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Die Geschichte holt uns immer ein: Marko Dinić und sein Balkan-Roman „Buch der Gesichter“

2010 veröffentlichte der US-Historiker Timothy Snyder sein vielbeachtetes Buch „Bloodlands“, in dem er das Gebiet des östliche Polens, Belarus, den Westteil Russlands, des Baltikum sowie Teile der Ukraine als die Teile Europas mit dem höchsten Blutzoll im 2. Weltkrieg festmachte. Durchaus Gebiete, in denen aktuell auch heute Kämpfe stattfinden. Aber wenn man es genau betrachtet, ist auch der Balkan ein solches Bloodland. Bekanntlich begann ja dort schon der 1. Weltkrieg und im 2. herrschte am Balkan ein brutaler Krieg, bei dem nicht nur die Nazis gegen die Bevölkerung, sondern auch die faschistischen Ustascha-Kroaten gegen die Serben und die Partisanen gegen die Besatzung kämpften. Und nach dem Tito-Jugoslawien folgte bekanntlich abermals ein blutiger Krieg, dessen Wunden bis heute nicht verheilt sind.

Marko Dinić, der in Belgrad aufgewachsen ist, aber schon lange in Wien lebt, wo er auch geboren wurde und der auch auf Deutsch schreibt, hat jetzt einen sehr umfangreichen und sehr poetischen Roman über eine Familie inmitten der Kriege geschrieben. Er erzählt mit unterschiedlichen Stimmen in acht Kapiteln die Geschichte einer jüdischen Waise, die schon im ersten Weltkrieg beginnt. Der kleine Junge Isak Ras verliert seine Mutter und wird von einem befreundeten kommunistischen Ehepaar aufgezogen. Die Story ist allerdings so komplex, dass sie unmöglich nachzuerzählen ist. Marko Dinić setzt auf starke Bilder und schildert sehr plastisch auch grausame Szenen. Mehr als einmal geht es um das nackte Überleben im Elend. Da wird etwa von Juden aus Wien berichtet, die über die Donau auf einem Schiff vor den Nazis fliehen wollen und dabei tragisch scheitern.

„Buch der Gesichter“ ist so vielschichtig, dass man das Buch mehrmals lesen kann und vielleicht auch soll. Man darf sich dabei nicht vom ersten Kapitel, in dem der Autor noch seinen Erzählton anzustimmen scheint, abschrecken lassen. Eine unbedingte Leseempfehlung für Menschen, die wissen wollen, wozu Literatur fähig ist.

Am 6. Oktober wird der Autor seinen Roman in der Alten Schmiede im Gespräch mit seinem Schriftstellerkollegen Doron Rabinovici vorstellen.

Marko Dinić: „Buch der Gesichter“, Hanser Verlag, 464 Seiten, € 28,80

Heinrich Bölls „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ wird zum Hit im Burgtheater

Was 1974 geschah, als Heinrich Bölls Erzählung „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ erschien, lässt sich heute kaum mehr nachvollziehen. Klar, der Text ist eine Abrechnung mit den Praktiken der deutschen Boulevardpresse, unter der der Autor auch selbst stark leiden musste – in der Erzählung ist von DER ZEITUNG die Rede, aber jeder wusste, dass BILD gemeint war. Die Springer-Presse rotierte, sogar der Bundespräsident verurteilte Böll und machte sich selbst zum Gespött, weil er Namen verwechselte und offenbar das Buch nicht gelesen hatte. 3 Millionen erreichte die Auflage des Buches…

Dabei erzählt Böll ziemlich nüchtern anhand von Gerichtsprotokollen die Geschichte der fiktiven Katharina Blum, die auf einer Party einen Mann kennenlernt, der sie am nächsten Morgen wieder verlässt. Was sie nicht weiß: der Liebhaber ist Terrorist und gesucht wegen Raubüberfalls und steht schon längst unter polizeilicher Beobachtung. Sie wird verhört und bereits am nächsten Tag in der Zeitung als Terroristenflittchen verunglimpft. Ein Rufmord, der tagelang weitergeht. Bis Blum den Redakteur zu einem Interview lockt und erschießt. Seine letzten Worte waren „Ich schlage vor, dass wir jetzt erst einmal bumsen?“

Das Burgtheater spielt jetzt die Theaterfassung von Bastian Kraft (eine Übernahme aus Köln, als Burgchef Bachmann dort Direktor war). Der dichte Theaterabend braucht dabei nur 3 – allerdings grandios agierende – Schauspielerinnen, nämlich Lola Klamroth, Rebecca Lindauer und Katharina Schmalenberg, die gleichzeitig in diversen Rollen 3 riesige Videowände bespielen. Der Text wird aber fast immer live gesprochen. Das entwickelt einen enormen Sog, die Protokolle werden dadurch auf wundersamer Weise lebendig. Nun kann man Böll natürlich den Vorwurf nicht ersparen, seine Personen allzu klischeehaft angelegt zu haben. Und was damals die BILD sind heute die – sicher nicht besseren – sozialen Medien. Aber es ist interessant, dass ein derart mit seiner Entstehungszeit verschränkter Text auch heute noch funktioniert. Das könnte ein Theaterhit werden wie der Premierenapplaus vermuten lässt.

Foto: Tommy Hetzel/Burgtheater

Infos & Karten: burgtheater.at

Die Postmoderne ist an allem schuld – Raphaela Edelbauers Terroristenroman „Die echtere Wirklichkeit“

Alternative Wahrheiten & Fake News bestimmen schon lange den politischen Diskurs. Dass Politiker lügen, ist nichts Neues, aber dass sie frech einfach Fakten negieren und auf ihre „subjektiven Wahrheiten“ pochen, scheint erst mit den Wahlsiegen von Populisten Mainstream geworden zu sein.

In Raphael Edelbauers neuem Roman „Die echtere Wirklichkeit“ findet sich eine Gruppe von Philosophen zusammen, die die Ursache für die Aushöhlung der Wahrheit just bei den Denkern der Moderne ausmachen. Ihr Subjektivismus gewann den Kampf gegen die analytische Weltsicht, wie sie etwa Wittgenstein und Popper propagierten. Edelbauer lässt eine – allerdings höchst unzuverlässige, nach einem Autounfall auf einen Rollstuhl angewiesene Erzählerin, die sich Byproxy nennt, zufällig auf zwei Philosophen und zwei Philosophinnen treffen, die mithilfe von Terror die Gesellschaft zur Wahrheit zwingen wollen. Und zwar durch einen Bombenanschlag plus Geiselnahmen auf das österreichische Parlament und die Universität.

Das klingt ein wenig nach der dilettantischen judäischen Befreiungsfront in Monty Pythons „Das Leben des Brian“. Aber Edelbauer hat in ihrer Geschichte zusätzlich noch zwei Ebenen eingebaut, die das Erzählte desavouieren. Byproxy programmiert Computerspiele, die anders funktionieren als die gängigen. „Think backwards“ heißt es da – die Spieler müssen herausfinden, wie es zu der gezeigten Situation gekommen ist und nicht wie üblich Aliens und Monster abknallen. Weiters werden die Hintergründe des Autounfalls beleuchtet, denn Byproxy war zu dieser Zeit mit ihrer besten Freundin im letzten Schuljahr in Schweden und die Freundin ließ ihr kaum Luft zum Atmen. Sie organisierte schon eine heimliche Flucht. Gab es diesen Zwilling überhaupt, oder ist Dorothea nur eine Spiegelung der Erzählerin?  

Die vier Philosophie-Terroristen – sie nennen sich übrigens „Aletheia“ nach dem altgriechischen Wort für Wahrheit – werden zwar brav geschildert, mehr dürfte die Autorin allerdings tatsächlich die Ideengeschichte der Menschheit – von Sokrates bis zu Foucault – und dazu noch die Entwicklung des Lebens interessiert haben. Das ist dann manchmal auch spannender als die oft ermüdenden Streitereien und Heimlichtuereien in der Gruppe. Am Ende wartet Edelbauer aber doch noch ein bombiges Finale auf.

Raphaela Edelbauer: Die echtere Wirklichkeit. Klett-Cotta, 444 Seiten, € 29,95

„Sie sah aus wie eine Frau, die ihren Schönheitschirurgen auf Kurzwahl hatte.“ – der coole Thriller „Moonlight Mile“ von Dennis Lehane

Dennis Lehane, 1965 in Boston geboren und auch jetzt noch dort lebend, wurde durch seine Thriller um den Privatdetektiv Patrick Kenzie und seiner Frau Angela Gennaro in der Szene bekannt, er schreibt aber auch Krimis aus anderen Genres. Spätestens durch die Verfilmung von „Shutter Island“ 2009 durch Martin Scorsese mit Leonardo di Caprio ist er international in der Top-Liga. Inzwischen verlegt ihn der Schweizer Diogenes Verlag und so kam jetzt mit „Moonlight Mile“ auch der letzte der sechs Kenzie/Gennaro-Thriller in neuer Übersetzung von Peter Torberg heraus.

Dabei muss Kenzie eine Jugendliche finden, die er als Kind den Entführern entrissen und seiner Mutter zurückgebracht hatte. Doch der Fall war kompliziert – die Entführer waren Paradeeltern, während Mutter Helene drogensüchtig war und sich nicht um die kleine Amanda kümmerte. Amanda wird trotzdem eine Musterschülerin, bis sie mit 16 plötzlich verschwindet. Auf der Suche nach Amanda sticht der Privatdetektiv in ein Wespennest aus Identitätsdiebstahl, Babyverkauf und Drogenkriminalität. Er legt sich mit der russischen Mafia an und gerät mehrmals in Lebensgefahr.

Die Ingredienzien eines klassischen Thrillers eben, aber Lehane kann wirklich sehr gut und sehr lässig erzählen. Allein die Dialoge sind schon lesenswert. Über die Frau des Mafiapaten bemerkt Kenzie, dessen ich den Roman erzählt: „Sie sah aus wie eine Frau, die ihren Schönheitschirurgen auf Kurzwahl hatte.“ Was aber fast noch bemerkenswerter ist: Lehane erweist sich als Seismograf der US-Gesellschaft nach der Wirtschaftskrise, die auf den Börsencrash folgte – der Thriller spielt Ende der Nullerjahre und erschien erstmals 2010. Bei seinen Recherchen trifft Kenzie wiederholt Bürger, die von der Regierung und ihrem schwieriger gewordenen Leben frustriert sind und den Humus bilden werden, die dann einen Trump an die Macht spült. Das Finale ist ein echter Hardcore-Thriller. Ein Buch, das man locker an zwei Tagen liest, so spannend ist es.

Dennis Lehane: Moonlight Mile. Aus dem amerikanischen Englisch von Peter Torberg. Diogenes. 384 Seiten, € 20,95

„Nichts“ passiert – Percival Everetts unterhaltsamer Pop-Kultur-Krimi „Dr No“

Es gibt Dinge, die liegen jenseits unserer Vorstellung. Das Universum ist vor 13,8 Milliarden Jahren aus dem Urknall entstanden. Aber was war davor? Die wissenschaftliche Antwort, dass erst mit dem Urknall die Zeit entstanden ist und daher die Frage nach dem Davor sinnlos ist, kann unser im Endlichen gefangenes Denken natürlich nicht begreifen. Genauso wenig können wir uns das Nichts vorstellen. Und um das Nichts geht es in Percival Everetts höchst spannenden Roman in James-Bond-Setting „Dr No“. Denn Wala Kitu ist Professor für Mathematik an der renommierten Brown University und Experte für nichts. Als ebensolcher erhält er von einem reichen Exzentriker namens Sill, der beschlossen hat, sich als Schurke auszuleben, 2 Millionen Dollar überwiesen, damit er ihm als Experte für nichts dabei hilft. Sill, der wie Kitu eine schwarze Hautfarbe hat, musste vor seinem Reichtum reichlich Rassismus erleben und will sich jetzt rächen. In Ford Knox sollen nämlich nicht nur die Goldreserven der USA lagern, sondern auch eine Box, in der sich nichts befindet. Denn nichts hat angeblich die Power alles verschlingen zu können.

Wir sehen schon, Everett leistet sich den unendlichen? Spaß, mit nichts zu jonglieren und Sätze mit mehrdeutigen Aussagen zu schaffen. Leser werden mindestens alle 10 Seiten verblüfft. Aber „Dr No“ ist trotzdem ein veritabler Krimi samt Liebesgeschichte, denn eine Kollegin ist bald schon mit von der rasanten Partie, die an mehreren abenteuerlichen globalen Standorten abläuft. Sill gelingt es mithilfe von nichts eine Kleinstadt im Nordosten der USA auszulöschen, in der er vor Jahrzehnten rassistisch beleidigt wurde. Nichts bleibt übrig, denn alle, die die Stadt gekannt haben, können sich an nichts erinnern.

Everett liefert Schusswechsel und Exekutionen, denn natürlich sind ihm die Geheimdienste auf den Spuren. Der Autor wollte sicher auch beweisen, dass er neben dichten Romanen zum Thema Rassismus – im letzten, mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Roman „James“ erfindet etwa die Nebenfigur Jim in „Huckleberry Finn“ die Geschichte neu – auch unterhaltsame Krimis schreiben kann. Nun, es ist ihm zweifelsohne gelungen!

Percival Everett: Dr No. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Hanser, 320 Seiten, € 26,80

Tatsachenroman über einen vom IS ermordeten US-Journalisten – Colum McCann schrieb mit der Mutter des Opfers Diane Foley „American Mother“

Der in New York lebende irische Schriftsteller Colum McCann schreibt seit 30 Jahren Bücher nach realen Ereignissen. Bei uns wurde er mit seiner bewegenden Darstellung des Seiltänzers Philippe Petit, der 1974 zwischen den Türmen des damals noch nicht eröffneten World Trade Centers spazierte („Die große Welt“, 2009), bekannt.

In „American Mother“ erzählt er gemeinsam mit dessen Mutter die tragische Geschichte des philanthropen Journalisten James Foley, der von IS-Terroristen vor laufender Kamera enthauptet wurde. Im Zentrum stehen drei Personen – die gläubige Mutter des Opfers Diane Foley, James Foley und einer seiner Peiniger Alexanda Kotey, der nach seiner Gefangennahme in den USA eine lebenslange Haftstrafe verbüßen muss.

Es beginnt mit der Begegnung Dianes mit Alexanda im Gefängnis. Sie weiß, dass der Terrorist lügt, wenn er sich bei ihr für das Leid entschuldigt und doch ringt sie um eine Art Verständnis. Alexanda wuchs in London auf und war britischer Staatsbürger, ehe er sich radikalisierte und in den Iran ging, um dort im Namen des Islam zu kämpfen. Das Bild mit James Foley nach der Enthauptung mit seinem Kopf auf dem Rücken ging in den Onlinemedien um die Welt. Wenn Diane also Alexanda und den ebenfalls gefangenen – angeblich noch grausameren – Kumpel Elsheik hassen würde, wäre das nicht verwunderlich.

Doch Diane ist eine gläubige Christin und lebt das Prinzip Vergebung aller Sünden. Richtig verbittert ist sie, dass sie von der US-Administration unter Obama in Stich gelassen wurde. Amerikaner und Briten verhandeln nicht mit Geiselnehmern, lautet die Doktrin und so muss Diane verfolgen wie spanische, französische und italienische Geiseln – über viele Umwege – freigekauft werden, während die US-Bürger dem sicheren Tod entgegensehen. Besonders perfide: keine der Geiseln waren Soldaten, sondern humanitäre Helfer oder Journalisten mit großem Verständnis für die Leiden der Bevölkerung vor Ort. James war schon einmal Geisel, nämlich in Libyen, kam aber dort nach Verhandlungen frei und wollte weiterhin die Wahrheit über die Kriege in Nahost berichten. Geradezu zynisch nimmt sich an, dass der Prozess von Elsheik in den USA ein Vielfaches des Lösegeldes kostete – von einer missglückten Operation der CIA zur Befreiung der Geiseln, die Millionen verschlang, ganz zu schweigen.

Colum McCanns Buch stellt sich den großen Fragen der Zeit. Kein Tag vergeht, ohne dass irgendwo auf der Welt Geiseln genommen werden – aktuell sind die Medien natürlich voll mit den israelischen Geiseln in Gaza, aber auch in Südamerika blüht der Geiselhandel. „American Mother“ ist wegen der emotionalen Darstellung des Geschehens stellenweise schwer zu lesen, aber wer sich den Problemen unserer Zeit stellen will, kommt darum nicht herum.

Colum McCann (mit Diane Foley): American Mother. Eine Geschichte von Hass und Vergebung. Aus dem Englischen von Volker Oldenburg. Rowohlt. 272 Seiten, € 27,95

Elefanten grasen mitten in Berlin – Gaea Schoeters böse Satire „Das Geschenk“

Bei ihrem im Vorjahr auf Deutsch erschienenen Roman „Trophäe“ konnte ich stellenweise nicht mehr weiterlesen – so schockierend war die beschriebene Menschenjagd in Afrika und so überzeugend waren die Hintergründe dargelegt. Im neuen Werk „Das Geschenk“ bleibt die flämische Autorin Gaea Schoeters ihrem Thema Kolonialismus und die Gesetze des heutigen Kapitalismus treu, allerdings ist der Roman eine Satire – die sehr witzigen Szenen überwiegen.

In Berlin tauchen plötzlich Elefanten auf und bringen das öffentliche Leben zum Erliegen. Bundeskanzler Winkler erfährt durch ein Telefongespräch mit dem Präsidenten von Botswana, dass es sich um ein Geschenk aus Afrika handelt, denn Deutschland hatte vor kurzem ein Einfuhrverbot für Jagdtrophäen beschlossen und damit den armen Bewohnern Botswanas die Lebensgrundlage entzogen. Ein Danaergeschenk also – Deutschland muss plötzlich mit 20.000 Elefanten klarkommen und die Dickhäuter brauchen nicht nur 100 Liter Wasser, sondern auch Tonnen an Futter pro Tag und Rüssel. Der Dung stellt noch einmal ein anderes Problem dar.

Schoeters beschreibt kenntnisreich die Zwickmühlen heutiger Politiker, die demokratisch gewählt sind. Es gibt eben immer Profiteure von Krisen, die simple Lösungen ohne Rücksicht auf andere anbieten. Winkler und sein aalglatter Büroleiter hanteln sich von einer Katastrophe zur nächsten – der Dung wird etwa zu einem in ganz Europa begehrten Dünger verarbeitet und die Geburt des ersten deutschen Elefanten bringt Popularitäts-Bonus-Punkte. Doch dann folgt ein schlimmer Unfall mit einem Dickhäuter auf der Autobahn und aus dem Elefantendung wachsen plötzlich invasive Monsterpflanzen.

Man liest den kurzen, pointierten Roman gerne in einem Schwung und mit viel Vergnügen. Sogar eine ehemalige deutsche Kanzlerin hat ihren Auftritt. Wie 20.000 Elefanten über Nacht am Zoll vorbei in Deutschland landen können, wird zwar nicht erklärt, aber es ist eben eine Satire. Und ersetzt man die Elefanten mit Flüchtlingen – wie wohl intendiert – wird die Geschichte noch brisanter.

Gaea Schoeters: Das Geschenk. Aus dem Niederländischen von Lisa Mensing. Zsolnay, 142 Seiten, € 22,70

Wie ein jüdisches Arbeiterkind die Nazi-Zeit in Wien überlebte – „Glockengasse 29“ von Vilma Neuwirth

„Dieses Buch habe ich gelesen wie einen Krimi“ schreibt Elfriede Jelinek im Vorwort. Dabei bleibt die 2016 verstorbene Autorin ihrem fast heiterem – wienerischen – Ton bis zum Schluss treu. Aber es geht in dieser Lebensgeschichte aus der Leopoldstadt tatsächlich oft um Leben oder Tod. Denn die kleine Vilma ist ein aufmüpfiges Kind: „Wir waren acht richtige Gfraster“, heißt es gleich zu Beginn über ihre Geschwister und Spielkameraden. Und als sich nach dem Anschluss so gut wie alles in Österreich änderte, war jede Ordnungswidrigkeit gefährlich, denn Vilma war nach Nazijargon „Halbjüdin“. Ihre christliche Mutter aus Niederösterreich war mit einem jüdischen Friseur, der nach dem Tod seiner Frau mit drei Kindern dastand, eine Zweckehe eingegangen, da sie selbst eine uneheliche Tochter hatte. Vilma kam 1928 zur Welt, als die Nazis kamen, war sie 11 und konnte nicht begreifen, warum die Nachbarn in der Glockengasse 29 plötzlich ihre Mutter als „Judenhur“ beschimpften und ihre Spielkameraden nicht mehr mit ihr spielen wollten. Bis zum Anschluss war sie in deren Wohnungen aus und ein gegangen, man hatte das Wenige, was man hatte, geteilt. Für einen Nachbarn hatte man im Austrofaschismus sogar einen Koffer aufbewahrt – nicht ahnend, dass darin die damals illegale SA-Uniform versteckt war. In ebendieser Uniform wollte dieser dann Vilmas Vater zum berüchtigten Gehsteigputzen mit der Zahnbürste zwingen. Doch Vilmas Mutter wusste das mit ihrem energischen Auftreten zu verhindert. Ihr Mut sollte die Familie noch oft retten, zwei von Vilmas Brüdern gelang die Flucht.

Vilmas ungebrochener Übermut brachte die Familie aber oft in Gefahr. Sie ging etwa auch ins Kino oder auf den Eislaufplatz, was für Juden natürlich strengstens verboten war. Auch den Arbeitsdienst überstand Vilma trotz ihrer Unfähigkeit mit Maschinen umzugehen, denn es gab – sehr wenige allerdings – auch anständige Zeitgenossen, die Juden halfen.

Vilma Neuwirths Lebenserinnerungen aus der NS-Zeit sind ein einzigartiges zeitgeschichtliches Dokument, das sich auch dringend als Schullektüre empfiehlt. Da Vilma niemals eine ordentliche Schulbildung erlangen konnte, ist ihr Bericht frei von künstlerischen Ambitionen. Aber gerade das macht es zu einer „literarischen Kostbarkeit“ wie der Autor Erich Hackl in einer ersten Rezension anmerkte. Der Milena Verlag bringt das erstmals 2008 erschienene Buch jetzt mit vielen SW-Familienbildern und mit dem Vorwort der Nobelpreisträgerin neu heraus. Ein wichtiges Buch, das daran erinnert, wie schnell politische Umbrüche Menschen zu Unmenschen machen können.

Vilma Neuwirth: Glockengasse 29. Eine jüdische Arbeiterfamilie in Wien. Milena Verlag, 140 Seiten, € 24,95

Endspurt beim Vormagazin-Kurzkrimi-Wettbewerb zur Kriminacht

Das vormagazin bittet um Kurzkrimis zum heurigen Jahresregenten Johann Strauss. Zur Kriminacht am 23. Oktober 2025 werden die besten Storys als Buch erscheinen! Einsendeschluss ist der 22. August.

Am Schani kommt man heuer im Jubiläumsjahr nicht vorbei – auch nicht bei der Kriminacht. Denn sein 200. Geburtstag jährt sich tatsächlich nur zwei Tage nach der Kriminacht am 23. Oktober. Deshalb bitten das vormagazin und die Kriminacht heuer um spannende Kurzkrimis, in denen ein paar Takte Johann Strauss erklingen, egal in welcher Form (aus dem Radio, im Auto oder in der Oper usw.). Aber vielleicht lässt sich der Schani sogar als Person in eine Krimihandlung einbauen – Ihrer Fantasie sind ­keine Grenzen gesetzt.

Allerdings gibt es eine Grenze bei der Länge der Beiträge. Wir benötigen ein Word-Dokument mit maximal 15 Seiten bei 1.500 Zeichen pro Seite – also insgesamt 22.500 Zeichen. Die besten Texte werden im echomedia buchverlag in ­einem eigenen Buch veröffentlicht, das im Rahmen der diesjährigen Kriminacht präsentiert wird. Bei dieser Gelegenheit werden fünf Autor*innen auch zu einer ­Lesung eingeladen. Einsendeschluss ist der 22. August. Im September wird eine Jury die Siegertexte auswählen. Als Jurorin dabei ist diesmal die Grande Dame der Wiener Krimiszene Edith Kneifl.

Der vormagazin Kurzkrimi-Wettbewerb ist die Gelegenheit, sich im Vergleich mit Profis zu messen. Bei früheren Wettbewerben erstaunte die Jury die Qualität der Beiträge. Wir wünschen gutes Gelingen!


Teilnahme & Bedingungen
Bitte lesen Sie sich vor Ihrer Teilnahme die untenstehenden Teilnahmebedingungen sorgfältig durch.
Word-Dokument, max. 15 Seiten bei 1.500 Zeichen pro Seite
Einsendungen bis 22. August 2025 an: redaktion@vormagazin.at

Einsendung: Der Text ist als Word-Dokument an redaktion@vormagazin.at zu senden. Einsendeschluss ist der 22. August 2025 um 23:59 Uhr. Moralisch bedenkliche, anstößige, diskriminierende, rassistische, Gewalt verherrlichende oder pornografische Texte werden von der Redaktion nicht angenommen und gelöscht. Durch die Nichtannahme von Texten entstehen keinerlei Ansprüche, welcher Art auch immer, des Einsenders.

Datenschutz: Voraussetzung für eine Teilnahme ist, dass der Autor mit der Einsendung des Textes auch seine persönlichen Daten (vollständiger Name, Geburtsdatum, Adresse) bekannt gibt und diesen Teilnahmebedingungen zustimmt. Sämtliche Teilnehmerdaten werden vertraulich behandelt und nicht an Dritte (Unternehmen des Echo Medienhauses s. http://www.echo.at/about-2/ gelten nicht als Dritte) weitergegeben. Der Teilnehmer stimmt zu, dass sein vollständiger Name im Zusammenhang mit dem Kurzkrimiwettbewerb „Tatort Grätzl“ veröffentlicht wird.

Urheberrecht und Nutzungsrechte: Der Teilnehmer sichert zu, dass er an dem eingesandten Text sämtliche Immaterialgüterrechte, insbesondere Urheberrechte und sich daraus ergebende Nutzungs- und Verwertungsrechte, hat und durch seinen Text keinerlei Rechte Dritter verletzt werden. Der Teilnehmer räumt den derzeitigen und künftigen Unternehmen des Echo Medienhauses (abrufbar unter http://www.echo.at/about-2/) an seinem Text für den Kurzkrimiwettbewerb „Tatort Grätzl“ räumlich uneingeschränkt für die Dauer des gesetzlichen Urheberrechtes das nicht ausschließliche Recht ein, den Text oder Auszüge desselben auf jede erdenkliche Weise, zum Zeitpunkt der Erklärung bekannt oder unbekannt, ohne Vergütungsanspruch zu verwerten und zu nutzen.

Buchveröffentlichung: Bis zu 15 von der Fachjury ausgewählte Texte werden als Anthologie zum Wettbewerb im Buchverlag der echomedienhaus ges.m.b.h. veröffentlicht.

Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.

Flucht nach Tirol – Katharina Köllers Roman um häusliche Gewalt „Wild wuchern“

Die 1984 in Eisenstadt geborene Autorin Katharina Köller hat schon viele Theaterstücke geschrieben und – auch selbst – auf die Bühne gebracht. 2021 veröffentlichte sie ihren ersten Roman „Was ich im Wasser sah“ – „Wild wuchern“ ist nur ihr zweiter und er ist unbedingt lesenswert. Darin geht es um eine verheiratete Frau in Wien, die nach tausenden verbalen Beleidigungen und Schlägen endlich – und zwar buchstäblich, nämlich mit der Bleikristallvase der Oma – zurückschlägt und danach in Panik zu ihrer Cousine Johanna nach Tirol flüchtet.

Ob Peter jetzt tot ist, weiß die Ich-Erzählerin Marie aber nicht. Die Johanna hat das ideale Versteck, sie wohnt nämlich in einer kleinen Hütte in den Bergen – fernab jeder Zivilisation – und ernährt sich von dem, was die Natur hergibt bzw. von der Milch ihrer Ziegenherde. Bloß, die etwa gleichaltrige Johanna ist gar nicht begeistert von der neuen Gesellschaft…

Wie sich die beiden Frauen „zusammenraufen“ und dabei ihre jeweilige Lebensgeschichte aufarbeiten – sehr schwierig, weil Johanna eine Einsiedlerin ist und fast nichts spricht und Maria doch irgendwie noch ein Szene-Stadt-Girl – macht den Reiz dieses Romans aus, der psychologisch durchdacht ist. „Wild wuchern“ hebt sich so wohltuend von der Fülle jener Romane ab, in denen irgendeine Städterin am Land Selbstverwirklichung erleben möchte und natürlich kläglich scheitert.

Katharina Koller: Wild wuchern. Penguin Verlag, 206 Seiten, € 22,70