Guillermo Arriaga gehört zu den bekanntesten und erfolgreichsten Drehbuchautoren („Amores Perros“, „21 Gramm“ oder „Babel“) und Schriftsteller Mexikos. Der nun in deutscher Übersetzung erschienene 800-Seiten-Roman „Das Feuer retten“ erhielt 2020 den prestigeträchtigen „Premio Alfaguara de Novela“ und rangierte ein Jahr lang auf dem ersten Platz der mexikanischen Buch-Charts. Es ist die Geschichte einer Liebe zwischen verschiedenen Klassen, die es eigentlich nicht geben kann – so aussichtslos ist sie.
Die aus besten Kreisen stammende, wohlhabende Tänzerin Marina Longines – verheiratet mit einem braven, erfolgreichen, aber faden Mann und Mutter dreier Kinder – lernt bei einem Auftritt mit ihrer Tanzgruppe im Gefängnis den wegen mehrfachen Mordes verurteilten Indio José Cuauhtémoc kennen. Der ist aufgrund einer traumatisierten Kindheit mit einem Kämpfer für Indio-Rechte als Vater allerdings hochgebildet und kennt sich bestens in der Welt der Kultur und Bildung aus. Lange Zeit kann Marina ihrer Liebe frönen, inklusive Sex im Gefängnis – wenn man die richtigen Menschen schmiert, geht in Mexiko fast alles. Nur die engsten Freunde wissen Bescheid, nicht aber ihr Mann. Wobei die Geschichte von Tag zu Tag komplizierter wird, denn JC – wie José Cuauhtémoc genannt wird – hat eben eine kriminelle Vergangenheit, die ihn einholt. Er ist nämlich schon zum zweiten Mal wegen Mordes verurteilt. Das erste Mal hat er seinen dementen Vater, der ihn bis zum letzten Atemzug zu quälen versuchte, angezündet. Und wieder in Freiheit geriet er trotz redlichen Bemühens über einen Freund mitten in einen Narcos-Bandenkrieg. Leider vergnügt er sich auch mit der Freundin des Freundes als dieser in die Berge flüchten muss. Als dieser dahinterkommt, verfolgt er JC mit blankem Hass. „Das Feuer retten“ ist auch ein veritabler Rache-Thriller wie man den Roman überhaupt auch als eine etwas kolportagehafte Narcos-Räuberpistole lesen könnte. Arriaga erzählt im Original in einem mexikanischen Unterschichts-Slang an dem sich die deutsche Übersetzung von Matthias Strobel mittels deftigem Vokabular und vielen englischen lautmalerischen Phrasen herantastet. Politisch korrekt kann das natürlich niemals sein, bei einigen Beschreibungen von Frauen zuckt man richtig zusammen und auch die Sexszenen sind in ihrer Ausführlichkeit deutlicher als man das als Leser wünscht.
Das große Plus des Romans sind aber die Schilderungen der sozialen Wirklichkeit des Landes. Die große Mehrheit der Mexikaner schuftet sich ab, ohne jemals auch nur in die Nähe eines sorgenfreien Lebens kommen zu können. Schlimmer noch – im Krieg zwischen den Drogenbanden und der Regierung stehen sie immer in der Schusslinie. Die Korruption zerfrisst jede staatliche Sicherheit – wer zahlt, schafft an, Gesetze sind Auslegungssache. Mexiko ist ein gespaltenes Land: „12 der 100 reichsten Menschen der Welt sind Mexikaner. Gleichzeitig sind 55 Prozent der mexikanischen Bevölkerung sehr arm. Diese Widersprüche haben nun ihren Siedepunkt erreicht“, erklärte Guillermo Arriaga kürzlich in einem Interview.
Warum man sich die 800 Seiten dann doch gerne antut? Arriaga kann spannend erzählen und bietet auch textlich viel Abwechslung. So lässt er den Bruder der Hauptperson die gemeinsame grausame Jugend erzählen und zwischendurch sind immer Texte von Gefangenen eingestreut, die beim Schreibseminar mitgemacht haben. So erfährt man wie die zu Verbrecher Gewordenen ticken (auch wenn die vermeintlichen Dokumente natürlich viel zu literarisch sind). Marina erzählt in der ersten Person und JC wird auktorial dargestellt.
Und natürlich will man wissen, wie die Geschichte ausgeht – und das verrät der Autor als geschickter Drehbuchschreiber natürlich erst am Schluss. Vielleicht wird der Wälzer ja auch noch ein Film…
Iris Blauensteiner ist sowohl Filmerin als auch Autorin. Mit „Atemhaut“ ist ihr ein Roman über die Entfremdung zwischen Mensch & Maschine gelungen. Am 20. Mai liest sie bei Rund um die Burg. Foto: sandraphotoart.at
Iris Blauensteiner studierte ‚Kunst und digitale Medien‘ an der Akademie der bildenden Künste Wien sowie Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien. Ihre Filme, die sie seit 2004 vor allem in den Bereichen Drehbuch und Regie umsetzt, zuletzt „Die Welt ist an ihren Rändern blau“, „die_anderen_bilder“, „Rast“ und „Schwitzen“ waren auch auf internationalen Festivals zu sehen. Ihr Debütroman „Kopfzecke“ erschien 2016.
Interview mit Iris Blauensteiner
Was war bei Ihnen zuerst da, das Bedürfnis zu schreiben oder zu filmen?
Iris Blauensteiner: Das Filmen, ich habe eigentlich mit 15 schon damit begonnen, nämlich im Medienzen-trum in der Zieglergasse, wo ich Animationsfilme gemacht habe. Mit dem Schreiben habe ich erst später, mit 24, angefangen – auch weil man als Filmerin ja immer auch schreiben muss, etwa Drehbücher oder Begleittexte für Filme. Filmen und Texten sind meine zwei ästhetischen Sprachen, mit denen ich arbeite. In beiden Genres kann ich Atmosphären, Zwischentöne und Zwischenmomente beschreiben und erzählen. Auch komplexere Dynamiken in mehreren Schichten und Ebenen lassen sich in beiden Medien darstellen.
Wie ist die Idee zu diesem Roman entstanden?
Mein Ausgangspunkt war eine WG und Edin war nur eine von mehreren Figuren. Letztlich hat mich dann seine Geschichte am meisten interessiert, weil sich in ihm die Problemfelder Leistungsgesellschaft oder Männlichkeit sowie die Ebene Computerspiele zeigen lassen. Er steht dann im Roman vor dem Dilemma, dass er von Maschinen ersetzt wird und er gleichzeitig Maschinen zur Bewältigung dieser Konflikte einsetzen will.
Ich habe den Roman vor allem als die Geschichte eines Arbeitslosen gelesen, ist das so angelegt?
Ja, Edin definiert sich ja über viele Werte wie Gender, seine Biografie und eben über seine Arbeit. Und wenn das auf einmal plötzlich weg ist, was bleibt dann noch? Als Künstlerin kenne ich solche prekären Verhältnisse natürlich auch persönlich, die künstlerische Arbeit ist ja hochprekär. Man muss permanent Rahmen schaffen und schauen, dass die auch eingehalten werden, dazu muss ich die Finanzierungen aufstellen. Ich mache das natürlich gerne und habe es mir auch ausgesucht, ich verfolge auch aufmerksam die Fair-Pay-Bewegung im Kulturbereich.
Romane in der 2. Person Singular sind extrem selten. Warum haben Sie die Du-Perspektive gewählt?
Für mich ist es eigentlich eine Ich-Perspektive, denn Edin spricht sein Ich sozusagen als Du an. Es ist ein bisschen so wie „Stell dir vor“ und so weiter. Dadurch bekommt das so eine entrückte Position und ist Ausdruck dafür, dass er sich selbst entfremdet ist und neben sich steht. Eigentlich ist es seine Aufgabe im Roman, zu einem Ich zu finden.
Welche Funktion hat das exzessive Computerspielen im Roman?
Die Fremd- und Selbstbestimmung ist ein großes Thema im Buch. Auch die verschiedenen Rollen, die er spielt. Am Computer steuert er einen Avatar, der er selbst ist und dann auch wieder nicht. Durch das Internet ist einfach eine neue Welt entstanden, die Menschen viel mehr Rollen ermöglicht und zu viel mehr Rollen drängt, als sie schon vorher hatten.
Edin baut am Schluss eine Maschine, ist das so etwas wie ein Android?
Eigentlich ist es eine ganz banale Maschine – mit Luftpumpen, aufblasbaren Kissen, ummantelt mit Latex. Ich habe ja eine Art Bedienungsanleitung dazu geliefert. Man kann sich das als etwas großes Warmes vorstellen, das atmet. Und das gibt Edin ein Gefühl von Sicherheit.
Iris Blauensteiner wird am 20. Mai um 17 Uhr bei „Rund um die Burg“ aus ihrem Roman lesen.
Andrea Roedigs Mutterbuch „Man kann den Müttern nicht trauen“ handelt von einem zerplatzten Aufstiegstraum. Ein Buchtipp von Helmut Schneider Foto: Markus Rössl
Die Geschichte von Andrea Roedigs Mutter Lilo aus Düsseldorf beginnt wie das Versprechen vom sozialen Aufstieg in der Wiederaufbauzeit. Die von der eigenen, kriegstraumatisierten Mutter nicht geliebte und oft geschlagene Lilo heiratet in eine alte Dynastie aus Metzgern und wird Frau Chefin. Man kann sich vieles viel früher leisten als andere, macht teure Urlaube und der Vater fährt Porsche. Doch der Traum vom Wohlstand platzt jäh, beide Eltern sind längst Alkoholiker, Lilo nimmt zudem „Mother’s little helper“ und wird medikamentenabhängig. Die kleine Andrea und ihr kleinerer Bruder Christoph müssen nach dem Konkurs der Metzgerei, der auch durch das Aufkommen der Supermärkte verursacht wird, sogar bei Schulkameraden um Essen betteln. Am Ende wird die Familie getrennt, Andrea wächst bei der Großmutter und im Internat auf, sieht Lilo jahrelang nicht – ihr Verhältnis zueinander ist vergiftet.
Andrea Roedigs „Man kann den Müttern nicht trauen“ schont keine Beteiligten, auch die Erzählerin selbst nicht. Auch von Schuldzuweisungen ist das sehr flüssig und intelligent erzählte Buch frei. Im Grunde geht es in dieser Geschichte weniger um den sozialen Abstieg als vielmehr um soziale Kälte. Lilo liebt schöne Dinge und ist auch bereit, dafür viel zu arbeiten, ihre Tochter bleibt ihr aber ein Leben lang fremd. 2015 ist Lilo verstorben. Andrea Roedig wurde schließlich als Publizistin und Autorin erfolgreich, seit 2007 lebt sie in Wien, wo sie auch die Literaturzeitschrift „Wespennest“ herausgibt. Am 20. Mai wird sie um 20 Uhr beim Festival RUND UM DIE BURG im Landtmann Bel Etage aus „Man kann den Müttern nicht trauen“ lesen.
https://wienlive.at/wp-content/uploads/2021/03/Bildschirmfoto-2020-04-15-um-14.31.27-1-300x138.png00Helmut Schneiderhttps://wienlive.at/wp-content/uploads/2021/03/Bildschirmfoto-2020-04-15-um-14.31.27-1-300x138.pngHelmut Schneider2022-05-04 12:22:012022-05-04 12:22:16Buchtipp: Andrea Roedig, Man kann den Müttern nicht trauen
Damon Galguts Roman „Das Versprechen“. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.
Am Beginn des Romans herrscht noch Apartheit in Südafrika, am Ende tritt gerade der wegen massiver Korruptionsvorwürfe beschädigte Präsident Jacob Zuma, wir sind also im Jahr 2018, zurück. Erzählt wird der Abstieg der weißen Familie Swart. Aber wie ein roter Faden zieht sich das titelgebende Versprechen, das die im Sterben liegende krebskranke Mutter ihrer schwarzen Dienerin Salome gegeben hat, nämlich das windschiefe Haus am Rand der Farm nahe Pretoria, in der Salomes Familie lebt, ihr zu schenken. Im Apartheitsregime ist das gesetzlich noch nicht einmal möglich, aber nacheinander brechen der Vater und die Kinder dieses Versprechen. Erst am Schluss des Romans, als die greise Salome bereits in ihr Heimatdorf zurückziehen will, wird es von der jüngsten Tochter Amor eingelöst. Da steht das Gut allerdings bereits vor der Zwangsversteigerung und niemand weiß, ob nicht Gebietsansprüche von den Besitzern vor der Familie Swart zu erwarten sind.
Damon Galgut konnte mit „Das Versprechen“ den Booker-Preis gewinnen und wie zumeist bei dieser höchsten Auszeichnung für ein englischsprachiges Werk, kann man sich auf diese Jury verlassen. Galgut verwebt meisterhaft die südafrikanische Historie mit der Familiengeschichte der Swarts. Ohne jemals geschwätzig zu werden, schafft er es, Stimmungen und Personen treffend zu beschreiben. Der Roman ist auch klug gegliedert, denn in jedem der vier Kapiteln gibt es ein Begräbnis. Erst stirbt Ma an Krebs, dann kommt Pa bei einem strohdummen Versuch, zugunsten seiner geliebten Kirchengemeinde einen Weltrekord zu brechen, ums Leben. Als Miteigentümer einer Reptilienfarm wird er von einer Kobra, in deren Gehege er Tage ausharren wollte, gebissen. Tochter Astrid, gut verheiratet aber gelangweilt, wird bei einem Raubüberfall ermordet und der älteste der Geschwister, Anton, der einst gegen den Vater und den Staat, der ihm als Soldat zumutete, auf schwarze Demonstranten zu schießen, rebellierte, jagt sich – zum Alkoholiker geworden – eine Kugel in den Kopf. Einzig Amor führt ein selbstbestimmtes, wenngleich sehr karges Leben als Krankenschwester in einer Aids-Station. Sie, die auf alle Einkünfte aus ihrem Erbe verzichtet, erinnert jedes Familienmitglied immer wieder an das Salome gegebene Versprechen. Neben den Familienmitgliedern lässt Galgut aber auch geldgierige Geistliche ebenso auftreten wie Obdachlose oder einen spirituell erleuchteten Yogalehrer. Der Autor weiß zweifelsohne auch seine Leser zu unterhalten. Eines der besten Romane der Saison!
Damon Galgut: „Das Versprechen“ Aus dem südafrikanischen Englisch von Thomas Mohr Luchterhand ISBN: 978-3-630-87707-5 368 Seiten € 24,70
https://wienlive.at/wp-content/uploads/2021/03/Bildschirmfoto-2020-04-15-um-14.31.27-1-300x138.png00Helmut Schneiderhttps://wienlive.at/wp-content/uploads/2021/03/Bildschirmfoto-2020-04-15-um-14.31.27-1-300x138.pngHelmut Schneider2022-04-26 09:56:512022-04-26 14:54:44Buchtipp: Damon Galgut, Das Versprechen
Otto Brusattis schildert in „Der Gaukler mit Beethoven & Co.“ Das Leben eines Komponisten heute. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.
Der „kleine Komponist und Kunstbezweifler“ Edgar Arnold David Niehaus (EADN) wird 1968 in Halle/Saale in der DDR geboren und hätte als Partei-Günstling überall Karriere machen können. Alleine – er entschied sich für die Musik. Und bei erstbester Gelegenheit nutzte er die offenen Grenzen und setzte nach Westberlin über, wo er in der alternativen Hausbesetzer-Szene bald schon die linken Freunde mit neuer und somit unverständlicher Musik nervte. Früh wird er auch krank. Wie es dazu kam, dass EADN in den fest eingezirkelten Kreisen der Avantgarde reüssieren und recht gut von Stipendien leben konnte, letztlich aber nicht unzufrieden als besserer Unterhaltungsmusiker auf Kreuzfahrtschiffen endete, davon erzählt Otto Brusatti in seinem Musik-Roman Roman „Der Gaukler mit Beethoven & Co.“ Das Buch ist zugleich Parodie, Satire, Schelmenroman und Anti-Künstlerroman. Thomas Manns berühmter Komponistenroman „Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde“ wird dabei ebenso lustvoll geplündert und parodiert wie Nietzsches Biografie oder Wittgensteins „Tractatus“. Sein Edgar Niehaus ist ebenso arrogant wie anscheinend untalentiert, er zieht dabei aber ungeniert über Musikerkollegen her und hat damit auch lange Zeiten beträchtliche Erfolge in Talkshows und bei akademischen Symposien.
Geht er auch einen Pakt mit dem Teufel ein? Just an zwei Weihnachtsabenden kommt es zu seltsamen Begegnungen mit zwei mysteriösen Zeitgenossen, krank ist er ja schon und in der Liebe hat er auch wenig Glück. Einmal bringt er in Wien – neben Berlin und Leipzig seine Schicksalsstadt – eine angehende feministische Literatin dazu, ihm Textfetzen für ein Oratorium zu liefern und einmal findet er tatsächlich ausgerechnet in Ungarn eine von Primzahlen besessene Frau, mit der er einige unbeschwerte Tage verbringen kann. Nach einem vielversprechenden Abschied, begeht die anscheinend schwerkranke Frau allerdings Suizid. Niehaus macht weiter mit der Zerstörung von Traditionen, er will Wittgenstein vernichten, was ihm wiederum ein Stipendium einbringt. Er macht auch das zu Musik. Das letzte große Werk, dessen Aufführung mindestens sieben Stunden dauern würde, ist schließlich ein Balladenprojekt. Stefan George und immer wieder Franz Schubert sind seine geistigen Führer, an denen er sich abarbeitet. Letztlich holt ihn seine Krankheit, die nie genau diagnostiziert wird, aber ein und er stirbt mit nur 51 Jahren – immerhin keine Primzahl und immerhin bleibt ihm ein langes Darben in geistiger Umnachtung wie Nietzsche und Manns Adrian Leverkühn erspart.
Der Roman ist natürlich in erster Linie für musikalische und literarische Feinspitze ein Vergnügen, da allerlei Verweise und Anspielungen zu entschlüsseln wären. Brusatti beschreibt mit den Augen seines Protagonisten die eitlen musikalischen Eliten und den trägen, selbstgefälligen Kulturbetrieb. Beim Festival „Rund um die Burg“ am 20./21. Mai wird er seinen Roman dem Publikum vorstellen.
Otto Brusatti wird am 20. Mai, 18.30 Uhr, bei „Rund um die Burg“ im Landtmann Bel Etage bei freiem Eintritt aus seinem Roman lesen.
https://wienlive.at/wp-content/uploads/2021/03/Bildschirmfoto-2020-04-15-um-14.31.27-1-300x138.png00Helmut Schneiderhttps://wienlive.at/wp-content/uploads/2021/03/Bildschirmfoto-2020-04-15-um-14.31.27-1-300x138.pngHelmut Schneider2022-04-22 09:11:502022-04-22 09:48:39Buchtipp: Otto Brusatti, Der Gaukler mit Beethoven & Co
Wie der Westen reichlich sonderbar und besonders reich wurde – die sehr andere Kulturgeschichte von Joseph Henrich. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.
Als wir bei EineStadt.EinBuch. den in China aufgewachsenen Dichter und Filmer Dai Sijie zu Gast hatten, erzählte er mir im Interview vom Kulturschock den er erlitt, als er in Paris zu studieren anfing und ihm eine Putzfrau beiläufig mitteilte, dass sie heute Abend in die Pariser Oper ginge. Nicht die Tatsache, dass eine Putzfrau in die Oper geht, war der Schock, sondern dass anscheinend jeder und jede in Paris einfach so „ich“ sagt. Das machte mir zum ersten Mal bewusst, dass wir die westliche Kultur des Individualismus als für alle geltend und alternativlos ansehen. Dieser Hochmut hat nicht nur schon Kriege entschieden – die USA scheiterten in Vietnam, Irak oder Afghanistan auch an der Unfähigkeit, sich in ihre Gegner einzufühlen –, sondern behindert schlicht das Verständnis für anderer Gesellschaftsformen. Es ist eben auch eine Art kulturelle Aneignung, allen Ländern dieser Welt die Demokratie aufzwingen zu wollen – eine schmerzliche Erfahrung, die wir im Westen kaum akzeptieren können. Ein Beispiel: Als in Afghanistan noch halbwegs demokratische Wahlen abgehalten wurden, befragte man Wähler, warum sie eine bestimmte Partei gewählt hatten und bekam dabei erstaunliche Antworten. Die meisten erklärten ohne Umschweife, dass sie den bestimmten Politiker gewählt hatten, weil der über 7 Ecken mit ihnen verwandt war. Politische Programme interessierten sie gleich Null.
Der amerikanische Anthropologe Joseph Henrich hat nun auf 650 Seiten nachzuzeichnen versucht, warum der Westen in Wirklichkeit höchst „sonderbar“ ist. Sonderbar oder seltsam ist die Übersetzung des englischen WEIRD, das bei Henrich für Western, Educated, Industrialized, Rich und Democratic steht. In „Die seltsamsten Menschen der Welt. Wie der Westen reichlich sonderbar und besonders reich wurde“ beschreibt der Professor in British Columbia die Entstehung der vieldiskutierten westlichen Werte aus den Verboten, die die Kirche im untergehenden Römischen Reich und im Frühmittelalter durchsetzen konnte. Konkret die Monogamie und das Verbot der Vetternehe. In den Jahrhunderten davor war es in den meisten Kulturen üblich, dass die erfolgreichsten/reichsten Männer mehrere Frauen für sich beanspruchten. Für die Frauen ein gar nicht so schlechter Deal wie man auf dem ersten Blick meinen könnte, denn es lebt sich als 3. oder 4. Frau eines mächtigen Mannes sicher besser als als einzige Frau eines Hungerleiders. Allerdings blieben dadurch viele junge Männer unbeweibt und ohne Perspektive auf ein besseres Leben. Ein Umstand, der in allen Kulturen der Kriminalität Vorschub leistet. Doch dadurch, dass erfolgreiche Männer sehr viele Kinder hatten legten sie auch nur wenig Wert auf deren Ausbildung – etwas, das Gesellschaften in ihrer Weiterentwicklung allerdings brauchen. Die weitverbreitete Sitte der Heirat zwischen Verwandten (Vettern und Cousinen) trug außerdem zur Bildung von Clans bei – Verwandtschaft wurde wichtiger als Talent und Eignung. In ihrem Absolutheitsanspruch für Gott waren dem Christentum und später dem katholischen Papsttum starke verwandtschaftliche Beziehungen allerdings ein Dorn im Auge. Alle sollten sich Gott unterordnen, auch für die Könige sollten die heiligen Gesetze der Ehe gelten.
Einen weiteren Schub in Richtung einer sonderbaren Gesellschaft brachten die Ideen des Protestantismus und der Alphabetisierung. Als Luther 1517 seine berühmten 95 Thesen an die Schlosskirche in Wittenberg nagelte, konnte in Deutschland gerade einmal 1 Prozent der Bevölkerung lesen. Die eigentlich revolutionäre Idee Luthers bestand nun nicht in der Ablehnung des Papsttums, sondern in der Eigenermächtigung des Individuums. Jeder sollte selbst die Bibel lesen können und so übersetze er dann auch die – bis dahin nur Priestern in Lateinisch vorbehaltene – Bibel ins Deutsche. Die Erfindung des Buchdrucks tat ein Übriges und so waren bis ins beginnende 20. Jahrhunderts protestantische Länder wesentlich besser alphabetisiert als katholische. Die Idee, jeder solle für seinen Glauben selbst verantwortlich sein, bewirkte aber auch, dass andere Bindungen in der Gemeinschaft weniger wichtig wurden.
Es gibt etwa einen einfachen Test, um herauszufinden, wie sehr sich Menschen als eigenständige Personen fühlen. Bittet man Probanten verschiedener Kulturen den Satz „Ich bin…“ zu vervollständigen, bekommt man ganz unterschiedliche Antworten. Im Westen definieren sich Individuen etwa über ihren Beruf, ihre Bildung, ihre Heimat oder ihre Vorlieben. In den nicht sonderbaren Kulturen hingegen viel stärker über ihre Bindungen innerhalb ihrer Gesellschaft – etwa „Ich bin der Sohn von, der Ehemann von, der Bote meines Onkels usw.“
Henrich behauptet gleich zu Beginn, dass sich in den westlichen Kulturen über die Jahrhunderte die Gehirne neu verdrahtet hätten. Unsere Fähigkeit zu Lesen ging etwa zu Lasten der Fähigkeiten, ein Gesicht schnell zu erkennen. Warum aber wurde das westliche Modell so erfolgreich? Hätte jemand von außen auf die Welt um 1000 nach Christus geblickt, hätte er vorhergesagt, dass sich entweder die Araber oder die Chinesen zur Weltherrschaft aufschwingen würden – beide Kulturen waren wesentlich weiter entwickelt als die nach dem Zusammenbruch des römischen Imperiums rückständigen Europäer. Während der Kreuzzüge staunten die christlichen Ritter über die hohe Kultur der Moslems, kluge Herrscher wie Friedrich II. lernten viel von der arabischen Welt – so erfuhren Europäer etwa nur über die Vermittlung von arabischen Gelehrten von der Existenz eines Aristoteles. Um 1900 war hingegen ein Gutteil der Welt entweder direkt als Kolonie oder als schwache Staaten von Europa oder den USA abhängig. Die meisten Forscher machen dafür das Aufkommen der Wissenschaften im Gefolge der Kolonialisierung verantwortlich. Henrich will in seinem Buch aber erklären, warum sich gerade im Westen die Wissenschaften so erfolgreich entwickelt haben. Er beschreibt die vielbeschworenen westlichen Werte wie Menschenrechte, Freiheit, repräsentative Demokratie oder Wissenschaft nicht als Resultat der Aufklärung oder der Vernunft, sondern als Folge psychologischer Phänomene, die durch ein Bündel von Regeln in der Frühzeit des Christentums aufgestellt worden waren. Interessanterweise sind sonderbare, also westlichen Gesellschaften, Fremden gegenüber weniger misstrauisch, halten sich eher an Gesetze und sind mehr am Tausch von Waren interessiert.
Henrich unterstützt seine These durch eine Reihe psychologischer Tests. Etwa das berühmte Ultimatum-Spiel. Sie werden gebeten mit einem ihnen unbekannten Menschen in einem anderen Raum 100 Euro zu teilen. Und zwar mit folgenden Spielregeln: Sie teilen, der Deal hält aber nur, wenn ihr Partner dem zustimmt. Lehnt er ab, bekommen beide kein Geld. In den westlichen Kulturen bieten die Spieler meist 50:50 an, in allen anderen Kulturen behält der, der das Geld aufteilt. in der Regel mehr – etwa im Verhältnis 80:20. Das Interessante ist nun, dass die Westler geringe Beträge ablehnen – mit dem Ergebnis, dass niemand etwas bekommt –, während überall sonst sich die zweiten Spieler auch mit kleinen Beträgen zufriedengeben. Das ist objektiv gesehen natürlich eine rationale Entscheidung – allerdings eine, die Westler als unfair empfinden. In einigen wenigen Kulturen, in denen das Schenken ein hoher Stellenwert einräumt wird, bieten die ersten Spieler sogar mehr als sie für sich selbst behalten wollen.
Henrichs Thesen sind zweifelsohne faszinierend und in den meisten Punkten nachvollziehbar. Sein Werk ist fast so etwas wie eine Ergänzung zum meistdiskutierten Buch der letzten Jahre, nämlich Yuvak Noah Hararis „Eine kurze Geschichte der Menschheit“. Alles lässt sich mit seinen Ideen natürlich nicht erklären. Warum sind die größten Verbrechen der Menschheit – wie etwa der Holocaust – gerade in den hochentwickelten Gesellschaften verübt worden oder wie konnte ein noch radikaleres System gegen die Vetternwirtschaft wie der Kommunismus sich in Ländern wie Russland oder China durchsetzen. Doch das meiste ist schlüssig. Wer etwa wissen will, warum autokratische regierte Staaten für Korruption stärker anfällig sind als Demokratien, wird auch eine Antwort finden. Und psychologischen Studien, die rein auf Untersuchungen an westlichen Universitäten nach dem Motto „Wir befragen unsere Collegestudentinnen und Collegestudenten und schließen dann auf die ganze Welt“ durchgeführt werden, wird man nach diesem Buch sicher grundsätzlich misstrauen.
https://wienlive.at/wp-content/uploads/2021/03/Bildschirmfoto-2020-04-15-um-14.31.27-1-300x138.png00Helmut Schneiderhttps://wienlive.at/wp-content/uploads/2021/03/Bildschirmfoto-2020-04-15-um-14.31.27-1-300x138.pngHelmut Schneider2022-04-15 08:35:392022-04-15 08:37:01Buchtipp: Joseph Henrich, die seltsamsten Menschen der Welt
Berit Glanz beschreibt in seinem neuen Roman „Automaton“ die Working-Class-Poor der Globalisierung. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.
Unter Automaton versteht man Menschen, die digitale Foto- und Videoaufnahmen sichten und bewerten. Tiff ist eine von ihnen, die von zuhause Aufträge für Firmen annimmt, die anscheinend behaupten, schon eine funktionierende KI zu besitzen, in Wirklichkeit aber ihre Überwachungsvideos von Menschen sichten zu lassen. Der Job bei einer Plattform, den sie vorher hatte und bei dem sie Fotos rauslöschen musste, die den Anstand oder gesetzliche Bestimmungen verletzen, war noch anstrengender und noch schlechter bezahlt. Mit einigen digitalen Leidensgenossen hat sie eine Chatgruppe gegründet, um sich bei der öden Arbeit die Zeit zu vertreiben. Als sie bei der Überwachung eines Garagentors ein paarmal einen Mann sieht, der zum Einschlafen seinem Hund vorliest, ist sie fasziniert. Als dann der Mann verschwindet und der Hund verzweifelt nach ihm Ausschau hält, ist sie alarmiert. Was ist mit dem augenscheinlich obdachlosen Mann geschehen. Mit ihren Chat-Freunden versucht sie, herauszufinden, was geschehen ist. Sie hat dabei anfangs keine Ahnung, wo auf der Welt sich dieses anonyme Garagentor befindet. Die Firma für die sie arbeitet hat alle eine Geheimhaltungsklausel unterschreiben lassen – sie kann dort also auch nicht nachfragen.
Als Leser wird einem aber bald klar, dass es sich um den anderen Erzählstrang des Romans handeln muss. Die Autorin schildert das ebenso karge und von Finanznöten geplagte Leben von Stella in Oakland, einem wenig reizvollen Stadtteil von San Francisco. Nach Jobs in einer Fischfabrik und als Erntehelferin in einer Marihuana-Farm arbeitet sie jetzt in einer Suppenküche für Bedürftige. Und dort trifft sie einen Mann, der niemals lange an einem Ort bleiben will. Wir ahnen es, das muss jener Obdachlose sein, der verschwunden ist und wir erleben, wie die globale Rettungsversuche von Tiff letztlich erfolgreich werden.
Berit Glanz ist ein Roman gelungen, der uns nicht nur die prekäre Situation von Onlinearbeiterinnen zeigt, sondern auch eindrucksvoll beschreibt, wie vernetzt unsere Welt inzwischen geworden ist. Die digitalen Fäden, die um den Erdball gesponnen sind, verbreiten aber auch ein gehöriges Gefühl von Unbehagen.
Annäherung zwischen Generationen – Kim Hye-Jins Mutter-Tochter-Roman aus Südkorea. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.
Ein Blick in die Untiefen der Wirtschaftsboom-Region Südkorea: Kim Hye-Jin zeigt uns in ihrem ersten auf Deutsch erhältlichen Roman „Die Tochter“ Menschen, die kaum etwas vom großen Wohlstand abbekommen und die an der noch immer sehr traditionellen Gesellschaft leiden. Die Mutter besitzt zwar nach dem Tod ihres Mannes ein Mietshaus, doch das ist so desolat und die Mieter so knapp bei der Kasse, dass sie auch noch im Alter in einem Seniorenheim als Pflegerin arbeiten muss, während ihre Tochter Green trotz Studiums nur eine kaum bezahlte Assistentenstelle an der Uni hat. Doch das macht der Mutter weniger Sorgen als Greens Beziehungsstatus, denn diese lebt mit einer Köchin zusammen, die im Roman immer nur das Mädchen genannt wird. Aus der Traum vom sicheren Hafen der Ehe mit Enkelkindern. Gleichgeschlechtliche Beziehungen sind in Korea bestenfalls vom Gesetz geduldet, in der Gesellschaft aber weiterhin verpönt.
Kim Hye-Jin erzählt aus der Sicht der Mutter, wir bekommen somit ihre große Abneigung gegen die Partnerin ihrer Tochter unmittelbar mit. Aber im Lauf der Handlung dürfen wir erleben, dass die beiden mehr gemeinsam haben als sie zugeben würden. Um Geld zu sparen, das sie nicht haben, ziehen die Tochter und das Mädchen bei der Mutter ein. Green engagiert sich auf der Uni für Lehrende, denen man aufgrund ihrer Homosexualität ohne Angabe von Gründen den Lehrvertrag nicht mehr verlängert hatte. Ein aussichtsloser Kampf bei dem Green schließlich sogar brutal von Gegendemonstranten verprügelt wird.
Aber die Mutter ist auf ihre Art nicht weniger engagiert. Als sie mitbekommt, dass ihre demente Patientin trotz der großen Summen, die sie für das Seniorenheim bezahlt hat, in eine Abteilung ohne intensive Pflege abgeschoben wird, „befreit“ sie diese kurzerhand und bringt sie zu sich nach Hause. Kim Hye-Jin zeichnet das Bild einer sozialdarwinistischen Gesellschaft, in der nicht einmal mehr Reichtum ein gutes Leben garantiert. Wenn sich niemand um einen kümmert, kümmert es eben niemand mehr. Ein hartes, aber notwendiges Buch, das Wert ist, gelesen und diskutiert zu werden.
https://wienlive.at/wp-content/uploads/2021/03/Bildschirmfoto-2020-04-15-um-14.31.27-1-300x138.png00Helmut Schneiderhttps://wienlive.at/wp-content/uploads/2021/03/Bildschirmfoto-2020-04-15-um-14.31.27-1-300x138.pngHelmut Schneider2022-03-23 14:41:342022-03-23 14:56:31Buchtipp: Kim Hye-Jin, Die Tochter
Als junge, arme Französin in Marokko – Helmut Schneiders Buchtipp über Abigail Assors harten Liebesroman „So reich wie der König“.
Marokko in den 90ern: Die Masse der Menschen ist bitterarm, doch einige wenige schwimmen in Geld und Luxus. Mit Autos und Rolex-Uhren wird der Status angezeigt. Sarah ist 16, bildschön und geht auf die französische Schule in Casablanca, wo ihre Klassenkameraden vom Chauffeur nach Hause gebracht werden. Doch sie selbst ist darauf angewiesen, sich ein Mittagessen zu schnorren, die Schule kann sie nur besuchen, weil französische Staatsbürger hier kein Schulgeld zahlen müssen. Aber Sarah hat begüterte Freunde, die sie gerne auf ein Panini einladen. Ihre Mutter, die ihr ganzes Geld an einen Betrüger verloren hat, ist eine bessere Prostituierte. Beiden leben sie am Rande einer Barackensiedlung, haarscharf vom untersten Elend der Stadt getrennt.
Sarahs einziges Kapital ist ihre Schönheit, ihre Liebhaber spendieren ihr allerdings nicht viel mehr als Jeans und ein paar Mahlzeiten. Da hört sie von Driss, dessen Familie reicher sein soll als der König. Sarah träumt davon, seine Frau zu werden und im Familienpalast zu wohnen. Aber Driss ist ein Einzelgänger, der sich fast nur für sein Motorrad zu interessieren scheint. Sarah schafft es letztendlich doch, seine Geliebte zu werden. Ja, es sieht sogar bald nach echter Liebe aus. Auf seine Weise ist allerdings auch Driss ein Gefangener seiner Herkunft. Sein Vater, der größte Textilfabrikant des Landes, hält ihn für einen Versager. Ein Deal mit einem amerikanischen Partner geht schief. In Sarah findet er endlich jemanden, der ihm zuhört und der zu ihm zu gehören scheint. Als Driss seiner Familie eröffnet, Sarah heiraten zu wollen, erntet er nur Hohn und Ablehnung. In der Schlüsselszene des Romans kommt Sarah anlässlich des islamischen Opferfestes zum ersten Mal ins Haus der Familie. Sarah ist absichtlich schwanger geworden, um ihre Chancen auf eine Hochzeit zu erhöhen. Allerdings hat sie nicht mit der Kaltschnäuzigkeit der Reichen gerechnet. Die Mutter eröffnet ihr unumwunden, was mit den Geliebten ihres Mannes, die ein Kind von ihm haben, passiert. Sie werden ganz einfach aus dem Haus geworfen.
Abigail Assor wurde 1990 in Casablanca geboren und studierte in Paris und London. Ihr Debütroman „So reich wie der König“ schaffte es bereits auf die Shortlist für den Prix Goncourt. Denn Assor ist ohne Zweifel ein erzählerisches Talent. In ihrem Roman wird Casablanca zum nach Armut und Verfall stinkenden Moloch, mit heruntergekommenen Jugendlichen, fliegenverseuchten Imbissbuden und überquellenden Mülleimern. Die Botschaft des Romans ist einfach und brutal – sowohl bei den ganz Armen als auch bei den Reichen dreht sich alles immer nur um Geld.
https://wienlive.at/wp-content/uploads/2021/03/Bildschirmfoto-2020-04-15-um-14.31.27-1-300x138.png00Helmut Schneiderhttps://wienlive.at/wp-content/uploads/2021/03/Bildschirmfoto-2020-04-15-um-14.31.27-1-300x138.pngHelmut Schneider2022-03-16 14:24:182022-03-16 14:26:20Buchtipp – Abigail Assor, So reich wie der König
Michel Houellebecq überrascht mit einem Familienroman. Eine Buchkritik von Helmut Schneider.
Ganz ehrlich – die letzten Romane des französischen Starschreibers Michel Houellebecq waren kein Vergnügen für Leser, blieb man doch stets völlig deprimiert zurück. Alter weißer Mann schimpft auf die Gesellschaft, deren Niedergang er zugegebenermaßen sehr beredt und kompromisslos seziert – dafür reichte es aber auch, die Standard-Kommentare zu lesen. „Vernichten“, der neue mehr als 600 Seiten starke neue Roman des Parisers, ist trotz des wenig hoffnungsvollen Titels und die nicht minder traurigen Vorkommnisse, die darin geschildert werden, aber anders. Denn Houellebecq zeigt uns, wie eine Familie irgendwie doch zusammenhält und das Wachkoma des Vaters zu bewältigen versucht und wie sogar eheliche Liebe in schwierigen Zeiten wieder aufzublühen vermag.
Der Plot: Paul ist ein gutverdienender Finanzexperte im Stab des französischen Wirtschaftsministers Bruno, der ihm fast ein Freund geworden ist. Seine Luxusmaisonette ist nur wenige Schritte vom Ministerium entfernt, seine ebenfalls im Staatsdienst arbeitende Frau Prudence sieht er seit 10 Jahren allerdings kaum noch. Sie haben sich auseinandergelebt und ihre Zeiten in der gemeinsamen Wohnung so getaktet, dass sie sich so gut wie nie sehen. Im Bett läuft sowieso schon längst nichts mehr.
Beunruhigend im Büro sind einige Cyberattacken auf den Wirtschaftsminister – ein Meme zeigt gar seine Enthauptung als perfekt gemachten Comic-Strip. Die Geheimdienste der freien Welt stehen vor einem Rätsel. Wir sind dabei mitten in einer heiklen politischen Situation – der Sanierer Bruno steigt zum starken Mann in Frankreich auf, weil der Präsident nach seinen 2 Regierungsperioden (unverkennbar Macron) jetzt einen Platzhalter bis zur wieder möglichen Kandidatur braucht. Der Roman spielt im Jahr 2027 und der tatsächlich als Präsident kandidierende Mann ist ein substanzloser Fernsehmann und Populist, der letztendlich nur gegen seinen geschickten jungen Konkurrenten von der Rechten gewinnt, weil die Terroristen vor der Wahl ein Massaker im Mittelmeer verüben.
Just da bekommt Pauls Vater einen Schlaganfall und fällt in ein Wachkoma, das heißt er versteht alles, was um ihn herum geschieht, kann aber nur blinzeln und bestenfalls den Finger bewegen. Die Familie – neben Paul gibt es noch die überzeugte Katholikin Cécile und den lebensfremden jüngeren Bruder Aurélien – findet sich um die zweite Frau des Vaters – die herzensgute, aber ungebildete Madleine – im großen Haus der Familie in der Provinz ein. Dabei war der alte Mann anscheinend ein führender Geheimdienstler, was er vor seiner Familie aber gut versteckt hatte. Bald wird klar: Wenn der Vater im Spital bleibt, wird er sterben, denn die Betreuung in den staatlichen Einrichtungen ist nach den Budgetkürzungen katastrophal – Houellebecq scheut sich nicht, diesen Umstand Euthanasie zu nennen. Also lässt die Familie – eingefädelt durch Céciles Ehemann, einen arbeitslosen Notar mit Verbindungen zur rechtsextremen Szene – den Vater aus dem Spital entführen. Die Ärzte erstatten sowieso keine Anzeige. Doch leider hat das Auswirkungen auf die helfende Krankenschwester, die längst zur Geliebten von Aurélien geworden ist und die noch dazu keine bleibende Aufenthaltsgenehmigung hat. Der erste Hammerschlag: Aurélien bringt sich um. Der zweite folgt wenig später. Paul geht nach längeren Zahnschmerzen endlich zum Zahnarzt und der hat sofort den Verdacht, dass bei ihm ein Mundhöhlenkrebs wuchert. Es folgt eine ziemlich detaillierte Schilderung der Behandlung durch Chemotherapie – eine komplizierte, aber lebensverlängernde Operation, die ihm das Kiefer und die Zunge kosten würde, lehnt Paul entschieden ab.
Schwere Kost also, doch schon vor der Erkrankung haben Paul und Prudence wieder zueinander gefunden, sie erleben einen zweiten Frühling in ihrer Beziehung – für Houellebecq eine Gelegenheit, wieder ein paar Sexszenen einzufügen. Die hätte man ehrlicherweise genauso wenig gebraucht wie die vielen Träume von Paul, die im Buch auftauchen. Früher hieß es unter Schriftstellern: Erzähle einen Traum und die verlierst einen Leser, aber Houellebecq kann sich das anscheinend leisten. Am Ende gewährt er dem Paar einen fast heiligen Frieden. Das ist dann echt berührend, wenn der Grantscherm der modernen Literatur die letzten innigsten Momente eines Ehepaars mit gröstmöglicher Anteilnahme schildert. Ein Houellebecq also, den man auch psychisch weniger gefestigten Lesern empfehlen kann. Die vielen Unwahrscheinlichkeiten und die doch ziemlich undifferenzierte Darstellung der Terroristen – wer sie sind, wird nie aufgeklärt – nimmt man da in Kauf.