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Der Mann, der den perfekten Roman schrieb – Charles J. Shields, „Der Mann, der den perfekten Roman schrieb“

Der Mann, der den perfekten Roman schrieb – Charles J. Shields, „Der Mann, der den perfekten Roman schrieb“

Der Mann, der den perfekten Roman schrieb – zum 100. Geburtstag von John Williams am 29. August

Als der US-Amerikaner John Williams 1994 mit 71 Jahren starb, gab es nur wenige Nachrufe und seine Romane waren kaum erhältlich. Heute gilt er als Musterbeispiel dafür, dass sich literarische Qualität doch durchsetzt. Nur leider nicht immer zu Lebzeiten der Verfasser. John Williams Leben bestand aus vielen kleinen Erfolgen und ebenso vielen Niederlagen. Als bitterarmer Texasjunge aus bäuerlichem Umfeld wurde er immerhin – nach Jahren als Radioreporter und dem Kriegsdienst als Funker auf Militärtransportflugzeugen am Himalaja – Professor für englische Literatur und mit seinem Briefroman „Augustus“ (halber) Gewinner des National Book Awards. Gekauft haben seine wenigen Romane nicht viele Zeitgenossen. Erst über eine Neuauflage seines College-Romans „Stoner“ in der Classic-Reihe der „New York Review of Books“ wurde er nach 2000 wieder bekannter. Allerdings stellte sich der große Erfolg auch wieder erst über Europa ein. Die französische Schriftstellerin Anna Gavalda war von „Stoner“ so begeistert, dass sie ihn übersetzte. Es folgten Ausgaben in Niederländisch, Spanisch, Italienisch und Deutsch. John Williams, der nur 4 Romane veröffentlicht hat – neben den beiden erwähnten auch den Roman „Butcher’s Crossing“ über eine Büffeljagd im 19. Jahrhundert und einen schwer lesbaren Erstling – wurde zum Kultautor.

Charles J. Shields hat Williams Biografie den Titel „Der Mann, der den perfekten Roman schrieb“ gegeben, denn „Stoner“ wurde 2007 in der „New York Times“ tatsächlich als „perfekter Roman“ beschrieben. Dabei ist „Stoner“ in der Nacherzählung wahrscheinlich einer der langweiligsten Romane überhaupt, denn es passiert nichts Spektakuläres. Aber es ist die hohe Kunst Williams, die aus einem durchschnittlichen Leben als Englischprofessor an einer unbedeutenden Universität eine Parabel für den Wert und die Würde eines Menschenlebens gemacht zu haben. In dem Roman – aber auch im Briefroman „Augustus“ – sind Sätze zu lesen, die so gut sind, dass man weinen könnte. In der klugen und ausführlichen Bio, die trotzdem nicht allzu akademisch daherkommt, wird Williams Leben mit dem seiner Romane gegengerechnet. Außerdem erfährt man viel über das Leben von Schriftstellern in den USA nach dem 2. Weltkrieg. Man war viel unter sich, traf sich etwa bei Sommerschreibkursen, wo man gut verdiente, die Alkoholikerquote war geradezu selbstzerstörerisch hoch, viele schwankten zwischen einem sichereren Leben als Lehrer und dem Druck als freier Autor mit der Sorge ständig Kurzgeschichten für Zeitschriften liefern zu müssen.  

Williams hatte sich schon früh damit abgefunden, seinen Lebensunterhalt als Hochschullehrer und Herausgeber einer Universitätszeitschrift zu verdienen, während es sein Schwager, der ebenfalls schrieb, es mit dem billigen Leben in Mexiko – dort kam man mit 100 Dollar im Monat gut über die Runden – versuchte. Alkoholiker und Kettenraucher waren sie natürlich beide. Wichtig bei Williams auch sein Provinzstatus, denn die sogenannte Ostküste sah hochmütig über alles hinweg, was nicht in New York oder Boston geschah – und Williams, geboren in Texas, war die meiste Zeit seines Lebens Professor in Denver, Colorado. Gesundheitlich angeschlagen kaufte er sich ein Haus in Key West in Florida als dort noch nicht gar so viele Touristen waren – allerdings hat ihm das schwüle Klima im Sommer dann doch nicht ganz behagt.

Der 100. Geburtstag sollte zum Anlass genommen werden, die 3 Romane Williams – so noch nicht geschehen – zu lesen. Ich muss gestehen, dass ich alle neuen Leser um diese Premiere beneide.


Charles Shields: „Der Mann, der den perfekten Roman schrieb“
Stoner‘ und das Leben des John Williams
Biografie
Aus dem amerikanischen Englisch von Jochen Stremmel
dtv
384 Seiten
26 €

Der Erfinder des Wutbürgers – Heimito von Doderer, Die Merowinger oder die totale Familie

Als 1962 die „Merowinger“ erschienen, war Heimito von Doderer der bekannteste lebende österreichische Schriftsteller, 1957 sogar eines SPIEGEL-Covers für wichtig befunden. Dabei war der Dichter bis zu seinem 50. Lebensjahr finanziell von seiner Mutter abhängig und erst 1951 mit der Veröffentlichung der „Strudlhofstiege“ einem größeren Leserkreis bekannt geworden.

„Die Merowinger oder Die totale Familie“ ist wahrscheinlich sein ungewöhnlichster Roman, für Doderer-Anfänger eignet er sich sicher nicht. Denn allzu oft scheint es, als ob Doderers Leidenschaften – für Geschichte, für Grobiane und für merkwürdige Zweierbeziehungen – mit ihm durchgegangen wären. Am Ende bekennt „Doctor Döblinger“, der sich im Roman als Verfasser desselben offenbart, einem Bekannten, der meint, das alles sei ein „Mordsblödsinn“: „Ja freilich, freilich Blödsinn!…Wie denn anders?! Und was denn sonst als Blödsinn?! Alles Unsinn –“

Vielleicht liest man die „Merowinger“ also weniger als Roman, denn als Spaß, den sich der Dichter einmal gönnen wollte. Und einige Szenen sind auch wirklich witzig und köstlich zu lesen, während er an anderen Stellen seine Leserschaft mit schlecht gereimten Versen und seitenweise Beschreibungen von Schlachten, Scharmützeln und Erbstreitigkeiten auf die Probe stellt.

Im Zentrum steht Childerich von Bartenbruch, ein mittelfränkischer Baron, der durch eine konsequente Heiratspolitik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – er heiratet sowohl die Witwe seines Vaters als auch die seines Großvaters – sehr reich wird, wobei er sich als Ahnherr des berühmten Geschlechts der Merowinger sieht. Dabei ist der kleine Mann, von Doderer als hässlich wie ein „trauriges Beutelchen“ beschrieben, nur in einer Sache top, nämlich in seiner Zeugungskraft. Nach dem Erlangen des Erbes setzt Childerich alles daran, eine totale Familie zu gründen. Childerich schafft es mittels Heirat und Adoptionen, sein eigener Vater und Großvater zu werden, sondern er wird auch, nach Abschluß der vierten Ehe, sein eigener Schwiegervater und sein eigener Schwiegersohn, der Vater seiner Geschwister, der Großvater seiner Kinder und der Onkel seiner Enkel.

Aber der erfolgreiche Erbe leidet leider an geradezu chronischen Wutanfällen, die er bei dem Psychiater Dr. Horn gegen üppiges Honorar zu kurieren gedenkt. Die gleich am Beginn des Buches beschriebene Therapie bei dem eine Nasenzange, lederbezogene Holzhämmer und ein Wutmarsch eine Rolle spielen und die im Zerschlagen von Porzellan endet, gehört zu den gelungensten Szenen des Romans. Der geschäftstüchtige Psychiater erfindet später noch ein Wuthäuschen, das es ihm ermöglichen soll, ohne viel Aufwand gleich mehrere Patienten zu empfangen.

Wer so viele Verwandte vor den Kopf stößt wie Childerich bekommt natürlich auch viele Feinde, die ihn am Ende mithilfe eines ausgerechnet Pippin – die historischen Merowinger wurden ja von den Karolinger unter Pippin entmachtet – heißenden Majordomus am Ende seiner Manneskraft berauben. Das alles wird, wie beschrieben, sehr barock erzählt. Interessant, dass ja seit einigen Jahren der sogenannte Wutbürger zum Phänomen wurde. Nun solche hat Doderer – wie man sieht – schon Anfang der 60er-Jahre beschrieben, auch wenn Childerich eigentlich ein Wutadeliger ist. Doch das Geschäft mit der Wut betreiben im Roman nicht nur Psychiater, auch andere Hausbewohner von Dr. Horn kommen auf die Idee, Wutbehandlungen anzubieten und sogar ein hoher Beamter zieht eine lukrative Nebenbeschäftigung auf, indem er Wutleidende Lederbeutel stechen lässt. Wutbürger gab es also längst vor der Erfindung der sozialen Medien wie wir bei Doderer lernen.

Am 21. September wird Chris Pichler im Café Landtmann beim D-Day für Doderer (19 Uhr) auch eine Szene aus den „Merowingern“ lesen.

Warten auf die Tochter – Keviny Barry, Nachtfähre nach Tanger

Warten auf die Tochter – Kevin Barry, Nachtfähre nach Tanger

Die besten Verbrechergeschichten sind eigentlich Familiengeschichten. Man nehme etwa nur die legendäre TV-Serie „Die Sopranos“, in der wir eine typische italienischstämmige Durchschnittsfamilie in New Jersey erleben, die sich nur durch den speziellen Job Tonys von anderen Familien unterscheidet.

In „Nachtfähre nach Tanger“ erleben wir zwei alt gewordene irische Drogenschmuggler und Dealer Maurice und Charles in einem heruntergekommenen spanischen Küstenort, wo sie auf die Herumtreiberin Dilly warten – die Tochter einer der beiden Gauner. Warum das nicht so ganz sicher ist, wer der Vater ist, wird von Kevin Barry auf 200 Seiten dicht und poetisch erzählt. Die beiden erinnern sich an ihre Anfangszeit als Dealer, an die gemeinsame Kindheit, ihre Erfolge und Niederlage und ihre Liebe zu Cynthia. Maurice, der mit Cynthia verheiratet war, hatte seinen Freund ein Messer ins Knie gerammt als er erfuhr, dass Charles ihr Liebhaber war. Aber das ist längst verziehen und Cynthia einem Krebsleiden erlegen. Dazwischen liegen Jahre in Drogenabhängigkeit und in dem verzweifelten Versuch, sich eine bürgerliche Existenz als Hausvermieter aufzubauen. Ob sie die erhoffte Dilly tatsächlich treffen, sei hier nicht verraten – ein bisschen Spannung muss sein.

Der in Limerick geborene Kevin Barry beschreibt abwechselnd das Warten der alten Herren und ihre Lebensgeschichte. Seine Sprache ist dabei – wie die Übersetzung von Thomas Überhoff gut wiedergibt, hart und direkt. Der Autor macht da keine Gefangenen, schließlich stecken wir im Verbrechermilieu fest – Gefängnisaufenthalte inklusive. Ein exquisites, literarisches Lesevergnügen.


Warten auf die Tochter – Keviny Barry, Nachtfähre nach Tanger

Kevin Barry: Nachtfähre nach Tanger
Aus dem Englischen von Thomas Überhoff
Rowohlt Verlag
206 Seiten
€ 22,70

Wie in den 80er-Jahren alles begann – Jörg Fausers Romanfragment „Die Tournee“ aus dem Nachlass. Ein Buchtipp Von Helmut Schneider.

Wie in den 80er-Jahren alles begann – Jörg Fauser, Die Tournee

Wie in den 80er-Jahren alles begann – Jörg Fausers Romanfragment „Die Tournee“ aus dem Nachlass. Ein Buchtipp Von Helmut Schneider.

So richtig bekannt wurde Jörg Fauser leider erst nach seinem tragischen Tod 1987 mit 43 Jahren als Fußgänger nachts auf einer Münchner Autobahn. Ein großes Publikum erreichte er aber nie. Legendär wurde sein Auftritt beim Bachmann-Wettlesen in Klagenfurt 1984, wo die damals schon alten Großkritiker Marcel Reich-Ranicki und Walter Jens über ihn herzogen, während er – völlig stoisch bleibend die Kritik an sich abprallen ließ.

Dabei verfügte der 1944 geborene Schriftsteller und Journalist von Beginn an über einen literarischen Stil, der auch jetzt noch Bewunderung hervorruft. Mit scheinbar leichter Hand schaffte er Stimmungen und Personen, seine Dialoge lesen sich nie gekünstelt und in seinen Texten entsteht unmittelbar die Atmosphäre der geschilderten Zeit. Der Diogenes Verlag bringt seit einigen Jahren regelmäßig seine Werke wie die Romane „Rohstoff“, „Der Schneemann“ oder seine Reportagen – „Der Klub, in dem wir alle spielen“ – heraus.

Jetzt erschien mit „Die Tournee“ das letzte Werk, an dem Fauser bis zu seinem Tod arbeitete. Fertig wurde nur der erste Teil von insgesamt drei Teilen des Romans, in dem es um eine alternde Diva, die aus Geldmangel in einem Boulevardstück durch die deutsche Provinz ziehen muss, einen geplatzten Drogendeal in der Münchner Kunst-Szene, einen zwielichtigen Gauner, der aus Asien nach Deutschland flüchten musste und einen alten SPD-Funktionär mit Osterfahrung, der das Ende seiner nie stattgefundenen Karriere erleben muss, geht. Warum man das lesen sollte, obwohl die Geschichte abbricht noch ehe sie richtig angefangen hat? Weil Fauser mit diesem Fragment sozusagen die Stimmung der 80er-Jahre – die Schikimicki-Tage in München und den nicht nur politischen Stillstand in Berlin vor der Wende eingefangen hat. Was sind das auch für Figuren, die Fauser da entwirft. Etwa den durch die Trennung zu seiner Frau zum Galeristen gewordenen Guido Franck, der für seine abgesandelte Kunsthandlung ausgerechnet mittels Heroinhandel Geld beschaffen will. Durch seine Jahre in Istanbul in der einschlägigen Szene glaubt Guido, ein Auskenner zu sein. Die Jahre in Istanbul verbinden Franck auch mit seinem Autor. Fauser lebte selbst einige Zeit am Bosporus und war jahrelang drogenabhängig bis er 1972 den Ausstieg schaffte.

Im Anhang des Buches finden sich interessante Details zur Entstehung des Romans. Fauser war Redakteur beim legendären, von Enzensberger gegründeten, Magazin „Transatlantik“ und schrieb dort etwa eine Reportage über eine Theatertournee als er schon wusste, dass er den Stoff für seinen Roman brauchen würde. Belegt ist auch, dass Fauser sehr gut recherchierte – was ihn von vielen seiner Kollegen auch heute noch unterscheidet. Um die Szene beim Kirchentag in Frankfurt zu beschreiben, wo der Gauner als Pfarrer untertauchen muss, stieg er im Hotel ab, das er dann im Buch beschrieb. Die im Band abgedruckte Reportage über die Theatertournee zeigt auch ganz deutlich seine journalistischen Vorbilder – nämlich Gay Telese, der etwa mit seiner berühmten Story „Frank Sinatra ist erkältet“ einen neuen subjektiven, erzählenden Journalismus begründete. Schön auch das Zitat von Heinrich Heine, das Fauser seinem Roman voranstellt:

„Das ist schön bei uns Deutschen;

keiner ist so verrückt, dass er nicht

Noch einen Verrückteren fände,

der ihn versteht.“ (Harzreise)


Wie in den 80er-Jahren alles begann – Jörg Fausers Romanfragment „Die Tournee“ aus dem Nachlass. Ein Buchtipp Von Helmut Schneider.

Jörg Fauser: Die Tournee
Roman aus dem Nachlass
Diogenes
290 Seiten
€ 24,70

David Mitchells „Utopia Avenue“ über die Beatles- und Stones-Area. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.

Die Band, die es leider nie gab – David Mitchell, Utopia Avenue

David Mitchells „Utopia Avenue“ über die Beatles- und Stones-Area. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.

Kann es sein, dass man zum Fan einer Band werden soll, die es nie gegeben hat? Der Brite David Mitchell – seit seinem von Tom Tykwer verfilmten Bestseller „Der Wolkenatlas“ in der Liga der Autoren, die weltweit beachtet werden – entwirft in seinem neuen 750-Seiten-Wälzer eine alternative Pop-Historie mit ebendiesem Ziel. Denn natürlich will man spätestens am Ende gerne die Songs der vier sympathischen Mitglieder seiner fiktiven Londoner Band „Utopia Avenue“ tatsächlich hören. Dass Mitchell seine Band nach nur zwei Alben unter dramatischen Umständen wieder auflöst, ist da nur ein schwacher Trost. Viel zu viel Emotion hat man als Leser da bereits in die Folk-Sängerin Elf, den Blues-Bassisten Dean, den Jazz-Drummer Griff und den Gitarrengott Jasper investiert als dass man nicht zumindest nach Musik-Alternativen im Netz (eine jazzige Rockband mit einer Folksängerin?) suchen würde. Das ist gleichzeitig die Stärke und die Schwäche dieses Romans, der freilich zumindest auf jeder Seite zu unterhalten vermag.

Das liegt vor allem daran, dass Mitchell jedem seiner Hauptpersonen genügend Raum für Entwicklung gibt. Da ist etwa der unter schwierigen sozialen Verhältnissen bei seinem Alkoholiker-Vater aufgewachsene Bassist Dean, der als einziger der Band anfällig für den Lohn des Erfolgs ist und vor allem weiblichen Versuchungen nicht widerstehen kann. Da ist die an die Ideale der Zeit glaubende Elf, die auch dann nicht an das Böse im Menschen glauben will als sie mit einem Bösen liiert ist und da ist vor allem der Niederländer Jasper de Zoet, der als illegitimer Sohn einer reichen Familie an schweren psychischen Problemen leidet. Denn in Jasper lebt sozusagen ein anderer, der sich mit Klopfzeichen bemerkbar macht und ihn in den Wahnsinn zu treiben versucht. Mitchell spielt dabei mit seinen Fans, denn zur Auflösung dieser Geschichte verweist er auf seinen früheren Japan-Roman „Die tausend Herbste des Jacob de Zoet“, in dem ein vampirhafter Mönch sein blutiges Unwesen treibt. Es ist nicht die einzige Reverenz des 1969 in Southport geborenen und inzwischen in Irland lebenden Autors an frühere Werke, Mitchell schafft sich einen eigenen selbstreferenziellen Hintergrund – glücklicherweise muss man als Leser aber nicht all das kennen, um „Utopia Avenue“ zu verstehen.

Was Mitchell in diesem Roman auch gut hinbekommt ist popkulturelles Namedropping. Die Band und ihr schwuler kanadischer Manager treffen so gut wie alle umstrittenen Helden der 60er-Jahre – von John Lennon, Jimmie Hendrix, Leonard Cohen und David Bowie bis zu Joan Baez, Francis Bacon und den später erst entlarvten Vergewaltiger und einflussreichen DJ Jimmy Savile. Und natürlich gibt es auch gut recherchierte Szenen aus dem damaligen noch voll analogen Alltag. Mit Dean erleben wir gleich am Anfang das harte Los von Musikern, die noch ihre Gitarre abstottern müssen, während sie in miesen Zimmern wohnen, in denen die Vermieterin ausdrücklich Iren und Schwarze nicht reinlässt. Und die durchaus nicht ungefährlichen Auftritte in der englischen Provinz – als die Band noch völlig unbekannt ist –bleiben auch im Gedächtnis.

Nun, wer die Sixties mag, wird in „Utopia Avenue“ wirklich gut bedient – von den Partys der Reichen und Schönen über das Chelsea Hotel bis zu Kalifornien kommt wirklich ein Gutteil aller Ikonen vor. Doch die Frage, warum mir der Autor dies alles erzählt, kann ich nicht befriedigend beantworten. Die utopische Geschichte von Jaspers Psychose ist dafür zu schwach und zu wenig ausgeführt. Immerhin gibt es am Ende zur Draufgabe auch noch eine tragisch-komische Überraschung in San Francisco.


David Mitchells „Utopia Avenue“ über die Beatles- und Stones-Area. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.

David Mitchell: Utopia Avenue
Aus dem Englischen von Volker Oldenburg
Rowohlt Verlag
752 Seiten
€ 26,95

Nachbarschaft einmal anders – Dominik Barta, Tür an Tür

Dominik Bartas Wien-Roman „Tür an Tür“. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.

Als der Erzähler Kurt die Genossenschaftswohnung seiner Tante in der Laimgrubengasse übernimmt, nachdem diese wieder ins Burgenland ziehen wollte, ahn er noch nicht, dass aus seiner Nachbarschaft eine Gemeinschaft werden sollte. Er leidet bloß unter der Husterei seines älteren Nachbarn Drechsler. Hat er mit diesem aber erst einmal geplaudert, geht es Schlag auf Schlag. Er lernt die Biologin Regina kennen und bald schon zieht sein Jugendfreund nach Differenzen mit seiner Freundin bei ihm ein. Kurt ist Lehrer und schwul – und so verliebt er sich ausgerechnet in einen kurdischen Schüler und die politischen Verwicklungen nehmen seinen Lauf.

Was Dominik Barta da in seinem zweiten Roman erzählt ist nicht unspannend, wenngleich vieles etwas konstruiert wirkt. Dazu kommen sprachliche Schwächen – es sind mehr Monologe als Dialoge, die er seinen Leserinnen und Lesern vorsetzt. Die Probleme eines schwulen Lehrers, der sich zwar längst geoutet hat, aber gleichzeitig vor sexuellen Begegnungen davonzulaufen scheint, werden etwas zu breit ausgewalzt. Dass Reginas Forschungsfeld ausgerechnet die Biologie des sexuellen Begehrens umfasst, wird vom Autor dann freilich nicht für seine Geschichte genützt. Und so liest sich „Tür an Tür“ ganz amüsant, warum der 1982 in Oberösterreich geborene Dominik Barta uns das alles erzählen muss, ist mir am Ende aber nicht wirklich klar.


Dominik Barta: Tür an Tür
Zsolnay
208 Seiten
€ 23,70

Buchtipp – Karl Ove Knausgård, Der Morgenstern

Der neue Skandinavien-Thriller

Der neue Skandinavien-Thriller kommt ausgerechnet von Karl Ove Knausgård.

Der Norweger Karl Ove Knausgård schrieb sich mit seinem autobiografischen, sechsbändigen Mammutwerk „Min Kamp“ (wörtlich: Mein Kampf) in die Spitzenriege der Weltliteratur. Eine derartige Selbstreflexion muss man natürlich mögen, zumal man heute als „alter weißer Mann“ (Knausgård ist Jahrgang 1968) nicht eben offene Türen einrennt. Aber Knausgård hat es geschafft und gilt längst als Kultautor. Als solcher hat er natürlich auch viele Feinde.

Sein neuer Roman „Der Morgenstern“ ist freilich endlich wieder ein fiktionales Werk. Und was für eines. Die knapp 900 Seiten sind erst der Anfang. Es ist daher noch unmöglich zu beurteilen, ob diese sehr spezielle Geschichte aufgeht. Knausgård überrascht nämlich mit einer Art Mysterienthriller. Er erzählt nur zwei Tage Ende August 2023, in Bergen, Norwegen. 9 Personen verfolgt er in diesen wenigen Stunden und alle sind mehr oder weniger fasziniert von einem Himmelsphänomen. Es erscheint nämlich ein besonders großer, heller Stern am Horizont, der alle rätseln lässt. Ist es eine Supernova oder die Ankündigung des Weltuntergangs? Zumal sich gleichzeitig merkwürdige Dinge ereignen. Da ist eine Straße plötzlich voller Krebse, ein Raubvogel reißt mitten unter Menschen eine Taube und Marienkäfer treten in Massen auf. Dazu kommt ein besonders grausamer Kriminalfall – drei von vier Mitgliedern einer Metal-Band werden bestialisch im Wald ermordet. Ein satanistisches Ritual? Die unsympathischste Figur des Romans ist natürlich ein Journalist, der von der Chronik ins Kulturressort strafversetzt wurde und jetzt eine neue Chance wittert – was ihn aber nicht davon abhält zu saufen und seine Frau zu betrügen, während sich sein Sohn das Leben zu nehmen versucht. Sehr breiten Raum erfährt ein Literaturprofessor aus Oslo mit seiner psychisch labilen Frau Tove, die Katzen den Kopf abschlägt, und den gemeinsamen drei Kindern. Knausgård beschreibt aber auch eine Krankenschwester, einen Kindergärtner oder eine Pfarrerin, die plötzlich einen Mann beerdigen soll, der ihr noch vor wenigen Stunden im Flugzeug auf die Nerven gegangen ist. In Wirklichkeit sind es ganz normale Alltagsszenen, die durch das Talent des Autors ziemlich lebendig werden. Keine Frage: Knausgård kann auch unterhalten. Wer bei diesem Schuss Mystik, der ja auch immer bei Haruki Murakami wohlfeil zu bekommen ist, nicht gleich abschnallt, wird „Morgenstern“ mit Interesse lesen und schon auf den nächsten Band gespannt sein.

Am Schluss noch eine Bemerkung zu dicken Büchern, die von vielen ja – von wegen Zeitaufwand – kritisiert werden. Dabei können schmale Bücher genauso leicht ausufernd sein und Nerven kosten. Echte Leserinnen und Leser haben Schmöker freilich noch nie abgeschreckt, zumal sie auf Seitenpreis berechnet, viel, viel billiger als dünne sind. Das ist doch in Zeiten einer galoppierenden Inflation ein Argument, oder?


Der neue Skandinavien-Thriller kommt ausgerechnet von Karl Ove Knausgård. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.

Karl Ove Knausgård: Der Morgenstern
Aus dem Norwegischen von Paul Berf
Luchterhand
894 Seiten
€ 28,95

Buchtipp – Amélie Nothomb, Ambivalenz

DER RÄCHER UND DAS KIND

Der Rächer und das Kind – Amélie Nothombs kurzer Roman „Ambivalenz“.

Amélie Nothomb ist nicht einfach nur eine Bestsellerautorin, sondern ein Phänomen der Pop-Kultur. Schon früh hat sie ihr eigenes Leben – das Aufwachsen als Diplomatentochter belgischer Eltern in verschiedensten Weltgegenden und mit diversen psychischen Störungen wie Magersucht – in Romanen beschrieben und so für die Literatur fruchtbar gemacht. In Paris, wo sie seit Jahrzehnten lebt, kennt man sie nicht nur aufgrund ihrer extravaganten Erscheinung – sie trägt immer große Hüte –, sondern auch wegen ihres ungewöhnlichen Lebensstils. Die Nächte verbringt sie mit Champagner, aber im Morgengrauen schreibt sie gedopt mit schwarzem Tee stundenlang manisch ihre Romane von denen sie nur wenige zur Veröffentlichung freigibt, wie sie mir bei einem Interview in Köln erzählte. Mein Versuch, sie für „EineStadt.EinBuch.“ zu gewinnen, scheiterte allerdings daran, dass sie Paris immer nur höchstens für eine Nach verlassen will.

Ihr neuer Roman „Ambivalenz“ ist natürlich wieder 100 Prozent typisch Amélie Nothomb. Es geht um die Geschichte einer seltsamen Rache eines verschmähten Mannes. Weil die schöne Reine ihren jungen Liebhaber Claude zugunsten eines bereits reichen Galans aufgibt, will der sich rächen, indem er mit der scheinbar „einfach gestrickten“ Dominique eine Familie gründet und selbst sehr erfolgreich wird. An der gemeinsamen Tochter hat er kein Interesse, obwohl sie hyperbegabt ist. Am Ende kommt es natürlich zum Bruch, aber Nothombs Erzählweise ist unnachahmbar. Sie springt nach Belieben im Plot und schafft es, gleich auf mehreren Ebenen ihrer Figuren spannend zu bleiben. Wer sich an der oft unrealistischen Handlung stößt, sollte aber einmal in Nothombs echter Familiengeschichte nachlesen… Zweifelsohne wieder ein Buch für ein paar amüsante Stunden.


Der Rächer und das Kind – Amélie Nothombs kurzer Roman „Ambivalenz“ is der neue Buchtipp von Helmut Schneider.

Amélie Nothomb: Ambivalenz
Aus dem Französischen von Brigitte Große
Diogenes
128 Seiten
€ 20,70 

Buchtipp – Milena Busquets, Meine verlorene Freundin

Als Frau in Barcelona

„Meine verlorene Freundin“ von Milena Busquets. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.

Die 1972 in Barcelona und dort auch wieder lebende Schriftstellerin und frühere Verlegerin Milena Busquets, die 2014 mit ihrem Roman „Auch dies wird vergehen“ international erfolgreich war, arbeitet nach wie vor auch als Journalistin und Übersetzerin. Ihr neues Buch „Meine verlorene Freundin“ verhandelt weniger eine Recherche nach einer verstorbenen Klassenkameradin wie der Titel suggeriert, sondern es sind die Gedanken einer Frau, nicht mehr jung, noch nicht alt mit zwei Kindern, alleinlebend und neuerdings wieder mit einem Mann zusammen. Denn die Ich-Erzählerin, die noch dazu als Autorin und Übersetzerin arbeitet, findet über die jung Verstorbene – nach gut 30 Jahren – nicht viel heraus. Sie war die Tochter von Restaurantbetreibern, die auch später noch vom Unglück verfolgt wurden. Dafür erfahren wir im Buch viel über die Freundinnen der Erzählerin, ihren Geliebten, einen erfolgreichen Schauspieler, den sie am Ende des Buches wieder verlässt, und das Lebensgefühl einer Frau in Barcelona. Das ist ganz interessant und auch sehr charmant erzählt, ergibt aber eigentlich noch nicht wirklich einen Roman. Am ehesten könnte man den Text noch als Novelle lesen – nach Goethe „eine sich ereignete unerhörte Begebenheit“ – wenn man den allerdings nicht wirklich unerhörten Bericht eines Restaurantkritikers über das Schicksal der Familie der tragisch jung verstorbenen Klassenkameradin miteinrechnet. Aber die Bezeichnung „Novelle“ verkauft sich wahrscheinlich nicht so gut wie „Roman“, weshalb Verlage das zumeist vermeiden. Vielleicht ist „Meine verlorene Freundin“ aber einfach die passende Lektüre für einen entspannten Tag am Strand.


Milena Busquets: Meine verlorene Freundin
Aus dem Spanischen von Svenja Becker
Suhrkamp Verlag
ISBN: 978-3-518-43047-7
136 Seiten
€ 22,70

Buchtipp – Tahmima Anam, Unser Plan für die Welt

Existenzielle Supergaus

Tahmima Anams „Unser Plan für die Welt“. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.

Eine wahrlich internationale Biografie: Tahmima Ahnam wurde 1975 in Bangladesch geboren, wuchs in Paris, New York und Bangkok auf, studierte an der Harvard University und lebt in London. Seit 2010 veröffentlicht sie vielbeachtete Romane, ihr neuester „Unser Plan für die Welt“ spielt in New York, wo Asha, Cyrus und Jules ein Start-up gründen, das zu einer Art spirituellem Facebook wird. Mehr noch als ein Gründerroman ist das Buch allerdings eine Liebesgeschichte, denn Asha und Cyrus sind ein Paar und alle, die sich in der Szene auskennen, rechnen damit, dass der wirtschaftliche Erfolg und die Mühen des Aufbaus ihrer Liebe den Garaus machen wird. Noch dazu wo die beiden ziemlich unterschiedliche Charaktere sind. Asha, deren Familie aus Bangladesch eingewandert ist, hat nicht nur eine technische Begabung – sie programmiert die neue Plattform –, sondern auch die Idee dahinter. Denn Cyrus saugt alles Spirituelle auf wie ein Schwamm und kennt sich auch noch bei den abgelegensten Religionen dieser Welt aus. Die Idee der neuen App: Sie soll all jenen eine Heimat bieten, die in unserer zunehmend säkularisierten Gesellschaft Hilfe brauchen wenn sie etwa ihre Katze oder ihren Großvater begraben müssen oder eine perfekte, stilvolle Hochzeit ohne Priester feiern wollen. Ihr Freund Jules ist der einzige mit reicher Familie, deren Mitglieder ihn allerdings nicht ernst nehmen. Gemeinsam arbeiten sie unter dem Dach einer stylischen New Yorker Entwicklerfirma, die sich auf Apps für den als sicher angenommenen Weltuntergang spezialisiert hat, an einer Plattform, die sich bald als Ersatzreligion entwickelt. Cyrus wird für viele zu einem neuen Messias während er lernen muss, sein Charisma auch geschäftlich auszunützen um Geldgeber zu überzeugen.

„Unser Plan für die Welt“ liest sich sehr locker, die Schwierigkeiten bei der Gründung und Etablierung eines Start-ups werden sehr realistisch dargestellt. Anam schafft es auch immer neue – oft auch skurrile – Charaktere einzuführen. Sprachlich zwar nicht immer top entwickelt die Geschichte einen unwiderstehlichen Sog. Sehr gelungen ist ihr auch die Darstellung der speziellen Schwierigkeiten, die sich in dieser noch immer männerdominierten Szene für Frauen auftun. Als Asha vor der dann eintretenden drohenden Katastrophe warnt, wird sie aus dem Vorstand gedrängt. Dass es schier unmöglich ist mit einem Mann zusammenzuleben, der als neuer Jesus auftritt, versteht sich natürlich von selbst. Ein wunderbarer Roman, der sich auch als spannende Strandlektüre eignet.


Tahmima Anam: Unser Plan für die Welt
Aus dem Englischen von Kirsten Risselmann
Hoffmann und Campe
ISBN: 978-3-455-01426-6
352 Seiten
€ 22,70