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Ein intellektueller Spaß mit einer berühmten Familie – Joshua Cohens Roman „Die Netanjahus“.

Ein intellektueller Spaß mit einer berühmten Familie – Joshua Cohens Roman „Die Netanjahus“

Schreibt ein bekannter amerikanischer Autor ein Buch mit dem Titel „Die Netanjahus“ tendiert die Erwartungshaltung in Richtung Schlüsselroman (wobei bei einem solchen natürlich keine echten Namen verwendet würden). Noch dazu, wenn der Untertitel „Oder vielmehr der Bericht über ein nebensächliches und letztlich sogar unbedeutendes Ereignis in der Geschichte einer sehr berühmten Familie“ lautet. Der in Brooklyn lebende Joshua Cohen – Liebling der Intellektuellenmedien wie Village Voice und NYT – spielt natürlich mit unserer Gier nach Klatsch und Skandalen. Das heißt aber nicht, dass er am Ende doch noch Pikantes berichten würde. Doch bevor die „Netanjahus“ tatsächlich ins Geschehen kommen, ist das halbe Buch um.

Seine Hauptperson und Erzähler ist ein Historiker namens Ruben Blum, der das Pech hat in den 50er-Jahren, der einzige Jude in Corbindale – einer völlig unbedeutenden Universität am Rande des Staates New York – zu sein. Er ist noch dazu – eines der vielen Klischees, die Cohen genüsslich auftischt – auf Steuern spezialisiert („Eine Geschichte Amerikas in zehn Steuern“ ist eines seiner Bücher) und muss nicht nur wegen seines eindrucksvollen Barts jedes Jahr den Weihnachtsmann für das College spielen, sondern wird noch dazu bei allen Fragen betreffs Judentums um Rat gefragt, obwohl er sich längst als Amerikaner fühlt. Und da beginnt die Misere für ihn. Er soll auf Geheiß seines Rektors einen jüdischen Professor beurteilen, der sich am College beworben hat, und ihn sozusagen der Kollegenschaft präsentieren. Blum ist gar nicht begeistert, ist doch dieser Ben-Zion Netanjahu, wie er schnell herausfindet, bereits in ganz Israel verhasst. Er bekommt sogar regelrechte Warnungen vor diesem obskuren Historiker zugespielt.

Der taucht dann auch leibhaftig bei Blum auf – und zwar mitsamt seiner Mischpoche – also seiner rechthaberischen Frau und seinen drei ungezogenen Söhnen Jonathan, Benjamin und Iddo. Das bringt Chaos in das beschauliche Leben von Ruben Blum, der sehr zurückgezogen mit seiner Frau und pubertierenden Tochter in der Vorstadt lebt. Im Folgenden geht nicht nur der teure Farbfernseher zu Bruch als die Netanjahus um Geld für das Hotel zu sparen bei den Blums einziehen. Das ist zweifelsohne sehr lustig und wunderbar elegant erzählt. Schenkelklopferischen Klamauk darf man sich von diesem Roman allerdings nicht erwarten, Cohen handelt seitenweise die haarsträubenden Thesen von Ben-Zion Netanjahu über die Judenverfolgung und den Holocaust ab. „Die Netanjahus“ bleiben ein intellektueller Spaß, für

Joshua Cohen 2022 mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet wurde.

Die Figur des Ruben Blum erinnert laut Experten an den Literaturwissenschaftler Harold Bloom, der Cohen kurz vor seinem Tod vom Campusbesuch „eines obskuren israelischen Historikers Ben-Zion Netanjahu“ in New Haven erzählt hatte. Das letzte Kapitel des Romans stellt die geschilderten Geschehnisse dann noch einmal auf eine andere Ebene.


Am Samstag, 20. Mai, wird Anna Herzig um 11.30 Uhr „12 Grad unter Null“ beim Literaturfestival Rund um die Burg präsentieren.

Das Patriarchat in Reinkultur – Anna Herzigs Roman „12 Grad unter Null“

Am Samstag, 20. Mai, wird Anna Herzig um 11.30 Uhr „12 Grad unter Null“ beim Literaturfestival Rund um die Burg präsentieren.

In dem fiktiven Land Sandburg wird ein Gesetz erlassen, das Männern für die Zeit, die sie mit Frauen verbracht haben, eine finanzielle Entschädigung zugesteht. Schließlich ist das ja Arbeit und die Frauen sollen endlich lernen, auf eigenen Beinen zu stehen. Die Vorsitzende des Hohen Gerichts in Sandburg hat damit kein Problem, denn sie hat sich ihr Leben lang von Männern ferngehalten. Das Ergebnis ist erwartbar brutal: Alleingelassene Frauen mit Kind werden noch zusätzlich von den Forderungen ihrer Ex-Partner belastet, das Kinderkriegen wird ihnen als Manipulation vorgeworfen. Frauen sind schlicht und ergreifend wertlos. Mehr noch: sie haben jetzt Frauenschulden bei den Männern.

Die 1987 als Tochter eines Ägypters und einer Kanadierin in Wien geborene Autorin und Künstlerin Anna Herzig stellt unsere Männergesellschaft auf die Spitze und entwirft mit Sandburg einen Staat, der die sonst eher versteckte Bevorzugung von Männern wenigstens offen bekennt. Das ist witzig und schrecklich zugleich, zumal Herzig ihren Roman gar nicht wehleidig oder gar anklagend anlegt. Es ist eben so wie es ist: Ihre Protagonistin Greta wird zuerst vom Vater und dann vom Partner unterdrückt. Das Gesetz gibt ihnen recht. Greta sucht – nicht wirklich erfolgreich – in ihrer Schwester Elise eine Verbündete, zumal ihr Kind wieder ein Mädchen ist.

Herzigs Roman „12 Grad unter Null“ ist dann am stärksten, wenn Familienszenen wie das gemeinsame Mahl in ihrer Absurdität Leserinnen und Leser verstören können. Die klare und einfache Sprache macht die Geschichte noch wirksamer.


Am Samstag, 20. Mai, wird Anna Herzig um 11.30 Uhr „12 Grad unter Null“ beim Literaturfestival Rund um die Burg präsentieren.

Anna Herzig: 12 Grad unter Null
Haymon Verlag
144 Seiten
€ 20,-

Die Klimaschützerin beim AMS – Nadja Buchers Roman „Rosa gegen die Verschwendung der Welt“

Die Wiener Schriftstellerin Nadja Bucher debütierte 2013 mit dem Roman „Rosa gegen den Dreck der Welt“, in dem die ökologisch gestimmte Putzfrau Rosa mit Verve gegen Stromfresser, SUV-Fahrer und andere Umweltsünder ankämpft. Jetzt erscheint eine Fortsetzung. In „Rosa gegen die Verschwendung der Welt“ hängt die Protagonistin frustriert ihren Job an den Nagel, weil sie nicht länger bei hoffnungslosen Energieverschwendern putzen will. Das Angebot ihres Freundes Bertram, in seinem stets wachsenden Bioladen zu arbeiten, schlägt sie aus. Denn der ist ihr doch zu sehr Bobo-Unternehmer und Verbündeter seiner gutverdienenden Kunden geworden. Während andere von ihrem ökologischen Fußabdruck reden, will Rosa am liebsten gar nicht auftreten, sondern schweben. Ihre Wohnung ist spartanisch eingerichtet, ihr Energieverbrauch tangiert gegen Null, Strom hat sie sowieso abgemeldet. Dabei versorgt sie selbstlos ihre alte Nachbarin. Wie sich nach deren Tod herausstellt, ist die Nachbarin die Besitzerin des Mietshauses und Rosa braucht keine Miete mehr zu bezahlen.

Doch da Rosa arbeitslos gemeldet ist, bleibt ihr ein AMS–Fortbildungskurs nicht erspart. Bucher schildert genüsslich und detailreich die verschiedenen Kursteilnehmerinnen und -nehmer. Eine von ihnen macht dann Rosa – zunächst ohne ihr Einverständnis – zur Jeanne d’Arc der Umweltbewegung. Wie das Social-Media-Experiment entgleist, bestreitet dann einen Gutteil des wirklich sehr amüsant zu lesenden Romans, in dem man auch sehr viel über die gerade stattfindenden, das Klima ungünstig beeinflussenden Transformationen erfährt.

Nadja Bucher ist mit ihrem Roman eine Art moderner Bartleby gelungen, ihre Rosa will eben lieber nicht von den „Segnungen“ der modernen Welt profitieren. Am 19, Mai wird sie um 16.30 Uhr beim Literaturfestival „Rund um die Burg“ ihr Buch Roman „Rosa gegen die Verschwendung der Welt“ präsentieren.


Die Klimaschützerin beim AMS – Nadja Buchers Roman „Rosa gegen die Verschwendung der Welt“. Buchtipp von Helmut Schneider.

Nadja Bucher: Rosa gegen die Verschwendung der Welt
Edition Atelier
272 Seiten
€ 20,-

Rumpelstilzchen überall – A.L. Kennedys Abrechnung mit Großbritannien: „Als lebten wir in einem barmherzigen Land“

Rumpelstilzchen überall – A.L. Kennedys Abrechnung mit Großbritannien

Die Schottin A.L. Kennedy ist gewiss eine der interessantesten Stimmen der Literatur. Und so verwundert es schon einigermaßen, dass ihr neuer Roman „Als lebten wir in einem barmherzigen Land“ zwar bereits auf Deutsch erschienen ist, die Verlage auf der britischen Insel aber noch kein Interesse an einer Veröffentlichung gezeigt haben. Es kann ja wohl nicht sein, dass die bisweilen auch als Stand-up-Comedian auftretende Autorin zu kritisch für die britische Öffentlichkeit ist. Andererseits: Wurde nicht gerade ein Klimaaktivist zu 3 Jahren Gefängnis verurteilt, weil er in London eine Brücke blockiert hat?

Ihr aktuelles Buch hat es zweifelsohne in sich: Die Grundschullehrerin Anna muss in London erleben, dass ausgerechnet im Covid-Lockdown ihre ehemaligen Kumpel einer alternativen Comedie-Gruppe Jahrzehnte nachdem Anna ausgeschieden war vor Gericht kommen. In das „Unrule OrKestrA“ wie die für Streikende in den Thatcher-Jahren spielende Spaß-Truppe genannt wurde, hatte sich ein Polizeispitzel eingeschlichen, mit dem Anna sogar eine Liebschaft angefangen hatte. Als sie den nach Buster Keaton Buster genannten V-Mann auf offener Straße wiedererkennt, läuft sie ihm nach. Das ist aber nur ein Handlungsstrang, der allerdings durch Busters Lebensbeichte, die er ihr vor die Haustüre legt, ausführlich zu Wort kommt. Kennedy hat da fast einen Agententhriller eingewoben, denn Buster wird zum bisweilen kaum steuerbaren Killer, der Mädchenhändler und auch politische Verbrecher kaltblütig präzise ermordet. Dabei passieren allerdings auch Kollateralschäden.

Anna erzählt ihren Kindern in der Schule gerne das Märchen von Rumpelstilzchen, das bekanntlich als Gegenleistung von der Müllerstochter Unmoralisches – das erste Kind – verlangt. Für Anna sind alle, die sich an der Menschheit vergehen, einfach nur Stilzchen. Und Buster ist gewiss einer von ihnen.

Doch den größten Teil des Romans machen die Gedanken und Zweifel von Anna aus. Ihrem Sohn, der sich gerade anschickt, die Universität zu besuchen, liebt sie innig – ihren Liebhaber und Gefährten findet sie auch okay. Richtig vermissen tut sie ihn allerdings nicht als er im Lockdown auf seiner schottischen Heimatinsel festsitzt.

Über ihren Job als Lehrerin macht sie sich keine Illusionen: „Das Lernen im 21. Jahrhundert soll funktionieren wie die Erzeugung von Gänsestopfleber – man zwingt den minderwertigen Mais hinein und hält sie in Käfigen und gefügig. Man erntet den entstandenen Schaden und wirft den Rest des Kadavers weg.“  

Hat man die ersten 50 Seiten von „Als lebten wir in einem barmherzigen Land“ einmal gelesen, entwickelt dieser Roman eine richtigen Sog. Man lauscht gerne der inneren Stimme von Anna, versucht sie doch die uns alle beschäftigende Frage nach dem richtigen Leben in immer falscher werdenden Zeiten zu beantworten.


Rumpelstilzchen überall – A.L. Kennedys Abrechnung mit Großbritannien: „Als lebten wir in einem barmherzigen Land“

A.L. Kennedy: Als lebten wir in einem barmherzigen Land
Aus dem Englischen von Ingo Herzke und Susanne Höbel
Hanser
462 Seiten
€ 28,80

Eine Ärztin in der Gesundheitskrise – Elena Messners Roman „Schmerzambulanz“. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.

Eine Ärztin in der Gesundheitskrise – Elena Messners Roman „Schmerzambulanz“

Der Titel des Romans verweist auf das Versprechen, mit dem die Klinikleitung die engagierte Internistin Judit Kasparek ins Team gelockt hatte. Sie könne im Krankenhaus nicht nur eine Station leiten, sondern gleichzeitig eine Schmerzambulanz aufbauen, in der Patientinnen und Patienten nach der Entlassung aus der Intensivstation behandelt werden sollen. Doch dazu kommt es nie, denn das gesamte Krankenhauspersonal ist komplett überlastet und damit beschäftigt, den Betrieb irgendwie aufrecht zu erhalten. Als dann eine Patientin im Sanitärraum zusammenbricht und nur überlebt, weil sie eine Putzfrau zufällig gleich findet, verlangt Judit die Einsetzung eines Ethikkonzils, um herauszufinden, wie es dazu kommen konnte. Denn eigentlich hatte Judit die Patientin als gesund diagnostiziert und zur Entlassung vorgeschlagen. Sind die vielen von anderen Ärzten verordneten Infusionen am Zusammenbruch schuld?

Elena Messners Roman „Schmerzambulanz“ verblüfft durch Detailkenntnis. Die in Klagenfurt, Salzburg und Ljubljana aufgewachsene Autorin muss umfangreich über Krankenhausabläufe recherchiert haben. Natürlich herrscht in den Spitälern, wie inzwischen allgemein bekannt, allerorts der Sparstift – erst wurden die Wäscherei und die Küchen aus den Spitälern entfernt und durch externe Betriebe ersetzt, dann waren die Pfleger und Hilfskräfte dran. Leiharbeiter sind einfach billiger. Dabei sind Messners Protagonisten durchaus engagiert. Etwa Judits Freundin, die Anästhesistin Asja oder ihr Geliebter Jovo, ein Pfleger. Selbst Primar Tom arbeitet bis an seine Grenzen. Auch das wenig befriedigende Liebesleben des Krankenhauspersonals wird geschildert. Alle haben Schuldgefühle, dass ihr privater und beruflicher Einsatz nie genug sein wird, einfach weil das in diesem System unmöglich ist.

Elena Messner setzt in diesem sehr dichten Roman auch noch einen radikalen Endpunkt: Die Station wird ohne Angabe von Gründen aufgelassen. Höchstwahrscheinlich weitere Sparmaßnahmen. Und die Patientin, die der Grund für das Ethikkonzil war, landet in einer anderen Station. Man muss Schlimmes befürchten.


Eine Ärztin in der Gesundheitskrise – Elena Messners Roman „Schmerzambulanz“. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.

Elena Messner: Schmerzambulanz
Edition Atelier
228 Seiten
€ 25,-

Wer ist schwarz, wer ist weiß? – Toni Morrisons Erzählung „Rezitativ“ lässt uns rätseln.

Wer ist schwarz, wer ist weiß? – Toni Morrisons Erzählung „Rezitativ“ lässt uns rätseln

Die Nobelpreisträgerin Toni Morrison hat elf Romane, aber mit „Rezitativ“ nur eine Erzählung geschrieben, die 1983 in einer Anthologie erschien und jetzt erstmals auf Deutsch veröffentlicht wurde. Denn es gibt – wie ihre britische Kollegin Zadie Smith in ihrem fundierten Nachwort anmerkt – keinen „rasch hingeworfenen Morrison-Text“. Die 2019 verstorbene Autorin schrieb immer mit konkreten Zielen und Vorsätzen. Und so ist diese knapp 40 Seiten fassende Erzählung – das Nachwort ist sogar länger – sehr kalkuliert auf die Reaktion ihrer Leserinnen und Leser hingeschrieben.

Es geht um die zwei Frauen Twyla (die Erzählerin) und Roberta, die sich in einem Waisenhaus als komplette Außenseiterinnen anfreunden und später ein paar Mal zufällig über den Weg laufen. Morrison erklärt uns, dass eine von ihnen weiß, die andere schwarz ist – verrät aber bis zum Schluss nicht welche die Weiße und welche die Schwarze ist. Man kann gar nicht anders als darüber zu rätseln, denn Morrison hat eine Menge von Vorurteilen bestimmter rassistischer Codes verwendet.

Schon der Beginn ist genial: „Meine Mutter tanzte die ganze Nacht, und die von Roberta war krank. Darum wurden wir ins St. Bonny’s gebracht.“ Das Waisenhaus empfinden die beiden Mädchen aber gar nicht so schlimm, es gibt viel Platz und ansprechendes, warmes Essen. Nur vor den älteren, boshaften Mädchen müssen sie sich in Acht nehmen. Und ganz unten in der Hierarchie steht Maggie, eine Angestellte des Waisenhauses, die klein ist und o-beinig. Roberta und Twyla erleben, wie sie die älteren Mädchen schikanieren und ihr ein Bein stellen – und wieder können sie sich später nicht erinnern, ob Maggie weiß oder schwarz war.

Während Twyla als Kellnerin arbeiten muss, gelingt es Roberta nach ihren Hippie-Jahren, in denen sie mit Freunden Jimmy Hendrix nachreisen, einen reichen Mann zu heiraten und im besten Viertel der Kleinstadt Newburgh zu wohnen. So nebenbei beschreibt Morrison die Verwandlung von Newburgh von einer sterbenden Stadt im Hinterland von New York nach dem Krieg und der Absiedelung der Fabriken zum gentrifizierten Schmuckkästchen.

Bei Morrison ist kein Satz, keine Formulierung zu viel – es empfiehlt sich, die Geschichte gleich ein zweites Mal zu lesen. Was zeichnet Twyla als Erzählerin aus, warum ist Roberta plötzlich in eine andere Schicht aufgestiegen? Was sind die Mechanismen, nach denen in den USA Menschen Erfolg haben oder eben nicht? Eine faszinierende Lektüre mit einem Nachwort, das diesen Text noch vielschichtiger erscheinen lässt.


https://www.morawa.at/detail/ISBN-9783498003647/Morrison-Toni/Rezitativ

Toni Morrison: Rezitativ
Mit einem Nachwort von Zadie Smith
Aus dem Englischen von Tanja Handels
Rowohlt
96 Seiten
€ 20,60

Ein Kind mit besonderen Bedürfnissen erzählt – Margit Mössmers „Das Geheimnis meines Erfolgs“.

Ein Kind mit besonderen Bedürfnissen erzählt – Margit Mössmers „Das Geheimnis meines Erfolgs“

Alex ist ein Mädchen und kein Kind wie die anderen Kinder um sie herum. Die ersten Lebensjahre schreit sie fast andauernd und bringt ihre Mutter Nina damit an den Rand der Verzweiflung. Die Ärzte wissen keinen Rat und im Kindergarten ist sie eine Außenseiterin. Aber Nina muss arbeiten – als Regalbetreuerin in einem Supermarkt –, denn die finanzielle Situation der Familie – der Vater ist längst abwesend – ist prekär. Bruder Patrick ist auch keine große Hilfe, denn ihm fehlt zunächst das Gespür für die Defizite von Alex. Erst nach und nach wird er Teil des Teams.

Interessanterweise erzählt die in Wien lebende Autorin und Kulturvermittlerin Margit Mössmer die Geschichte völlig aus der Perspektive des mutmaßlich vom Asperger-Syndrom betroffenen Kindes. Wir tauchen somit in eine völlig andere Welt ein. Alex macht sich Sorgen um Supervulkane, liebt Vögel und Fische, SpongeBob und die Disney-Filme Arielle und Käpt’n Nemo, die sie sich unzählige Mal anschauen kann. Besessen ist Alex auch von Briefen und allem, was mit der Post zusammenhängt. In der Schule hält sie ganz nüchtern ein Referat über Briefformate und Umschläge mit und ohne Fenster. Von den Mitschülern wird sie gehänselt – am liebsten sitzt sie allein im Musikzimmer. An Schuhe kann sie sich nicht gewöhnen und überhaupt will sie so wenig Veränderungen wie möglich. Dafür merkt sie sich kleinste Details jahrelang.

Gegen Ende des Romans begleitet Alex eine Nachtigall und verbessert ihre Situation indem sie sie an die Regeln des täglichen Lebens erinnert. Sie wird plötzlich eine aufmerksame Schülerin. Doch die Nachtigall, die gerne auf ihrem Kopf sitzt und von sonst niemand gesehen werden kann, wird von Tag zu Tag schwerer…

Margit Mössmer erzählt einfühlsam von einem Mädchen abseits der Norm. Es gelingt ihr dabei, Leser für die Ängste und Sehnsüchte einer Außenseiterin zu sensibilisieren. Am Samstag, 20. Mai, 10.30 Uhr, wird Mössmer ihren Roman beim Literaturfestival „Rund um die Burg“ vorstellen.


Endlich die passende Wohnung mit den ausgesuchten Möbeln, die richtigen Freunde mit der Garantie auf kultivierte Gespräche – eine Einladung zum Essen soll als Beweis dafür dienen, dass man erwachsen geworden ist. Nicht zuletzt kann dabei der neue große dänische Esstisch mit der geölten Oberfläche eingeweiht werden.

Eine Einladung von Freunden zum Essen als Probe für die große Welt – Teresa Präauers „Kochen im falschen Jahrhundert“

Endlich die passende Wohnung mit den ausgesuchten Möbeln, die richtigen Freunde mit der Garantie auf kultivierte Gespräche – eine Einladung zum Essen soll als Beweis dafür dienen, dass man erwachsen geworden ist. Nicht zuletzt kann dabei der neue große dänische Esstisch mit der geölten Oberfläche eingeweiht werden.

Die Österreicherin Teresa Präauer erzählt in ihrem Roman „Kochen im falschen Jahrhundert“ die Entwicklung eines Abends unter Freunden in mehreren Fassungen und mit immer absurderen Abzweigungen. Im Mittelpunkt steht die Gastgeberin – niemand hat in diesem Buch einen Namen. Sie ist wie auch alle Eingeladenen fest im Job stehend, wenngleich in Stilfragen nicht immer sicher. In diesem Buch geht es nämlich viel um die Ausbildung von Geschmack – welches Getränk passt und ist gerade im Trend, was darf serviert werden und was nicht. Seitenweise werden Speisen angeführt und doch weiß man als Leser immer gleich, dass es weniger um das konkrete Gericht, sondern um seine Geschichte, seinen Status und die Beziehung zur Gastgeberin geht. Zwischendurch wird auch über eine korrekte heutige Sprache diskutiert.

Die Runde der Gäste ist klein, es kommen neben dem Partner der Gastgeberin nur ein Ehepaar, das ihr Neugeborenes bei den Großeltern parken konnte, und der Schweizer, dessen Freundin leider zu Hause noch arbeiten muss. Der Algorithmus eines Streamingdienstes liefert die passende Musik, die im Roman stets angeführt wird – hauptsächlich Jazzstandards in ausgesuchten Interpretation.

Mit jedem neuen Anlauf, die Geschichte des Abends zu erzählen, brechen freilich neue Irritationen auf. Ein Senffleck am schwarzen Outfit der Gastgeberin, die Gäste treffen mit zu großer Verspätung ein, weil sie vorher noch in einer Bar waren, wo sie einen Amerikaner und seine Begleitung kennengelernt haben. Die schauen nachher – als die Quiche verspeist ist – auch noch vorbei und verleihen dem Geschehen eine sexuelle Komponente. Alles nur in der Phantasie, oder? Und die Polizisten vom gegenüberliegenden Kommissariat warnen vor einem Wasserrohrbruch statt wie befürchtet einer Ruhestörung nachzugehen. Teresa Präauers „Kochen im falschen Jahrhundert“ ist eine Art soziologische Zustandsbestimmung heutiger Wohlstandsmenschen – mit Vergnügen lesbar und trotzdem – wie die Amerikaner bei üppigen Essen sagen – ziemlich „heavy“. Teresa Präauer wird ihren Roman am 19. Mai bei „Rund um die Burg“ präsentieren.


Teresa Präauer: Kochen im falschen Jahrhundert
Wallstein Verlag
200 Seiten
€ 22,70

Anita Augustin, eine geborene Klagenfurterin, arbeitet seit 25 Jahren als Dramaturgin in verschiedenen Theatern und lehrt als Dozentin an der Freien Universität Berlin. In ihrem bereits dritten Roman mit dem langen Titel „Wie ähnlich ist uns der Zackenbarsch, dieses äußerst hässliche Tier“ geht es um ein zurzeit sehr vieldiskutiertes Thema, nämlich den Missbrauch von Kindern.

Kindesmissbrauch als verstörender Roman – „Wie ähnlich ist uns der Zackenbarsch, dieses äußerst hässliche Tier“ von Anita Augustin

Anita Augustin, eine geborene Klagenfurterin, arbeitet seit 25 Jahren als Dramaturgin in verschiedenen Theatern und lehrt als Dozentin an der Freien Universität Berlin. In ihrem bereits dritten Roman mit dem langen Titel „Wie ähnlich ist uns der Zackenbarsch, dieses äußerst hässliche Tier“ geht es um ein zurzeit sehr vieldiskutiertes Thema, nämlich den Missbrauch von Kindern. Sie wandelt dabei auf einem schmalen Grat, denn ihr Buch ist durchaus unterhaltsam und man kann als Leser durchaus Sympathie für den mutmaßlichen Täter entwickeln.

Gleich zu Beginn verschwindet ein Mädchen, die Nachforschungen der Polizei sind ergebnislos, die Mutter ist natürlich verzweifelt und unternimmt alles, um ihre Tochter zu finden. Schnitt: Wir lernen Viktor kennen, der sich vom Psychiater Frank Hilfe bei seiner Neigung zu minderjährigen Mädchen erwartet. Viktor hat einen schrägen Beruf, er ist Edelkomparse und spielt bei Filmproduktionen stets eine Figur, die ermordet wird. Viktor hat eine anscheinend einfach gestrickte Frau und eine dominante Schwiegermutter, die beide zu Opernaufführungen schleppt. Und er hat eine geheimnisvolle Geliebte, die sich Karl nennt. Wie von Frank aufgetragen führt Viktor ein Tagebuch, in dem er sein wenig aufregendes Leben zwischen Film – langes Warten auf den kurzen Auftritt – und Selbsthilfegruppe von Menschen mit gleichen Neigungen aufzeichnet. Internet ist allen verboten, zu groß ist die Gefahr, dass sie auf einschlägigen Seiten landen. Am Ende wird klar, dass die Geliebte Karl die verzweifelte Mutter ist, die über den Psychiater an den Täter zu kommen versucht.

Augustin webt ein immer verstörenderes Gewebe aus Einsamkeit, frustrierenden Aussichten auf Heilung, skurrilen Mordszenen – alles vor dem Hintergrund eines wahrscheinlich tatsächlich passierten Verbrechens, das freilich nicht gänzlich aufgeklärt wird. Alles mündet schließlich in einem surrealen Fiebertraum.

„Wie ähnlich ist uns der Zackenbarsch, dieses äußerst hässliche Tier“ ist ein Roman, der Leser sehr nachdenklich zurücklässt. 


Drei begabte Frauen in der Provinz – Silvia Pistotnigs Familienroman „Die Wirtinnen“. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.

Drei begabte Frauen in der Provinz – Silvia Pistotnigs Familienroman „Die Wirtinnen“

Großmutter Johanna, Mutter Marianne und Tochter Gertrud, gesehen von 1936 bis heute – und alle drei Frauen haben ein großes Talent, das ihnen nicht gegönnt ist, zur Entfaltung zu bringen. Zumal auf dem Land in Kärnten, wo es in der Großfamilie früher sowieso nur ums Überleben gegangen ist. Johannas unglaubliches Geschick für das Orgelspiel verkümmert ebenso wie Mariannes traumwandlerisches Gespür für Zahlen und Mathematik. Und selbst für Gertruds Balltalent ist in den 80er-Jahren noch lange kein Platz. Mädchen gehören am Fußballplatz bestenfalls auf die Tribüne, Frauenfußball ist so interessant wie ein Hockey-Match in Aserbaidschan.

Silvia Pistotnig beweist in ihrem bereits vierten Roman „Die Wirtinnen“ Mut zur großen Geschichte quer durch die heimische Historie. Aufgewachsen in Kärnten lebt sie schon lange in Wien, ihr dritter Roman „Teresa hört auf“ erhielt sehr gute Kritiken – zwischenzeitlich arbeitete sie auch als Redakteurin für „Wien live“. „Die Wirtinnen“ wird in jeweils abwechselnden Kapiteln und bisweilen zwischen den Zeiten springend aus der Perspektive von Johanna, Gertrud und Marianne geschildert – die Jüngste spricht sogar als Ich zu uns. Wir erleben das harte Leben auf dem Land vor dem Krieg – besonders natürlich als fast rechteloses Mädchen. Eine Vergewaltigung – zumal vom eigenen Schwager – ist eine lässliche Sünde, schlimm ist nur, wenn frau keinen Mann abbekommt. Und so feiert Johanna erst spät Hochzeit und hat dann auch gleich ein Wirtshaus zu übernehmen, denn die Männer müssen ja in den Krieg. Als der Gemahl schließlich zurückkommt ist er gebrochen und wird zum Alkoholiker. Das Gasthaus ist für Johanna und später für Marianne niemals Berufung, sondern immer nur Pflicht. Teenager Gertrud findet es sowieso urpeinlich und unbequem. Geschickt hat Pistotnig auch Zeitgeschichte wie die Verbrechen der Nazis in den Roman eingebracht. Einer der Brüder Johannas ist geistig behindert und wird von allen kärntnerisch „Tschoppale“ genannt. Ein Schwager ist SS-Mann, aber auch er kann oder will das – eigentlich von allen geliebte – Kind nicht vor der Euthanasie retten. Jede Familie hat so ihre ganz dunklen Flecken.

Quasi im Zentrum des Romans erleben wir allerdings das Scheitern von Mariannes Ehe in den 90er-Jahren. Ihr Erwin fühlt sich vernachlässigt, weil sie auch nachdem die Kinder Gertrud und Thomas schon älter sind, nie Zeit für ihn hat, sondern andauernd im Gasthaus arbeitet. Das wirft freilich längst nicht mehr genug ab. Die Geschichte ihrer Trennung hat allerdings eine Pointe. Marianne entdeckt just als Erwin weg ist ihre sexuellen Bedürfnisse, schläft wieder mit ihrem bereits in die Stadt gezogenen Geschiedenen und bekommt mit 40 noch ein Kind, das allerdings wieder ein „Tschoppale“ wird. Im letzten Kapitel besucht dann Gertrud quasi in der Gegenwart das von neuen Eigentümern umgebaute Gasthaus.

„Die Wirtinnen“ ist ein Familienroman aus dem Süden Österreichs, das uns die Schicksale von Frauen im Strudel des Alltags näherbring – und darüber hinaus eine kurzweilige aber sicher nicht anspruchslose Lektüre. Am 19. Mai wird Silvia Pistotnig beim Literaturfestival „Rund um die Burg“ zu erleben sein.


Silvia Pistotnig: Die Wirtinnen
Elster & Salis
358 Seiten
€ 24,70