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Das zweite Leben des Erik Montelius – Daniel Wissers Schelmenroman „012“

Wenn jemand 30 Jahre nach seinem frühen Tod wiederkommt, um sein früheres Leben wieder aufzunehmen, ergibt das natürlich Komplikationen. Welche, das hat der in Wien lebende Autor Daniel Wisser in seinem neuen Roman erforscht. Sein Protagonist und Erzähler Erik Montelius lässt sich – weil sein Krebs nicht heilbar ist – nach durchaus erfolgreicher Karriere als Computerpionier einfrieren. In der Gegenwart wird er operiert und wacht auf – als erster Mensch, der die kryotechnische Konservierung sozusagen überlebt. Im ersten Teil denkt er, im Krankenhaus liegend, viel über sein voriges Leben nach. Trost und Rat holt er sich von Beatles-Songs, denn „Abbey Road“ war im ersten Leben quasi seine Bibel. Turbulent wird es erst, als er zu seiner früheren Frau Kris heimkehrt, denn diese hat inzwischen seinen Kompagnon und Freund geheiratet. Sein Sohn ist natürlich längst erwachsen. Montelius erlebt die Seltsamkeiten unserer Zeit mit der Brille der 90er-Jahre: Autos sind groß wie Panzer und fahren noch immer mit Benzin, Plastik ist sowieso überall und unvermeidlich. Erst zögerlich bedient er sich Neuerungen wie Smartphones. Nicht ganz unbegründet nimmt er an, dass sein ehemaliger Partner ihn beim Verkauf ihrer Firma betrogen hat. Als er einer Journalistin vom Lokalfernsehen ein Interview gibt, läuft die internationale Medienmaschinerie an – sogar CNN fragt an. Auch ein Verlag hat Interesse an seiner Biografie – was wir lesen ist sozusagen das launige Manuskript, das Montelius abgeben will.

Zum eigentlichen Problem wird allerdings, dass er offiziell gar nicht existiert, denn er hat ja nur seinen Totenschein. Und ausgerechnet mit der eigenwilligen Tochter seines Kompagnons beginnt er eine neue Beziehung – wissend, dass er mutmaßlich wegen seiner wiederkehrenden Krebserkrankung und dem schlechten Zustand seiner Organe nicht mehr lange leben wird. Montelius landet schließlich zuerst im Gefängnis und dann in einen Asylantenheim – als Existenz, die es gar nicht geben kann. Dazwischen brennen SUVs und Menschen sterben unter ungeklärten Ursachen.

Daniel Wisser ist ein sehr flüssig zu lesender Roman über unsere Zeit gelungen. Mit scharfer Beobachtungsgabe zeigt er die Verwerfungen unseres Daseins auf. Der phantastische Plot ist nur die Folie, um Spießertum und Gedankenlosigkeit sichtbarer zu machen.


Daniel Wisser: 012
Luchterhand Verlag
450 Seiten
€ 26,50

Mit den Augen eines Kindes – Sepp Malls Geschichte einer südtiroler Familie „Ein Hund kam in die Küche“

Weil Hitler Mussolini brauchte, verriet er die deutschsprachigen Südtiroler – obschon er überall sonst in Europa Deutschsprachige „heim ins Reich“ holte. In Italien sollte fortan nur noch italienisch gesprochen werden, wer wollte, konnte das Angebot der Nazis annehmen und sich im deutschen Reich ansiedeln.

In Sepp Malls Roman „Ein Hund kam in die Küche“ verlässt eine südtiroler Familie ihren Heimatort und wird zunächst in Oberösterreich angesiedelt. Vater muss sowieso bald einrücken, aber es gibt noch ein weiteres Problem. Der jüngere Sohn Hanno ist aufgrund Komplikationen bei der Geburt behindert, er kann nur schwer gehen und sprechen. Unter dem Vorwand, ihn besser fördern zu können, muss er beim Eintritt ins Reich in ein Heim bei Innsbruck zurückgelassen werden. Beim Lesen wird schnell klar, dass es sich um ein Euthanasie-Heim handelt. Mall erzählt die tragische Geschichte aus der Sicht des zuerst 11jährigen zweiten Sohns, der zu seinem Bruder eine besondere Liebe entwickelt hat. Und er schafft immer wieder Bilder, die sich ins Gedächtnis brennen: Ein verendeter Hirsch im Wald wird zur Metapher des Leides.

Der jugendliche Ich-Erzähler findet überall, wo die Familie in ihrer Odyssee landet, einen Freund, eine Freundin. Und immer wieder besucht ihn auch sein inzwischen als an einer „Lungenentzündung“ verstorben gemeldeter Bruder Hanno. Sozusagen als Geist. Wer da nicht gerührt ist, hat kein Herz, gerade weil der Autor eben nicht klischeehaft oder auf Gefühle hinzielend schreibt. Dadurch entwickelt der Text eine ungeheure Wucht, der man sich kaum entziehen kann.

Nach Ende des Krieges kehren die Mutter und der jetzt 14jährige Erzähler wieder nach Südtirol zurück – sie passieren illegal die Grenze. Natürlich ist dort alles anders und als der Vater gebrochen aus dem Krieg kommt und zu trinken beginnt, ist es schwer, sich für die Familie eine bessere Zukunft vorzustellen. Der Roman ist zurecht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises.


In „Ein Hund kam in die Küche“ verlässt eine südtiroler Familie ihre Heimat während der Zeit von Mussolini um sich in Österreich anzusiedeln.

Sepp Mall: Ein Hund kam in die Küche
Leykam
192 Seiten
€ 25,50

Kinder alleingelassen – Der Erzählungsband „Mann im Mond“ von Lana Bastašić

Ein Sportlehrer verhöhnt eine Schülerin, weil sie zwar gut in Mathematik ist, aber beim Laufen nicht mit den anderen mithalten kann. Immer wieder lässt er sie im Kreis laufen, während die Mitschülerinnen längst wieder in ihren Klassen sitzen. Da bekommt er plötzlich keine Luft mehr und das Mädchen muss sich entscheiden, ob sie ihm zu Hilfe kommen soll. Eine alte Erbtante präsentiert in einem skurrilen alten Haus ihre Nichte ihren nackten Busen und lässt ihn von ihr anfassen. Ein Bub wird von seinem Vater zum Schwimmunterricht genötigt. Da erscheint ihm sein Idol Spiderman und reicht ihm nicht nur die fehlende Klopapierrolle auf der Toilette, sondern verschafft ihm auch den Mut, sich gegen Papa zu wehren. Die in Zagreb geborene und in Bosnien aufgewachsene Schriftstellerin Lana Bastašić, die inzwischen vor allem in Barcelona lebt, zeigt uns in ihren Erzählungen Kinder, die mit ihren Sorgen alleingelassen werden. Sie müssen Alkohol aus dem Laden holen oder auf ihrem Instrument üben, obwohl sie kein Talent haben. Die Autorin schafft es, die existenziellen Nöte dieser Kinder direkt in Sprache zu verwandeln. Ein verstörendes Buch.


Lana Bastašić: Mann im Mond
Erzählungen
Aus dem Bosnischen von Rebekka Zeinzinger
S.Fischer
206 Seiten
€ 25,50 

Wolf Haas erinnert in einem berührenden Buch an seine Mutter

Am Land ist das halt so. Man muss in einem eigenen Haus wohnen, denn zur Miete leben nur die Versager. Der vor allem als Krimischriftsteller erfolgreiche Wolf Haas hat die Geschichte seiner Mutter aufgeschrieben und herausgekommen ist ein Stück Heimatliteratur der anderen Art. Als er seine Mutter, die nur noch wenige Stunden von ihrem Tod entfernt ist, besucht, geht es ihr zum ersten Mal gut – was den Sohn ziemlich überrascht, hatte sie doch ihr Leben lang nur geklagt. Und zweifelsohne gab es auch viel zu klagen. Ihre Vorfahren, kleine Bauern in Salzburg, verloren durch den Wunsch, sich zu vergrößern, alles und immer, wenn sie genug für eine Anzahlung auf einen Grund gespart hatten, betrug die Anzahlung bereits das Doppelte. Die Mutter arbeitet nach dem Krieg in der Schweiz und erhält mit ihrem geringen Verdienst als „Servierschwester“ die Familie. Zurückgekommen wird sie im Haus, das sie selbst mitfinanziert hatte, nur geduldet und erkämpft sich eine Wohnung von der Gemeinde. Das große Ziel ihres Lebens wird ihr quasi erst mit dem Grab erfüllt – die paar Meter auf dem Friedhof nimmt sie mit dem Begräbnis in Besitz. Das erinnert an das berühmte Gedicht von Bertolt Brecht (Mein Bruder war ein Flieger): „Der Raum, den mein Bruder eroberte/Liegt im Guadarramamassiv/Er ist lang einen Meter achtzig/Und einen Meter fünfzig tief”.

Haas schildert das sparsame Leben seiner Mutter respektvoll, aber genau. Wie die Inflation das Geld vernichtete, wie sie als Übersetzerin für die Amerikaner arbeitete und im Krieg fern der Heimat Arbeitsdienst verrichten musste. Er nimmt aber auch immer wieder Details in die Erzählung. Etwa wie der Totengräber – die Gemeindewohnung lag direkt am Friedhof –  seiner schweren Arbeit nachging. Frag etwa, warum beim Begräbnis von Männern immer die Blechbläser spielen und bei jenen der Frauen nur der Chor singt. Zwischendurch blitzt natürlich auch der Humor von Wolf Haas auf: „Genervt von der tausendfach gestellten Frage ,Kann man vom Schreiben leben?‘ wäre ich auf den Titel gekommen ,Kann man vom Leben schreiben?‘“. Und während seine Mutter begraben wird, denkt der Erzähler darüber nach, ob er das gerade Erlebte und Gedachte für eine Poetik-Vorlesung verwenden, oder seinen Auftritt lieber absagen soll. Ein wunderbares kleines Buch zu einem großen Thema.


Wolf Haas erinnert in seinem neuen, berührenden Buch „Eigentum“ an seine Mutter. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.

Wolf Haas: Eigentum
Hanser
160 Seiten
€ 23,50

Ein indischer Thriller – Der Aufsteigerroman „Zeit der Schuld“ von Deepti Kapoor

Ajay ist ein Kind als plötzlich die Hausziege im Garten eines Nachbarn Gemüse frisst und der sich furchtbar rächt. Der Vater wird erschlagen, Ajay und seine Schwester getrennt gefangen und verkauft. In der Gegend um den Himalaya muss er bei einem Bauern arbeiten, man erzählt ihm, sein Lohn werde an seine Mutter geschickt. Eine Lüge, denn Ajay ist nur ein Leibeigener – und als sein Herr stirbt, hat er nicht einmal eine Bleibe. Im Café, in dem er arbeitet lernt er Sunny kennen, den Sohn eines Reichen und Mächtigen, der ihn schließlich zu seinem persönlichen Diener macht. Ajay gewinnt Ansehen, denn Sunny ist der einzige Sohn aus dem Wadia-Clans – sein Vater Bunty ist ebenso korrupt wie gefürchtet, er macht mit dem Ministerpräsidenten gemeinsame Sache. Doch dann gerät Sunny durch Drogen und Fehlplanungen auf die schiefe Bahn. Ajay muss ihn decken und geht sogar für ihn ins Gefängnis.

Die 1980 in Maradabad geborene Deepti Kapoor arbeitete zunächst als Journalistin ehe sie als Autorin bekannt wurde. „Zeit der Schuld“ ist das erste Buch von ihr, das auf Deutsch erscheint. Der Roman entwickelt von Beginn an einen ungeheuren Sog. Man ist fasziniert vom noch immer herrschenden Clan-System in Indien, wo sich niemand daran stößt, dass Korruption herrscht – das ist eben so und wer reich ist, wird geachtet. Kapoor erzählt geschickt und baut in ihren Roman gleich mehrere Höhepunkte ein. Eine Liebesgeschichte gibt es auch, denn Sunny verliebt sich ausgerechnet in eine junge Journalistin, die sogar von ihm schwanger wird und vom Patriachenvater nach London zum Studieren abgeschoben wird. Es ist wie eine spannungsgeladene Netflix-Serie mit vielen Höhepunkten, unerwarteten Wendungen und Stoff zum Grübeln – und „Zeit der Schuld“ soll auch bereits verfilmt werden. Ein trotz des Umfangs von fast 700 Seiten ein ungemein kurzweiliges Buck.


Deepti Kapoor: Zeit der Schuld
Aus dem Indischen von Astrid Finke
Blessing Verlag
688 Seiten
€ 29,50

Billie sucht ihren Vater – Der spannende Entwicklungsroman „Paradise Garden“ von Elena Fischer

Auch mit zwei Jobs – im Krankenhaus und in einer Bar – reicht das Geld kaum aus, um Mutter Marika und ihre 14-jährige Tochter Billie im reichen Deutschland ein Leben oberhalb der Armutsgrenze zu ermöglichen. Doch Trübsal blasen ist nicht ihr Ding. Marika gelingt es immer wieder, das Leben in der Sozialsiedlung mit Witz und Phantasie aufzuheitern. Nur wenn Billie wissen will, wer ihr Vater ist, schweigt die Mutter beharrlich.

Die junge deutsche Schriftstellerin Elena Fischer erzählt aus der Perspektive von Billie, als Leser schlüpft man in die Gedankenwelt des Teenagers ein, ihre Sprache ist einfach und direkt, will Billie doch Schriftstellerin werden. Der Roman beginnt mit dem Tod von Marika, der erste Teil ist also eine Rückblende. Das Unglück der beiden beginnt, als Billies Großmutter aus Ungarn bei ihnen in die kleine Wohnung einzieht, weil sie den Ärzten ihrer Heimat Ungarn nicht vertraut. Die können nämlich keinen Grund für ihre Beschwerden finden – wie bald darauf auch ihre deutschen Kollegen. Beim Streit mit Oma fällt Marika fatalerweise auf den Glastisch und stirbt. Billie steht plötzlich vor den Trümmern ihrer Kindheit, sie kommt in ein Heim für Minderjährige, woraus sie allerdings bald flieht – sie will unbedingt ihren Vater suchen, obwohl sie kaum Hinweise und kaum Geldmittel besitzt. In der Klapperkiste ihrer Mutter startet sie in den Norden, wo ihre Mutter nach ihrer Migration aus Ungarn wohnte.

„Paradise Garden“ ist streckenweise ein Road Novel, durch die kindlichen Gedanken Billies gerät die Erzählung bisweilen in die Nähe von Klischees. Doch Fischer weiß, wie sie die Nöte eines Teenagers darstellen kann. Der Showdown mit ihrem Beinahe-Vater gibt uns das Bild einer beschaulichen Biografie im Norden Deutschlands auf einer Insel mit nur wenigen wortkargen Menschen. Sozusagen ein Gefühls-Thriller.


Elena Fischer: Paradise Garden
Diogenes Verlag
348 Seiten
€ 24,50

Ich scheine, also bin ich – der Hochstaplerroman „Mindset“ von Sebastian Hotz

Dass jetzt ausgerechnet ein Social-Media-Star wie Sebastian Hotz, der als El Hotzo auf Twitter und Instagram als Satiriker mehr als 1 Million Follower hat, einen Roman über einen jungen Mann, der sich im Netz mit teuren Uhren und Autos als reicher Anleger präsentiert, schreibt, erscheint schlüssig. Schließlich hat Hotz sicher Erfahrungen als digitale Berühmtheit. Doch ein Typ wie Maximilian Krach, der aus der deutschen Provinz kommend das Studium hinschmeißt – schließlich haben das alle Erfolgreichen wie Steve Jobs oder Elan Musk gemeinsam –, um gleich an das große Geld zu kommen, macht leider noch keinen Roman. Auch wenn seine Inszenierung als Big Spender, während er in Wirklichkeit als Pizzabote arbeitet, durchaus amüsant zu lesen ist. Und so hat Hotz seinem Protagonisten eine Figur gegenübergestellt, die dessen Consulting-Geschwafel von den belämmerten Schafen und den erfolgreichen Wölfen auf den Leim geht. Mirko ist IT-Mann in einer ebenso faden wie soliden Firma und langweilt sich nicht nur im Job zu Tode. Maximilians „Mindset“ kommt ihm da gerade recht.

Mirko reibt sich freilich mitten in seiner größenwahnsinnigen Winner-Blase immer wieder am Alltag in einer deutschen Kleinstadt – Schützenfest inklusive. Das ist witzig beschrieben, „Mindset“ eignet sich bestens als leichte Strandlektüre. Richtig böse und scharf pointiert wird Hotz – im Gegensatz etwa zu Kollegen wie Heinz Strunk freilich nicht. Dem Buch fehlen mit Sicherheit weitere interessante Protagonisten – die Rezeptionistin Jasmin bleibt etwa zu blass beschrieben. Markos Arbeitskollegin Angela ebenso.

Trotzdem – ein Roman mit einigen originellen Wendungen und immer wieder aufblitzendem Humor. Warum sich Hotz freilich den kleinen Würstchen widmet und nicht den wirklich großen Playern im Consulting-Geschäft, wo sich bestimmt viel tiefere Abgründe auftun, ist freilich rätselhaft.  


Ich scheine, also bin ich – der Hochstaplerroman „Mindset“ von Sebastian Hotz. Buchtipp von Helmut Schneider.

Sebastian Hotz: Mindset
Kiepenheuer & Witsch
288 Seiten
€ 24,50

Am 21. September wird wieder Heimito von Doderer gedacht – Gedanken zu Doderers Kriminalroman „Ein Mord den jeder begeht“

Am 21. September wird wieder Heimito von Doderer gedacht – Hier ein paar Gedanken zu Doderers Kriminalroman „Ein Mord den jeder begeht“.

„Jeder bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer. Später erst zeigt sich, was darin war. Aber ein ganzes Leben lang rinnt das an uns herunter, da mag einer die Kleider oder auch Kostüme wechseln wie er will.“

Mit dieser sarkastischen Feststellung beginnt einer der untypischsten Krimis der Weltliteratur, nämlich Heimito von Doderers 1938 bei C. H. Beck erschienener Roman „Ein Mord den jeder begeht“ – bis 1951, dem Erscheinen der „Strudlhofstiege“, das einzige Buch Doderers mit nennenswertem Erfolg. Außerdem ist der Roman quasi ein Auftragswerk seines endlich gefundenen neuen Verlages, Doderer gab auch wie geplant zeitgerecht das Manuskript ab.

Der beschriebene Kriminalfall ist freilich kein geplanter Mord. Der Todesfall ist aber trotzdem entscheidend für das Schicksal des Protagonisten Conrad, dessen Jugend – sehr untypisch für einen Krimi – detailliert beschrieben wird. Doderer spart auch nicht mit eindrücklichen Bildern, die fast nach einer psychoanalytischen Auslegung schreien – etwas, das sich Doderer freilich verbeten hätte.

Der Junge Conrad fängt Molche und bewahrt einzelne Exemplare in seinem Zimmer auf. Sie gedeihen im Dunkeln, es riecht modrig und einmal bringt Conrad einfach so auch eine kleine Schlange um. Ein Spiegel im Vorzimmer lehrt ihn das Gruseln oder eher die Faszination des Abgründigen. Im Großen und Ganzen hat Conrad freilich – als Sohn eines reichen Tuchhändlers – eine sehr unspektakuläre Jugend, wenngleich seine Mutter stirbt und sein Vater ziemlich unzugänglich ist. Doch Conrad, von dem Doderer immer wieder betont, dass er eher kein Geistesblitz ist (er ist „klein Denker vom Beruf“), erhält nach dem Studium die Chance, sich im Betrieb eines Geschäftsfreundes seines Vaters in Württemberg zu bewähren. Bald heiratet er Marianne, die Tochter des Fabriksbesitzers, und erfährt – über ein Bild – vom Schicksal seiner Schwägerin Louison, die mutmaßlich einem Raubmord im Zug ums Leben gekommen ist. Wie sich später über viele Umwege herausstellt, trägt ausgerechnet Conrad selbst Schuld daran – indem er bei einem Ulk unter Jugendlichen mitmachte. Wichtiger ist freilich, wie Conrad in den Bann seiner toten Schwägerin gerät und den Kriminalfall lösen will. Dabei entgleitet ihm freilich sein unspektakuläres Leben. Schon bald nach der Hochzeit, findet er seine Frau nicht mehr begehrenswert und er sieht – trotz Warnungen aus seiner Umgebung – zu, wie sich Marianne nur noch mit ihren Sportsfreunden die Zeit vertreibt. Im Showdown fährt Conrad dann nach Berlin, wo er den längst entlasteten vermeintlichen Raubmörder verfolgt. Der Zufall spielt ihm dann den Aufklärer zu – jenen Jugendlichen, der mit ihm im Nebenabteil saß und der Louison einen Streich mit einem Totenkopf spielen wollte. Conrad fährt nach Hause, wo er seine Frau mit ihrem Liebhaber antrifft, er schleicht sich aus der Wohnung und kommt im Haus eines Freundes wiederum durch einen dummen Unfall ums Leben. Sein Tod scheint fast wie die Strafe für ein ungenütztes Leben zu sein. Denn, wie Doderer im Roman ausführt, bedeutet leben zu wissen, wer man selbst ist. Was natürlich an die berühmte Inschrift am Orakel zu Delphi erinnert.

Interessant ist, wie Doderer in diesem Roman noch jedes Detail der Erzählung auf die Wirkung und das Ende hin anordnet. So erklärt er etwa in der Mitte des Romans, wie eine elektrische Klingel funktioniert und dass es dabei zu einem Funkenschlag kommen kann. Ein solcher löst dann die Explosion aus, nachdem eine unglücklich liebende Bedienstete mittels Gas Selbstmord verüben will. Dass der Roman im III. Reich erscheinen konnte, bedingte natürlich Doderers Mitgliedschaft bei der Reichsschrifttumskammer. Aber das ist wieder eine andere Geschichte.


Am 21. September wird um 18.30 Uhr der Historiker und frühere Leiter der Büchereien Wien Alfred Pfoser im Justizpalast über Doderers Darstellung des Justizpalastbrandes in den „Dämonen“ sprechen. Chris Pichler liest ausgewählte Passagen. Eine Anmeldung ist nicht erforderlich.

Aufwachsen in Rom, leben zwischen Berlin und Italien – Veronica Raimos Familienroman „Nichts davon ist wahr“

Eine Tochter im Schatten des als Genie angesehenen Bruders – mit einem Vater, der die kleine Wohnung mit Zwischenwänden zu einem Labyrinth mach und einer Mutter, die ihren Kontrollzwang an ihren Kindern auslebt. Veronica Raimo erzählt in Ich-Perspektive von einem Leben, das ihrem ziemlich gleicht. Raimos Bruder ist ebenfalls Autor und sie pendelt gerne zwischen Berlin und Rom. Es ist ein Buch voller kleiner und großer Katastrophen – vom Leiden unter Verstopfung, einem gescheiterten Ausbruchsversuch als Teenager bis zu für sie schrecklichen Besuchen bei der Familie in Apulien und Freundinnen, bei denen der Kontakt abbricht.

Diese Aufzählung lenkt allerdings davon an, wie witzig dieses Buch zu lesen ist. Die Lektüre ist ein großes Vergnügen, denn Raimo besitzt eine stupende Lebensweisheit. Und natürlich nimmt man als Leser an, dass – konträr zum Titel des Buches – alles so oder so ähnlich geschehen ist. Die Langeweile in der Kindheit, die seltsamen medizinischen Behandlungsmethoden des Vaters, die dauernden Anrufe der Mutter und eine Abtreibung, die für sie doch nicht so easy wie gedacht abläuft. Und jede Familie hat auch ihre Geheimnisse – die Tochter kommt dahinter, dass ihr Vater eine Geliebte hatte und Mutter wahrscheinlich davon wusste. Am Ende stellt sich Raimo jener Frage, die sich Schriftsteller immer stellen müssen: Warum schreibt sie? Nämlich konkret sogar über „zwiespältige und frustrierende Dinge“. Wenn das Ergebnis so unterhaltend ist wie dieses Buch, können wir nur hoffen, dass Raimo damit weitermacht.


Veronica Raimo: Nichts davon ist wahr
Aus dem Italienischen von Aufwachsen in Rom, leben zwischen Berlin und Italien – Veronica Raimos Familienroman „Nichts davon ist wahr“ von Koskull
Klett-Cotta
224 Seiten
€ 22,70


Arm in der Schweiz – Lukas Bärfuss „Die Krume Brot“

Der 1972 in der Schweiz geborene Autor und Theatermacher Lukas Bärfuss ist bei uns weniger bekannt, in Deutschland aber – dank Büchner-Preis und vielen Theaterprojekten – ein Star. Er gilt als scharfer Sozialkritiker und sein neuer Roman „Die Krume Brot“ handelt auch von einer Frau, die für ein bescheidenes Leben hart kämpfen muss. Und das in der von Wohlstand geprägten Schweiz. Wir sind in den 70er-Jahren, viele Italiener arbeiten – ohne sozial halbwegs abgesichert zu sein – in Zürich. Adeline hat zwar auch eine italienische Herkunft – die Familiengeschichte ihrer Großeltern und Eltern wird breit erzählt –, sie wächst aber schon in der Schweiz auf – ihr Vater hinterlässt ihr allerdings nur Schulden, die sie aus Stolz auch noch übernimmt. Als Schweizerin wird sie von den Hiesigen aber trotzdem nie anerkannt. Dazu kommen eine sehr dürftige Schulbildung und die Unvorsichtigkeiten der Jugend – sie heiratet aus Liebe einen italienischen Arbeiter und bekommt eine Tochter als der schon wieder in den Süden Italiens abgetaucht ist. Für Adeline spricht ihr Fleiß und ihr starker Wille, sich und das Kind mit harter Arbeit in der Fabrik durchzubringen. Als sie dann einen Schweizer Grafiker und Unternehmer kennenlernt, scheint sich – obwohl sie ihn nicht liebt – das Blatt zu wenden. Doch natürlich stellt sich auch dieser als Schuft heraus, der eigentlich nur an dem Kind interessiert war. Adeline gerät in ihrer Verzweiflung über das von ihm entführte Kind sogar in die Nähe von Aktivisten der berüchtigten Brigate Rosse, deren Kampf sie als Deklassierte natürlich nachvollziehen kann. Sie lässt sich als Botin missbrauchen – im Gegenzug soll sie ihr Kind wiederbekommen. Das Ende scheint vorgezeichnet, Hoffnung spendet Bärfuss nicht. Aber hat Adeline überhaupt ein Recht auf ihr Kind, wenn sie ihm keine Zukunft bieten kann? Das muss sie sich als Mutter fragen.

„Die Krume Brot“ ist ein gut lesbarer Roman zu einem Thema, vor dem sich bekanntlich viele Autoren drücken. Bärfuss kenn das Milieu aber genau, er hat Erfahrungen als Arbeiter und war in seiner Jugend sogar mehrfach obdachlos. In einem Interview erklärte er: „Ich weiß, was es heißt, arm zu sein.“ Ein Buch, das nachdenklich machen sollte.


Lukas Bärfuss: Die Krume Brot
Rowohlt
224 Seiten
€ 23,50