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Die Österreichische Krebshilfe initiierte zwei Bücher mit Schicksalen von zwölf Frauen und zwölf Männern.

Persönliche Schicksale: Krebs mutig zum Thema machen

Die Österreichische Krebshilfe initiierte zwei Bücher mit Schicksalen von zwölf Frauen und zwölf Männern.

Im Buch „Mutmacherinnen“ berichten zwölf Frauen über ihre Diagnose Unterleibskrebs. Stellvertretend für tausende Frauen erzählen sie ihre Geschichte. Sie haben sich entschlossen, sehr offen mit ihrer Erkrankung umzugehen, um mit ihren Erfahrungen anderen, die vielleicht gerade selbst eine schwere Zeit durchleben, Mut zu machen. Parallel dazu ist auch das Buch „Mutmacher“ erschienen. Darin werden zwölf Männer mit Diagnose Prostata bzw. Hodenkrebs von Bestsellerautor Thomas Raab porträtiert. Ihre Geschichten könnten nicht unterschiedlicher sein – und doch haben sie viel gemeinsam. Was die Mutmacherinnen und Mutmacher vor allem eint, ist ihr offener Umgang mit der Erkrankung und ihr Mut, darüber zu sprechen.

Die Auswirkungen der Therapien sind je nach Ausgangslage unterschiedlich, ebenso der persönliche Umgang damit. Wichtig für Frauen und Männer mit der Diagnose Krebs ist, dass sie sich informieren und ausgiebige Gespräche mit ihren behandelnden Ärzteteams und ihren Vertrauenspersonen suchen. Auch die BeraterInnen der Österreichischen Krebshilfe stehen ihnen zur Seite und helfen ihnen, mit der schwierigen Situation fertigzuwerden. Informationen dazu gibt es in beiden Büchern.


Andrea ist jung, steht kurz vor der Hochzeit mit ihrem sie liebenden Freund Sascha und arbeitet sehr gerne und erfolgreich als Architektin. Alles paletti, könnte man meinen – doch Andrea fühlt sich irgendwie fremd in ihrem Körper, ihrem Kopf.

Frau, Therapeuten, Maschine – ein verstörender Roman von Sophie Reyer

Andrea ist jung, steht kurz vor der Hochzeit mit ihrem sie liebenden Freund Sascha und arbeitet sehr gerne und erfolgreich als Architektin. Alles paletti, könnte man meinen – doch Andrea fühlt sich irgendwie fremd in ihrem Körper, ihrem Kopf. Ihre Therapeutin Linda bestärkt sie nach vielen Gesprächen dabei, ihren Stiefvater, der sie als Kind im Rahmen einer obskuren Sekte vergewaltigt hat, vor Gericht zu bringen. Dessen Verurteilung bringt ihr freilich keine Genugtuung, im Gegenteil – ihr Zustand wird immer schlimmer. Schließlich ist sie davon überzeugt, eine Maschine zu sein – eine zweite Andrea, nur dazu da, die schlechten Gedanken und Eigenschaften der echten Andrea aufzufangen. Therapeutin Linda hat ihrerseits eine lieblose Kindheit zu verdauen, mit einer stets wütenden und schlagenden Mutter.

„Ein Schrei. Meiner“ von Sophie Reyer ist ein Roman über gebrochene Frauen. Die Wienerin erzählt abwechselnd von Andrea und Linda, manchmal hat man das Gefühl, die zwei Figuren wären die zwei Seiten einer Medaille. Es geht um Seelenstände, Verletzungen und natürlich psychische Krankheiten – Andrea landet in einer Klinik. Oft weiß man als Leser freilich nicht mehr, wo der Wahn beginnt und die Realität endet – zwischendurch glaubt man sich in einem Horrorroman. Bis auf Linda und Andrea sind alle anderen Figuren mehr angedeutet als gezeichnet – Sascha ist in seiner Gutmütigkeit geradezu irreal. Der Tragisches berichtende Epilog liest sich dann wie eine Zeitungsmeldung.

„Ein Schrei. Meiner“ von Sophie Reyer ist sicher interessant für Menschen, die sich psychische Probleme nicht vorstellen können. Die Autorin unternimmt den Versuch, Verständnis für andere Lebenswahrnehmungen zu erzeugen.


Die großen Kriege in Ostafrika – „Nachleben“, der Roman des Nobelpreisträgers Abdulrazak Gurnah.

Die großen Kriege in Ostafrika – „Nachleben“, der Roman des Nobelpreisträgers Abdulrazak Gurnah

Auch große Erzähler brauchen mitunter einen Preis, um hier im deutschen Sprachraum entdeckt zu werden. Der 1948 im (damaligen) Sultanat Sansibar geborene Abdulrazak Gurnah hatte schon viele bemerkenswerte Romane veröffentlicht, die auch ins Deutsche übersetzt wurden, aber erst der Literaturnobelpreis 2021 machte den in England lebenden und dort auch als Literaturprofessor an der Universität von Kent tätigen Autor auch bei uns bekannt. Jetzt wurde sein bisher jüngster Roman „Nachleben“, veröffentlicht 2020 in England, frisch ins Deutsche übertragen. Und der zeigt, was dieser aus Afrika stammende Erzähler draufhat.

„Nachleben“ beschreibt anhand des Schicksals einiger weniger Figuren die Umbrüche im ehemaligen Deutsch-Ostafrika vor und nach dem 1. Weltkrieg. Es zeigt ein von Stämmen dominiertes multikulturelles Land, das erst durch die Kolonisation seine staatliche Form erhielt.

Wir erleben wie sich der junge indisch-stämmige Khalifa mit Ilyaz, einen jungen Mann, der als Kind weggelaufen und auf eine deutsche Missionsschule geraten war, anfreundet. Doch bald schon fokussiert der Erzähler auf die Schwester von Ilyaz, die sozial völlig vernachlässigt bei Nachbarn aufwächst. Die kleine Afiya lernt bei ihm lesen – etwas, das damals noch etwas Kostbares war. Dass sie Lesen kann, erzürnt ihre Gastfamilie so sehr, dass sie brutal geschlagen wird. Inzwischen hat sich Ilyaz aus einer absurden Verbundenheit mit den Deutschen der Kolonialarmee des Kaisers im Ersten Weltkrieg angeschlossen. Seine Spur verliert sich, doch Afiya kann von Freund Khalifa in Sicherheit gebracht werden.

Während man als Leser erwartet, jetzt vom Schicksal Ilyaz‘ zu erfahren, führt Gurnah eine weitere Figur ein, anhand der wir tatsächlich den brutalen Weltkrieg in Afrika erleben. Der junge Hamza meldet sich bei der deutsche Schutztruppe, weil diese bei den Einheimischen großen Respekt genießt – denn alle fürchten sich vor den gnadenlosen Deutschen. Hamza ist schmächtig, aber hübsch und so findet ein deutscher Offizier Gefallen an ihm. Mithilfe dieses Offiziers überlebt er den Krieg trotzdem nur knapp, völlig mittellos kommt er in die Stadt, in der Khalifa bei einer Tischlerei angestellt ist. Er heiratet Afiya, die noch immer vergeblich auf Nachrichten von ihrem Bruder hofft. Erst auf den letzten Seiten erfahren wir von dessen Schicksal – Ilyaz gerät nach dem Krieg nach Deutschland, er wird Sänger und schließlich von den Nazis in ein KZ gesteckt.

An die erzählerischen Sprünge muss man sich erst gewöhnen, aber Gurnah schafft es mühelos, dass wir immer gebannt bei der Stange bleiben. Ein Roman über ein verdrängtes Kapitel Zeitgeschichte in Afrika.


Die großen Kriege in Ostafrika – „Nachleben“, der Roman des Nobelpreisträgers Abdulrazak Gurnah.

Abdulrazak Gurnah: Nachleben
Aus dem Englischen von Eva Bonné
Penguin Verlag
384 Seiten
€ 26,80

Helmut Schneiders Buchtipp: Einstein & Planck in den letzten Kriegstagen – ein Doku-Roman von Steffen Schroeder.

Einstein & Planck in den letzten Kriegstagen – ein Doku-Roman von Steffen Schroeder

Einstein & Planck in den letzten Kriegstagen – ein Doku-Roman von Steffen Schroeder.

Die beiden Väter der modernen Physik verband nicht nur eine Freundschaft, sondern auch die Liebe zur Musik. Albert Einstein spielte bekanntlich Geige, Max Planck verfügte über ein absolutes Gehör und überlegte sogar zunächst, Musik zu studieren – beide musizierten gerne auch gemeinsam. Und sie hatten beide auch – allerdings ganz unterschiedliche Probleme – mit ihren Söhnen. Einsteins hochsensibler Sohn Eduard lebte die meiste Zeit in einem Schweizer Sanatorium, Plancks Sohn Erwin war Politiker der Weimarer Zeit und Mitwisser bei Stauffenbergs Hitler-Attentat. Und als solcher wurde er nach dem gescheiterten Putsch auch sofort festgenommen. Bis zuletzt hoffte der berühmte Vater, seinen Sohn noch vor der Hinrichtung retten zu können.

Der Schauspieler (u.a. am Burgtheater unter Peymann) und Schriftsteller Steffen Schroeder hat für „Planck oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor“ sehr genau recherchiert und stellt in seinem Roman die letzten Jahre des Zweiten Weltkriegs aus der Sicht des Umfelds der beiden Physiker dar. Während Einstein in Princeton mit dem zunehmend seltsamer werdenden österreichischen Logiker Kurt Gödel täglich seinen Heimweg aus der Universität antritt, wird Erwin Planck vom berüchtigten Nazi-Richter Freisler zum Tod verurteilt. Und während Einstein nicht weiß, dass seine russische Geliebte eine sowjetische Spionin ist, plagt sich Planck nicht nur mit der Gewissheit des Endes seines Sohnes, sondern auch mit seiner schmerzhaften Arthritis.

Es geht in diesem Roman weniger um Physik und Politik, sondern vielmehr um die menschlichen Tragödien vor denen auch Berühmtheiten nicht gefeit sind. Auch die Ängste von Eduard Einstein im keineswegs idyllischen Burghölzli werden detailliert geschildert. Und wir erleben wie die Ärzte und Schwestern an der Charité bis zur völligen Erschöpfung um das Leben ihrer Patienten kämpfen – denn Erwin Plancks Frau ist Medizinerin. Ein spannendes Buch mit viel Atmosphäre über Schicksale in einer sehr schwierigen und gefährlichen Zeit.


In „Schaut, wie wir tanzen“ beschreibt sie anhand einer Familiengeschichte Marokkos Jahre nach der Unabhängigkeit in den 60er-Jahren.

Marokko in der Hippie-Ära – der Familienroman „Schaut, wie wir tanzen“ von Leila Slimani

Leïla Slimani wurde 1981 in Marokko geboren, lebt aber seit ihrem Studium in Paris. Ihr Roman „Dann schlaf auch du“ wurde nicht nur zu einem Bestseller, sondern auch mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet. In „Schaut, wie wir tanzen“ beschreibt sie anhand einer Familiengeschichte Marokkos Jahre nach der Unabhängigkeit in den 60er-Jahren. Im Mittelpunkt stehen der marokkanische Farmer und Patriarch Amine Belhaj und seine aus dem Elsass stammende Frau Mathilde. Kennengelernt hatten sie sich, als Amine im 2. Weltkrieg dort stationiert war. Der Roman beginnt mit dem Bau des Swimmingpools am Anwesen der Belhajs. Mathilde hat Jahre gebraucht, bei ihrem Mann diesen Luxus durchzusetzen, denn in seinen Knochen ist Amine immer noch Bauer und einer der von früh bis spät gewohnt ist, hart zu arbeiten. Außerdem will er keineswegs den Neid seiner Arbeiter wecken. Auch Mathilde hat fleißig am Aufbau ihres Wohlstandes gearbeitet, in ihrer Freizeit leistet sie einfache medizinische Hilfe für die Landbevölkerung.

An den beiden Kindern und am Schicksal der Schwester Amines zeigt Slimani den Wandel Marokkos von einer reinen Agrargesellschaft zu einem modernen Staat – mit all seinen Verwerfungen. Der regierende König überlebt mehrere Attentate, die intellektuelle Elite schielt auf den Kommunismus und verlangt eine Bodenreform. Doch während die Tochter Aïcha brav studiert und Ärztin werden will, ist der für Marokko ungewöhnlich große und blonde Sohn Selim ein Schulversager und anfällig für Ablenkungen. So verliebt er ich ausgerechnet in seine Tante, die von Amine kurzerhand mit seinem Vorarbeiter verheiratet wurde, nachdem sie von einem anderen schwanger geworden war. Und nach einem Zwischenspiel in einer Hippiekommune geht Selim ohne irgendjemanden zu informieren in die USA.

Slimani erzählt das Schicksal der Belhajs sehr anschaulich und mit viel Gespür auch für die weibliche Sicht der Ereignisse. Mathilde nimmt hin, dass Amine ständig Affären hat und findet sich als Ausländerin auch sehr gut in die Verhältnisse in Marokko ein. Ihre Tochter Aïcha lernt beim Studium in Straßburg natürlich auch eine liberalere europäische Gesellschaft kennen, doch sie bleibt auf ihren Job als Ärztin fixiert. Ihr Ehemann macht währenddessen eine Verwandlung durch, die all die Widersprüche des Landes zeigt. Als Student wurde er Karl Marx genannt, weil er Schriftsteller werden wollte und fest an die Revolution glaubte. Zum Beamten geworden verfolgt er zielstrebig seine Karriere und sieht es nicht gerne, wenn sich seine Frau emanzipiert. In einem der letzten Kapitel sitzt er im Gefängnis, wobei Slimani uns nicht über die Umstände aufklärt. „Schaut, wie wir tanzen“ ist zwar als zweiter Teil einer Trilogie angelegt, sollte aber auch als eigenständiges Werk funktionieren. Ein Leseerlebnis ist das Buch aber allemal.


In „Schaut, wie wir tanzen“ beschreibt sie anhand einer Familiengeschichte Marokkos Jahre nach der Unabhängigkeit in den 60er-Jahren.

Leïla Slimani: Schaut, wie wir tanzen
Aus dem Französischen von Amelie Thoma
Luchterhand Verlag
382 Seiten
€ 22,70

Stephen King ist nicht nur einer der erfolgreichsten Autoren aller Zeiten, sondern längst auch ein Phänomen der Pop-Kultur. Sein neues Buch ist ein Fantasyroman.

Stephen King wurde 75 – sein neues Buch ist ein Fantasyroman

Stephen King ist nicht nur einer der erfolgreichsten Autoren aller Zeiten, sondern längst auch ein Phänomen der Pop-Kultur. Über die zahlreichen Verfilmungen – „Shining“, „Carrie“, „Christine“, „Es“ um nur einige zu nennen – kennen ihn auch Menschen, die noch keine Zeile von ihm gelesen haben. In seiner 2000 erschienenen Autobiografie „Das Leben und das Schreiben“ berichtet er sehr offen über seine Anfänge als er als junger Autor eine Familie ernähren musste und dabei alkohol- und drogenabhängig wurde. An das Schreiben einiger Romane aus dieser Zeit kann er sich gar nicht mehr erinnern. Seiner Frau zuliebe ging er in eine Entzugsklinik und ist seither trocken.

Alkoholsucht kommt aber in seinem bekanntlich höchst umfangreichen Werk sehr oft vor. Etwa in „Shining“ – in Kubricks Verfilmung steht Jack Nicholson mehrmals in der Bar bevor er über seine Familie herfällt. Auch in seinem neuesten Roman – den 900-Seiten Fantasyriegel „Fairy Tale“ – verfällt der Vater des Erzählers Charlie nach dem Unfalltod seiner Frau dem Alkohol. Es gelingt ihm zwar mithilfe der Anonymen Alkoholiker wieder auf Spur zu kommen, doch Charlie lebt in ständiger Angst vor einem Rückfall seines Vaters.

„Fairy Tale“ ist ein – im Lockdown geschriebener – untypischer Stephen King-Roman, denn Fantasy ist nicht seine Domäne. Aber viele Themen, die das King-Universum ausmachen, sind auch in diesem Buch vorhanden. Hauptperson ist der 17jährige Charlie – einerseits Baseball-Star und 100 Kilo-Prügel, andererseits aber ist er hochsensibel und vielfach auch noch ziemlich kindlich. Sein Leben nimmt jäh eine Wendung, als er einem alten Nachbarn das Leben rettet als dieser von der Leiter fällt und sich nicht mehr ins Haus schleppen kann, um Hilfe zu rufen. Der alte Kauz Mr. Bowditch hat auch eine ebenso alte Schäferhündin namens Radar und bald schon sind der Hund und Charlie dicke Freunde. Als Mr. Bowditsch immer schwächer wird, vertraut er Charlie sein Geheimnis an. In Wirklichkeit ist er weit mehr als 100 Jahre alt – seine Verjüngung und seinen Reichtum verdankt er einer Art zweiten Welt, deren Eingang sich geradewegs im Schuppen auf seinem riesigen Grundstück befindet. Dieses Reich ist zwar von der Anlage her ziemlich märchenhaft, allerdings hat sich dort eine Katastrophe ereignet, die aus der Märchenwelt ein Horrorreich werden ließ. Um wenigstens Radar vor dem nahen Tod zu bewahren, steigt Charlie schließlich in diese alternative Welt hinunter.

Bevor er dies tut, vergehen schon einmal locker 200 Seiten und auch die detaillierten Beschreibungen der Anderwelt sind nicht immer spannend. „Fairy Tale“ gehört sicher nicht zu den besten Werken des Autors, dafür kann man aber das Erfolgsgeheimnis des Stephen-King-Universums sehr gut studieren. Natürlich spielt King mit unseren starken emotionalen Bindungen an unsere Haustiere. Wir leiden seitenweise mit der alten Hündin. Für amerikanische Leser sind auch die vielen Baseball-Sport-Szenen wichtig. Zwar wird schließlich in der Anderwelt ein höchst grausames Spiel auf Leben und Tod aufgezogen, die sportlichen Referenzen sind freilich für die Geschichte essenziell. Und andauernd spielt King auf literarische Vorlagen an – sei es alte Volksmärchen oder das Horroruniversum von H. P. Lovecraft. Klar kommt es in „Fairy Tale“ letztendlich zu einem Kampf zwischen den Guten und den bösen Monstern, die „Game of Thrones“-Mechanismen und Tricks beherrscht King allerdings weit nicht so gut wie den reinen Horror wie er ihn etwa in „Es“ beschrieben hat. Am besten ist er aber sowieso wenn er ganz nahe an den menschlichen Abgründen bleibt und sich der Horror aus der Psychologie der Protagonisten ergibt. Trotzdem: Happy Birthday für einen Autor, der sehr, sehr viele Menschen zum Lesen gebracht hat.


Stephen King ist nicht nur einer der erfolgreichsten Autoren aller Zeiten, sondern längst auch ein Phänomen der Pop-Kultur. Sein neues Buch ist ein Fantasyroman.

Stephen King: Fairy Tale
Aus dem Amerikanischen von Bernhard Kleinschmidt
Heyne
880 Seiten
€ 28,80

Politsatire – Christoph Peters: Der Sandkasten

Kurt Siebenstädter ist der beliebteste Morgeninterviewer und Moderator in einer öffentlich-rechtlichen Radiosendung in Berlin. Er stellt zur Aufstehzeit respektlos Fragen sowohl an Minister als auch an Oppositionspolitiker, Wissenschaftler und Skeptiker, Imame und Geistliche, was ihm in den Jahren den Ruf der Unbestechlichkeit einbrachte. Von den Leitartiklern nicht für ernst genommen, gefällt er sich in seiner Rolle als kritischer Hinterfrager. Glücklich ist dieser Skeptiker in Christoph Peters Politroman „Der Sandkasten“ allerdings schon lange nicht mehr. Seine jüngere Frau, die als Lehrerin arbeitet, nimmt er nicht für voll, seine pubertierende Tochter entgleitet ihm – sie will auf Schüleraustausch in die USA, all die Dinge, die er sich vorgenommen hat, ihr zu zeigen und mit ihr zu machen, sind niemals geschehen.

Und jetzt deutet ihm ausgerechnet eine Politikerin der SPD, die er noch dazu sexuell anziehend findet, in einem vertraulichen Gespräch mit, dass an seinem Stuhl gesägt wird. In Zeiten der Pandemie gehören sich gewisse Fragen nicht. Besonders nicht, wenn es um die Regierung geht, die gerade jetzt in Pandemiezeiten alle Macht unhinterfragt in Händen hält. Das erfährt er wenig später auch von seinem Chefredakteur. Denn dieser Roman spielt nur in einem sehr kleinen Zeitfenster – Siebenstädter kommt abends nach Hause, geht wieder zu Terminen und moderiert am nächsten Morgen seine letzte Sendung. Offenbar achtet er nämlich beim Überqueren einer Straße fatalerweise nicht auf den Verkehr.

Wobei in „Der Sandkasten“ selbst nur oberflächlichen Kennern der deutschen Politik sofort bei den sehr detailfreudig gezeichneten Politikern reale Akteure in den Sinn kommen. Da ist etwa der manisch-vorsichtige Gesundheitssprecher der SPD, ein „hypochondrischer Zwangsneurotiker“ wie es im Buch heißt, oder der aalglatte Liberalenchef und der karrieregeile, stumpf-rechte aktuelle Gesundheitsminister der Union. Man muss das aber alles gar nicht wissen oder beachten – ähnliche Typen gab es ja überall.

Interessanter ist sowieso wie der Autor die schnell vorgenommenen Transformationen in den Medien und der Politik beschreibt. Christoph Peters hat etwa sehr genau beobachtet, wie uniform sich die Mehrzahl der Medien in der Pandemie verhalten haben und wie sie dabei eine Menge an Glaubwürdigkeit einbüßten. Wobei sich Peters dabei keineswegs verbissen an die Materie heranmacht – seine Lust an pointierten Beschreibungen offenkundig. Man erhält in diesem Roman dann aber doch eine ziemlich echt scheinende und noch dazu kurzweilige Darstellung der Mechanismen in der heutiger Politik und in den Medienunternehmen.


Als Geflüchtete in Ost-Berlin aufwachsen – Aroa Moreno Durán: Die Tochter des Kommunisten. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.

Als Geflüchtete in Ost-Berlin aufwachsen – Aroa Moreno Durán: Die Tochter des Kommunisten

Als der Bürgerkrieg in Spanien verloren ging, flüchteten viele Republikaner in die Sowjetunion. Einige zog es nach dem Weltkrieg dann in die neugegründete DDR – zurück ins Franco-Regime konnten sie ja nicht. In ihrem literarischen Debüt erzählt Aroa Moreno Durán eine Familiengeschichte aus der Sicht des Mädchens Katia, das in den 1950er-Jahren in Ostberlin im Schatten des Eisernen Vorhangs aufwächst. Mit den Eltern spricht sie zwar Spanisch, aber sonst ist sie natürlich eine ganz normale junge deutsche Frau, die sich nach dem Bau der Mauer freilich zunehmend eingesperrt fühlt. Obwohl die Eltern glühende Kommunisten sind und sie die Angebote der Bürokratendiktatur, in die sich die DDR immer mehr entwickelt – wie das bisschen Jugendkultur und Weltsolidarität – gerne annimmt, bleibt dieses Gefühl von Unfreiheit bestehen. Zumal Katia einen jungen Mann aus dem Westen kennenlernt, der ihr anbietet, sie nach West-Deutschland mitzunehmen. Mit falschen Papieren gelingt die Flucht über die Tschechoslowakei und Österreich, aber die Eltern und die jüngere Schwester bleiben ahnungslos zurück. Es wäre – wie sich später auch bestätigt – zu gefährlich gewesen, sie einzuweihen.

Damit beginnt Katias schmerzliche Integration in einer Kleinstadt in Süddeutschland. Ihr sehr familiär eingestellter Mann sieht sie als Hausfrau, ihr in Ostberlin begonnenes Studium zählt hier nichts. Sie bekommt Kinder und vermisst schmerzlich ihre Eltern, ihre Schwester und ihre Freundin. Jeglicher Kontakt ist unmöglich.

Aroa Moreno Durán kann Katias Schmerz und schließlich das Scheitern von Katias Ehe sehr subtil und doch nachvollziehbar darstellen. Heimat scheint letztlich immer dort zu sein, wo man aufwächst – auch wenn das Leben damals alles andere als ideal war. Nach der Wende sucht Katia ihre Familie und erfährt – im Nachhinein nicht wirklich überrascht – dass ihr inzwischen verstorbener Vater ein Stasi-Spitzel in der spanischen Community war. Ein Roman, der bewegt und der zeigt, dass sich Menschen nicht so einfach von einer Kultur in eine andere transferieren lassen. Und das selbst wenn sprachliche Barrieren nicht vorhanden sind.

Als Geflüchtete in Ost-Berlin aufwachsen – Aroa Moreno Durán: Die Tochter des Kommunisten. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.

Aroa Moreno Durán: Die Tochter des Kommunisten
Aus dem Spanischen von Marianne Gareis
btb
176 Seiten
€ 22,70

Identität und „Rasse“ entkommen wir nicht – Anna Kim: Geschichte eines Kindes. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.

Identität und „Rasse“ entkommen wir nicht – Anna Kim: Geschichte eines Kindes

Eigentlich sind es 2 Kinder, um die es in diesem Roman geht und nicht – wie der Titel ankündigt – um eines. Denn die Erzählerin, eine Autorin aus Wien, berichtet nicht nur von einem Adoptionsfall in Wisconsin Anfang der 50er-Jahre, sondern in der Folge auch von der eigenen Kindheit als Tochter einer koreanischen Mutter und eines deutschen Vaters. In beiden Fällen geht es um Identität und tatsächlich auch um „Rasse“.

Das amerikanische Problem stellt sich folgendermaßen dar: Eine aus Österreich stammende Sozialarbeiterin setzt alle Hebel in Bewegung um den Vater eines gleich bei der Geburt von der Mutter zur Adoption freigegebenen Kindes zu finden. Denn der Bub hat „negroide Züge“ und eine dunkle Hautfarbe. Nun gab es in Wisconsin – das ist der US-Bundesstaat nördlich von Chicago – aber fast keine Schwarzen. Und die Mutter kann oder will nicht sagen, wer der Vater gewesen kein könnte. Man müsste annehmen, dass das auch völlig egal ist, zumal sich schnell eine – weiße – Familie findet, die das Neugeborene aufnehmen will. Doch die Sozialarbeiterin geht mit geradezu biblischem Eifer an die Sache heran und verfolgt die Kindesmutter so aufdringlich, dass sie bald schon Job und Untermietzimmer verliert. Ihr Argument: Das dunkelhäutige Kind würde in der weißen Gesellschaft von Wisconsin Schaden nehmen, es solle unbedingt beim mutmaßlich schwarzen Vater aufwachsen. Anna Kim zitiert seitenweise Berichte des Sozialamtes, die in ihrer Diktion an die Rassengesetze der Nazis erinnern. Schließlich wird die Sozialarbeiterin von ihren Vorgesetzten eingebremst und entlassen.

Dieser Fall auf den die Erzählerin während ihres Stipendiums in Wisconsin durch Zufall über ihre Zimmerwirtin – die Frau des damals adoptierten Buben – stößt, erinnert diese aber auch an die Probleme ihrer eigenen Kindheit, an das Aufwachsen als – asiatisch ausschauendes aber vollkommen deutsch/österreichisch sozialisiertes Kind. Auch in den USA wird sie natürlich immer über ihre Herkunft befragt. Und ihre Zimmerwirtin erklärt ihr immer wieder, wie wichtig die Herkunft sei. Ihr Mann – der einzige Afroamerikaner im Städtchen – habe sehr darunter gelitten, als einziges schwarzes Kind im Kindergarten sitzen zu müssen. Dazu kommt, dass die Eltern der Erzählerin eine schwierige Beziehung hatten und sie sich gegen die Mutter gewandt hatte, die dann wieder nach Südkorea gezogen ist.

Kim verknüpft geschickt die beiden Fälle. Die Erzählerin findet nämlich noch heraus, dass die Tochter jener Krankenschwester in Wisconsin in Wien Hietzing wohnt und auch noch gerne über ihre Mutter Auskunft gibt. Am Ende rätselt man als Leser freilich unweigerlich über den Anteil von Realität in diesem Roman, denn Anna Kim ist eben auch Tochter einer südkoreanischen Mutter und eines deutschen Vaters und ist in Österreich aufgewachsen. Der wunderbar sachlich-reflektierte Stil der Autorin lädt auf jeden Fall zum Nachdenken über Identität und das Aufwachsen als Vertreter einer Minderheit in einer Mehrheitsgesellschaft ein.


Eine junge Pastorin, der Gott abhanden kommt – das wäre eigentlich ein Thema, das mich als nicht religiösen Menschen überhaupt nicht interessiert. Aber das ist eben die Kunst eines guten Autors und in diesem Fall einer guten Autorin, etwas Uninteressantes so zu erzählen, dass es von der ersten Zeile an packt.

Eine junge Pastorin in Köln – Tamar Noort: Die Ewigkeit ist ein guter Ort

Eine junge Pastorin, der Gott abhanden kommt (da muss ich unwillkürlich an Erich Kästners Gedicht „Sachliche Romanze“ denken: „Als sie einander acht Jahre kannten/ (und man darf sagen: sie kannten sich gut), / kam ihre Liebe plötzlich abhanden. / Wie andern Leuten ein Stock oder Hut.“) – das wäre eigentlich ein Thema, das mich als nicht religiösen Menschen überhaupt nicht interessiert. Aber das ist eben die Kunst eines guten Autors und in diesem Fall einer guten Autorin, etwas Uninteressantes so zu erzählen, dass es von der ersten Zeile an packt.

Die frisch ausgebildete Pastorin Elke passiert ihr Gottesverlust auch just im Kölner Karneval (den sie nicht versteht und hasst), als sie einer sehr alten Sterbenden das letzte Gebet sprechen muss und nicht kann. Sie fährt daraufhin zu ihrem Vater in die Provinz, wo sie aufgewachsen ist und wo ihr Vater nicht nur schon lange Pastor ist, sondern auch hofft, dass seine Tochter in seine Fußstapfen tritt – in der kleinen Gemeinde, die sie gut kennt. Mit dem Ort verbindet sie aber nicht nur gute Erinnerungen. Ihr Bruder ist dort als Jugendlicher ertrunken – sie war bei der angeheiterten Bootspartie dabei und hegt bis heute Schuldgefühle.

Aber statt in Diskussionen mit dem immer schwächer werdende Vater doch noch Gott zu finden, stürzt sich Elke sozusagen voll ins Leben – sie, die in Köln eigentlich einen Freund hat, trifft sich mit einem Jahrmarktsakrobaten – einen Motorradfahrer, besucht eine Freundin von früher und kümmert sich um den Papagei ihrer verstorbenen Tante. Es ist viel los in diesem Buch und es ist eindeutig diesseitig. Aber natürlich wird auch viel über das Leben und die verschiedenen Lebensentwürfe nachgedacht. Wer tatsächlich Gott sucht, wird freilich hier keine Antworten finden. Denn wie schrieb schon Ludwig Feuerbach: „Gott ist eine leere Tafel, auf der nichts weiter steht, als was du selbst darauf geschrieben.“