darf sagen: sie kannten sich gut), / kam ihre Liebe plötzlich abhanden. / Wie andern Leuten ein Stock oder Hut.“) – das wäre eigentlich ein Thema, das mich als nicht religiösen Menschen überhaupt nicht interessiert. Aber das ist eben die Kunst eines guten Autors und in diesem Fall einer guten Autorin, etwas Uninteressantes so zu erzählen, dass es von der ersten Zeile an packt.

Die frisch ausgebildete Pastorin Elke passiert ihr Gottesverlust auch just im Kölner Karneval (den sie nicht versteht und hasst), als sie einer sehr alten Sterbenden das letzte Gebet sprechen muss und nicht kann. Sie fährt daraufhin zu ihrem Vater in die Provinz, wo sie aufgewachsen ist und wo ihr Vater nicht nur schon lange Pastor ist, sondern auch hofft, dass seine Tochter in seine Fußstapfen tritt – in der kleinen Gemeinde, die sie gut kennt. Mit dem Ort verbindet sie aber nicht nur gute Erinnerungen. Ihr Bruder ist dort als Jugendlicher ertrunken – sie war bei der angeheiterten Bootspartie dabei und hegt bis heute Schuldgefühle.

Aber statt in Diskussionen mit dem immer schwächer werdende Vater doch noch Gott zu finden, stürzt sich Elke sozusagen voll ins Leben – sie, die in Köln eigentlich einen Freund hat, trifft sich mit einem Jahrmarktsakrobaten – einen Motorradfahrer, besucht eine Freundin von früher und kümmert sich um den Papagei ihrer verstorbenen Tante. Es ist viel los in diesem Buch und es ist eindeutig diesseitig. Aber natürlich wird auch viel über das Leben und die verschiedenen Lebensentwürfe nachgedacht. Wer tatsächlich Gott sucht, wird freilich hier keine Antworten finden. Denn wie schrieb schon Ludwig Feuerbach: „Gott ist eine leere Tafel, auf der nichts weiter steht, als was du selbst darauf geschrieben.“


Der Mann, der den perfekten Roman schrieb – Charles J. Shields, „Der Mann, der den perfekten Roman schrieb“

Der Mann, der den perfekten Roman schrieb – Charles J. Shields, „Der Mann, der den perfekten Roman schrieb“

Der Mann, der den perfekten Roman schrieb – zum 100. Geburtstag von John Williams am 29. August

Als der US-Amerikaner John Williams 1994 mit 71 Jahren starb, gab es nur wenige Nachrufe und seine Romane waren kaum erhältlich. Heute gilt er als Musterbeispiel dafür, dass sich literarische Qualität doch durchsetzt. Nur leider nicht immer zu Lebzeiten der Verfasser. John Williams Leben bestand aus vielen kleinen Erfolgen und ebenso vielen Niederlagen. Als bitterarmer Texasjunge aus bäuerlichem Umfeld wurde er immerhin – nach Jahren als Radioreporter und dem Kriegsdienst als Funker auf Militärtransportflugzeugen am Himalaja – Professor für englische Literatur und mit seinem Briefroman „Augustus“ (halber) Gewinner des National Book Awards. Gekauft haben seine wenigen Romane nicht viele Zeitgenossen. Erst über eine Neuauflage seines College-Romans „Stoner“ in der Classic-Reihe der „New York Review of Books“ wurde er nach 2000 wieder bekannter. Allerdings stellte sich der große Erfolg auch wieder erst über Europa ein. Die französische Schriftstellerin Anna Gavalda war von „Stoner“ so begeistert, dass sie ihn übersetzte. Es folgten Ausgaben in Niederländisch, Spanisch, Italienisch und Deutsch. John Williams, der nur 4 Romane veröffentlicht hat – neben den beiden erwähnten auch den Roman „Butcher’s Crossing“ über eine Büffeljagd im 19. Jahrhundert und einen schwer lesbaren Erstling – wurde zum Kultautor.

Charles J. Shields hat Williams Biografie den Titel „Der Mann, der den perfekten Roman schrieb“ gegeben, denn „Stoner“ wurde 2007 in der „New York Times“ tatsächlich als „perfekter Roman“ beschrieben. Dabei ist „Stoner“ in der Nacherzählung wahrscheinlich einer der langweiligsten Romane überhaupt, denn es passiert nichts Spektakuläres. Aber es ist die hohe Kunst Williams, die aus einem durchschnittlichen Leben als Englischprofessor an einer unbedeutenden Universität eine Parabel für den Wert und die Würde eines Menschenlebens gemacht zu haben. In dem Roman – aber auch im Briefroman „Augustus“ – sind Sätze zu lesen, die so gut sind, dass man weinen könnte. In der klugen und ausführlichen Bio, die trotzdem nicht allzu akademisch daherkommt, wird Williams Leben mit dem seiner Romane gegengerechnet. Außerdem erfährt man viel über das Leben von Schriftstellern in den USA nach dem 2. Weltkrieg. Man war viel unter sich, traf sich etwa bei Sommerschreibkursen, wo man gut verdiente, die Alkoholikerquote war geradezu selbstzerstörerisch hoch, viele schwankten zwischen einem sichereren Leben als Lehrer und dem Druck als freier Autor mit der Sorge ständig Kurzgeschichten für Zeitschriften liefern zu müssen.  

Williams hatte sich schon früh damit abgefunden, seinen Lebensunterhalt als Hochschullehrer und Herausgeber einer Universitätszeitschrift zu verdienen, während es sein Schwager, der ebenfalls schrieb, es mit dem billigen Leben in Mexiko – dort kam man mit 100 Dollar im Monat gut über die Runden – versuchte. Alkoholiker und Kettenraucher waren sie natürlich beide. Wichtig bei Williams auch sein Provinzstatus, denn die sogenannte Ostküste sah hochmütig über alles hinweg, was nicht in New York oder Boston geschah – und Williams, geboren in Texas, war die meiste Zeit seines Lebens Professor in Denver, Colorado. Gesundheitlich angeschlagen kaufte er sich ein Haus in Key West in Florida als dort noch nicht gar so viele Touristen waren – allerdings hat ihm das schwüle Klima im Sommer dann doch nicht ganz behagt.

Der 100. Geburtstag sollte zum Anlass genommen werden, die 3 Romane Williams – so noch nicht geschehen – zu lesen. Ich muss gestehen, dass ich alle neuen Leser um diese Premiere beneide.


Charles Shields: „Der Mann, der den perfekten Roman schrieb“
Stoner‘ und das Leben des John Williams
Biografie
Aus dem amerikanischen Englisch von Jochen Stremmel
dtv
384 Seiten
26 €

Der Erfinder des Wutbürgers – Heimito von Doderer, Die Merowinger oder die totale Familie

Als 1962 die „Merowinger“ erschienen, war Heimito von Doderer der bekannteste lebende österreichische Schriftsteller, 1957 sogar eines SPIEGEL-Covers für wichtig befunden. Dabei war der Dichter bis zu seinem 50. Lebensjahr finanziell von seiner Mutter abhängig und erst 1951 mit der Veröffentlichung der „Strudlhofstiege“ einem größeren Leserkreis bekannt geworden.

„Die Merowinger oder Die totale Familie“ ist wahrscheinlich sein ungewöhnlichster Roman, für Doderer-Anfänger eignet er sich sicher nicht. Denn allzu oft scheint es, als ob Doderers Leidenschaften – für Geschichte, für Grobiane und für merkwürdige Zweierbeziehungen – mit ihm durchgegangen wären. Am Ende bekennt „Doctor Döblinger“, der sich im Roman als Verfasser desselben offenbart, einem Bekannten, der meint, das alles sei ein „Mordsblödsinn“: „Ja freilich, freilich Blödsinn!…Wie denn anders?! Und was denn sonst als Blödsinn?! Alles Unsinn –“

Vielleicht liest man die „Merowinger“ also weniger als Roman, denn als Spaß, den sich der Dichter einmal gönnen wollte. Und einige Szenen sind auch wirklich witzig und köstlich zu lesen, während er an anderen Stellen seine Leserschaft mit schlecht gereimten Versen und seitenweise Beschreibungen von Schlachten, Scharmützeln und Erbstreitigkeiten auf die Probe stellt.

Im Zentrum steht Childerich von Bartenbruch, ein mittelfränkischer Baron, der durch eine konsequente Heiratspolitik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – er heiratet sowohl die Witwe seines Vaters als auch die seines Großvaters – sehr reich wird, wobei er sich als Ahnherr des berühmten Geschlechts der Merowinger sieht. Dabei ist der kleine Mann, von Doderer als hässlich wie ein „trauriges Beutelchen“ beschrieben, nur in einer Sache top, nämlich in seiner Zeugungskraft. Nach dem Erlangen des Erbes setzt Childerich alles daran, eine totale Familie zu gründen. Childerich schafft es mittels Heirat und Adoptionen, sein eigener Vater und Großvater zu werden, sondern er wird auch, nach Abschluß der vierten Ehe, sein eigener Schwiegervater und sein eigener Schwiegersohn, der Vater seiner Geschwister, der Großvater seiner Kinder und der Onkel seiner Enkel.

Aber der erfolgreiche Erbe leidet leider an geradezu chronischen Wutanfällen, die er bei dem Psychiater Dr. Horn gegen üppiges Honorar zu kurieren gedenkt. Die gleich am Beginn des Buches beschriebene Therapie bei dem eine Nasenzange, lederbezogene Holzhämmer und ein Wutmarsch eine Rolle spielen und die im Zerschlagen von Porzellan endet, gehört zu den gelungensten Szenen des Romans. Der geschäftstüchtige Psychiater erfindet später noch ein Wuthäuschen, das es ihm ermöglichen soll, ohne viel Aufwand gleich mehrere Patienten zu empfangen.

Wer so viele Verwandte vor den Kopf stößt wie Childerich bekommt natürlich auch viele Feinde, die ihn am Ende mithilfe eines ausgerechnet Pippin – die historischen Merowinger wurden ja von den Karolinger unter Pippin entmachtet – heißenden Majordomus am Ende seiner Manneskraft berauben. Das alles wird, wie beschrieben, sehr barock erzählt. Interessant, dass ja seit einigen Jahren der sogenannte Wutbürger zum Phänomen wurde. Nun solche hat Doderer – wie man sieht – schon Anfang der 60er-Jahre beschrieben, auch wenn Childerich eigentlich ein Wutadeliger ist. Doch das Geschäft mit der Wut betreiben im Roman nicht nur Psychiater, auch andere Hausbewohner von Dr. Horn kommen auf die Idee, Wutbehandlungen anzubieten und sogar ein hoher Beamter zieht eine lukrative Nebenbeschäftigung auf, indem er Wutleidende Lederbeutel stechen lässt. Wutbürger gab es also längst vor der Erfindung der sozialen Medien wie wir bei Doderer lernen.

Am 21. September wird Chris Pichler im Café Landtmann beim D-Day für Doderer (19 Uhr) auch eine Szene aus den „Merowingern“ lesen.

Warten auf die Tochter – Keviny Barry, Nachtfähre nach Tanger

Warten auf die Tochter – Kevin Barry, Nachtfähre nach Tanger

Die besten Verbrechergeschichten sind eigentlich Familiengeschichten. Man nehme etwa nur die legendäre TV-Serie „Die Sopranos“, in der wir eine typische italienischstämmige Durchschnittsfamilie in New Jersey erleben, die sich nur durch den speziellen Job Tonys von anderen Familien unterscheidet.

In „Nachtfähre nach Tanger“ erleben wir zwei alt gewordene irische Drogenschmuggler und Dealer Maurice und Charles in einem heruntergekommenen spanischen Küstenort, wo sie auf die Herumtreiberin Dilly warten – die Tochter einer der beiden Gauner. Warum das nicht so ganz sicher ist, wer der Vater ist, wird von Kevin Barry auf 200 Seiten dicht und poetisch erzählt. Die beiden erinnern sich an ihre Anfangszeit als Dealer, an die gemeinsame Kindheit, ihre Erfolge und Niederlage und ihre Liebe zu Cynthia. Maurice, der mit Cynthia verheiratet war, hatte seinen Freund ein Messer ins Knie gerammt als er erfuhr, dass Charles ihr Liebhaber war. Aber das ist längst verziehen und Cynthia einem Krebsleiden erlegen. Dazwischen liegen Jahre in Drogenabhängigkeit und in dem verzweifelten Versuch, sich eine bürgerliche Existenz als Hausvermieter aufzubauen. Ob sie die erhoffte Dilly tatsächlich treffen, sei hier nicht verraten – ein bisschen Spannung muss sein.

Der in Limerick geborene Kevin Barry beschreibt abwechselnd das Warten der alten Herren und ihre Lebensgeschichte. Seine Sprache ist dabei – wie die Übersetzung von Thomas Überhoff gut wiedergibt, hart und direkt. Der Autor macht da keine Gefangenen, schließlich stecken wir im Verbrechermilieu fest – Gefängnisaufenthalte inklusive. Ein exquisites, literarisches Lesevergnügen.


Warten auf die Tochter – Keviny Barry, Nachtfähre nach Tanger

Kevin Barry: Nachtfähre nach Tanger
Aus dem Englischen von Thomas Überhoff
Rowohlt Verlag
206 Seiten
€ 22,70

Wie in den 80er-Jahren alles begann – Jörg Fausers Romanfragment „Die Tournee“ aus dem Nachlass. Ein Buchtipp Von Helmut Schneider.

Wie in den 80er-Jahren alles begann – Jörg Fauser, Die Tournee

Wie in den 80er-Jahren alles begann – Jörg Fausers Romanfragment „Die Tournee“ aus dem Nachlass. Ein Buchtipp Von Helmut Schneider.

So richtig bekannt wurde Jörg Fauser leider erst nach seinem tragischen Tod 1987 mit 43 Jahren als Fußgänger nachts auf einer Münchner Autobahn. Ein großes Publikum erreichte er aber nie. Legendär wurde sein Auftritt beim Bachmann-Wettlesen in Klagenfurt 1984, wo die damals schon alten Großkritiker Marcel Reich-Ranicki und Walter Jens über ihn herzogen, während er – völlig stoisch bleibend die Kritik an sich abprallen ließ.

Dabei verfügte der 1944 geborene Schriftsteller und Journalist von Beginn an über einen literarischen Stil, der auch jetzt noch Bewunderung hervorruft. Mit scheinbar leichter Hand schaffte er Stimmungen und Personen, seine Dialoge lesen sich nie gekünstelt und in seinen Texten entsteht unmittelbar die Atmosphäre der geschilderten Zeit. Der Diogenes Verlag bringt seit einigen Jahren regelmäßig seine Werke wie die Romane „Rohstoff“, „Der Schneemann“ oder seine Reportagen – „Der Klub, in dem wir alle spielen“ – heraus.

Jetzt erschien mit „Die Tournee“ das letzte Werk, an dem Fauser bis zu seinem Tod arbeitete. Fertig wurde nur der erste Teil von insgesamt drei Teilen des Romans, in dem es um eine alternde Diva, die aus Geldmangel in einem Boulevardstück durch die deutsche Provinz ziehen muss, einen geplatzten Drogendeal in der Münchner Kunst-Szene, einen zwielichtigen Gauner, der aus Asien nach Deutschland flüchten musste und einen alten SPD-Funktionär mit Osterfahrung, der das Ende seiner nie stattgefundenen Karriere erleben muss, geht. Warum man das lesen sollte, obwohl die Geschichte abbricht noch ehe sie richtig angefangen hat? Weil Fauser mit diesem Fragment sozusagen die Stimmung der 80er-Jahre – die Schikimicki-Tage in München und den nicht nur politischen Stillstand in Berlin vor der Wende eingefangen hat. Was sind das auch für Figuren, die Fauser da entwirft. Etwa den durch die Trennung zu seiner Frau zum Galeristen gewordenen Guido Franck, der für seine abgesandelte Kunsthandlung ausgerechnet mittels Heroinhandel Geld beschaffen will. Durch seine Jahre in Istanbul in der einschlägigen Szene glaubt Guido, ein Auskenner zu sein. Die Jahre in Istanbul verbinden Franck auch mit seinem Autor. Fauser lebte selbst einige Zeit am Bosporus und war jahrelang drogenabhängig bis er 1972 den Ausstieg schaffte.

Im Anhang des Buches finden sich interessante Details zur Entstehung des Romans. Fauser war Redakteur beim legendären, von Enzensberger gegründeten, Magazin „Transatlantik“ und schrieb dort etwa eine Reportage über eine Theatertournee als er schon wusste, dass er den Stoff für seinen Roman brauchen würde. Belegt ist auch, dass Fauser sehr gut recherchierte – was ihn von vielen seiner Kollegen auch heute noch unterscheidet. Um die Szene beim Kirchentag in Frankfurt zu beschreiben, wo der Gauner als Pfarrer untertauchen muss, stieg er im Hotel ab, das er dann im Buch beschrieb. Die im Band abgedruckte Reportage über die Theatertournee zeigt auch ganz deutlich seine journalistischen Vorbilder – nämlich Gay Telese, der etwa mit seiner berühmten Story „Frank Sinatra ist erkältet“ einen neuen subjektiven, erzählenden Journalismus begründete. Schön auch das Zitat von Heinrich Heine, das Fauser seinem Roman voranstellt:

„Das ist schön bei uns Deutschen;

keiner ist so verrückt, dass er nicht

Noch einen Verrückteren fände,

der ihn versteht.“ (Harzreise)


Wie in den 80er-Jahren alles begann – Jörg Fausers Romanfragment „Die Tournee“ aus dem Nachlass. Ein Buchtipp Von Helmut Schneider.

Jörg Fauser: Die Tournee
Roman aus dem Nachlass
Diogenes
290 Seiten
€ 24,70

David Mitchells „Utopia Avenue“ über die Beatles- und Stones-Area. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.

Die Band, die es leider nie gab – David Mitchell, Utopia Avenue

David Mitchells „Utopia Avenue“ über die Beatles- und Stones-Area. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.

Kann es sein, dass man zum Fan einer Band werden soll, die es nie gegeben hat? Der Brite David Mitchell – seit seinem von Tom Tykwer verfilmten Bestseller „Der Wolkenatlas“ in der Liga der Autoren, die weltweit beachtet werden – entwirft in seinem neuen 750-Seiten-Wälzer eine alternative Pop-Historie mit ebendiesem Ziel. Denn natürlich will man spätestens am Ende gerne die Songs der vier sympathischen Mitglieder seiner fiktiven Londoner Band „Utopia Avenue“ tatsächlich hören. Dass Mitchell seine Band nach nur zwei Alben unter dramatischen Umständen wieder auflöst, ist da nur ein schwacher Trost. Viel zu viel Emotion hat man als Leser da bereits in die Folk-Sängerin Elf, den Blues-Bassisten Dean, den Jazz-Drummer Griff und den Gitarrengott Jasper investiert als dass man nicht zumindest nach Musik-Alternativen im Netz (eine jazzige Rockband mit einer Folksängerin?) suchen würde. Das ist gleichzeitig die Stärke und die Schwäche dieses Romans, der freilich zumindest auf jeder Seite zu unterhalten vermag.

Das liegt vor allem daran, dass Mitchell jedem seiner Hauptpersonen genügend Raum für Entwicklung gibt. Da ist etwa der unter schwierigen sozialen Verhältnissen bei seinem Alkoholiker-Vater aufgewachsene Bassist Dean, der als einziger der Band anfällig für den Lohn des Erfolgs ist und vor allem weiblichen Versuchungen nicht widerstehen kann. Da ist die an die Ideale der Zeit glaubende Elf, die auch dann nicht an das Böse im Menschen glauben will als sie mit einem Bösen liiert ist und da ist vor allem der Niederländer Jasper de Zoet, der als illegitimer Sohn einer reichen Familie an schweren psychischen Problemen leidet. Denn in Jasper lebt sozusagen ein anderer, der sich mit Klopfzeichen bemerkbar macht und ihn in den Wahnsinn zu treiben versucht. Mitchell spielt dabei mit seinen Fans, denn zur Auflösung dieser Geschichte verweist er auf seinen früheren Japan-Roman „Die tausend Herbste des Jacob de Zoet“, in dem ein vampirhafter Mönch sein blutiges Unwesen treibt. Es ist nicht die einzige Reverenz des 1969 in Southport geborenen und inzwischen in Irland lebenden Autors an frühere Werke, Mitchell schafft sich einen eigenen selbstreferenziellen Hintergrund – glücklicherweise muss man als Leser aber nicht all das kennen, um „Utopia Avenue“ zu verstehen.

Was Mitchell in diesem Roman auch gut hinbekommt ist popkulturelles Namedropping. Die Band und ihr schwuler kanadischer Manager treffen so gut wie alle umstrittenen Helden der 60er-Jahre – von John Lennon, Jimmie Hendrix, Leonard Cohen und David Bowie bis zu Joan Baez, Francis Bacon und den später erst entlarvten Vergewaltiger und einflussreichen DJ Jimmy Savile. Und natürlich gibt es auch gut recherchierte Szenen aus dem damaligen noch voll analogen Alltag. Mit Dean erleben wir gleich am Anfang das harte Los von Musikern, die noch ihre Gitarre abstottern müssen, während sie in miesen Zimmern wohnen, in denen die Vermieterin ausdrücklich Iren und Schwarze nicht reinlässt. Und die durchaus nicht ungefährlichen Auftritte in der englischen Provinz – als die Band noch völlig unbekannt ist –bleiben auch im Gedächtnis.

Nun, wer die Sixties mag, wird in „Utopia Avenue“ wirklich gut bedient – von den Partys der Reichen und Schönen über das Chelsea Hotel bis zu Kalifornien kommt wirklich ein Gutteil aller Ikonen vor. Doch die Frage, warum mir der Autor dies alles erzählt, kann ich nicht befriedigend beantworten. Die utopische Geschichte von Jaspers Psychose ist dafür zu schwach und zu wenig ausgeführt. Immerhin gibt es am Ende zur Draufgabe auch noch eine tragisch-komische Überraschung in San Francisco.


David Mitchells „Utopia Avenue“ über die Beatles- und Stones-Area. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.

David Mitchell: Utopia Avenue
Aus dem Englischen von Volker Oldenburg
Rowohlt Verlag
752 Seiten
€ 26,95

Nachbarschaft einmal anders – Dominik Barta, Tür an Tür

Dominik Bartas Wien-Roman „Tür an Tür“. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.

Als der Erzähler Kurt die Genossenschaftswohnung seiner Tante in der Laimgrubengasse übernimmt, nachdem diese wieder ins Burgenland ziehen wollte, ahn er noch nicht, dass aus seiner Nachbarschaft eine Gemeinschaft werden sollte. Er leidet bloß unter der Husterei seines älteren Nachbarn Drechsler. Hat er mit diesem aber erst einmal geplaudert, geht es Schlag auf Schlag. Er lernt die Biologin Regina kennen und bald schon zieht sein Jugendfreund nach Differenzen mit seiner Freundin bei ihm ein. Kurt ist Lehrer und schwul – und so verliebt er sich ausgerechnet in einen kurdischen Schüler und die politischen Verwicklungen nehmen seinen Lauf.

Was Dominik Barta da in seinem zweiten Roman erzählt ist nicht unspannend, wenngleich vieles etwas konstruiert wirkt. Dazu kommen sprachliche Schwächen – es sind mehr Monologe als Dialoge, die er seinen Leserinnen und Lesern vorsetzt. Die Probleme eines schwulen Lehrers, der sich zwar längst geoutet hat, aber gleichzeitig vor sexuellen Begegnungen davonzulaufen scheint, werden etwas zu breit ausgewalzt. Dass Reginas Forschungsfeld ausgerechnet die Biologie des sexuellen Begehrens umfasst, wird vom Autor dann freilich nicht für seine Geschichte genützt. Und so liest sich „Tür an Tür“ ganz amüsant, warum der 1982 in Oberösterreich geborene Dominik Barta uns das alles erzählen muss, ist mir am Ende aber nicht wirklich klar.


Dominik Barta: Tür an Tür
Zsolnay
208 Seiten
€ 23,70