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„Volksvernichtung oder Meine Leber ist sinnlos“ im Akademietheater

Der in Graz geborene Werner Schwab brachte am Beginn der 90er-Jahre einen völlig neuen Ton auf die Bühnen. Entdeckt wurde er von Hans Gratzer, der 1991 am Schauspielhaus „Übergewicht, unwichtig: Unform“ herausbrachte. (Ich interviewte Schwab vor der Premiere und erlebte einen völlig anderen Dichtertypus – Schwab war sehr groß und man sah ihm an, dass er zeitweise seinen Lebensunterhalt mit Holzfällen verdient hatte und eigentlich Bildhauer werden wollte). Mit nur 35 Jahren starb er 1994 an einer Alkoholvergiftung. Aber es gab Jahre, in denen seine Dramen zu den meistgespielten an deutschen Theatern gehörten.

Im Akademietheater inszenierte die junge Regisseurin Fritzi Wartenberg jetzt sein Radikalkomödie (Untertitel) „Volksvernichtung oder Meine Leber ist sinnlos“ im Akademietheater in einem bemerkenswerten Setting – gespielt wird nämlich senkrecht. Und so turnt gleich zu Beginn Stefanie Reinsperger als grenzwertiger Künstler Hermann Wurm vom Hocker zur Spüle und wieder zurück, während seine Mutter Maresi Riegner auf der Fauteuillehne strickt. Alles ohne Seil! Die Akrobatik ist aber nicht sinnlos (wie die Leber im Titel), sondern zeigt uns eine ins Ordinäre und Unverblümte gekippte Welt, die ein wenig an Nestroys „Zu ebener Erde und erster Stock“ erinnert. Denn auch bei Schwab gibt es neben der kleinbürgerlichen Familie Kovacic auch die „bessere“ Frau Grollfeuer, die am Ende die Hausgemeinschaft – das Volk – vernichtet. Oder zumindest davon träumt, denn schließlich gibt es dann doch noch ihr peinliches Geburtstagsfest als Replik. Franziska Hackl spielt ihre Volksvernichtungs-Brandrede ohne große Gefühle und dadurch aber auch mit noch größerer Wirkung. Es tut gut, wieder einmal den ganz eigenen Schwab-Ton zu hören, der oft als Fäkaliendeutsch verunglimpft wurde. An den besten Stellen ist unverkennbar, dass sich da jemand an dem meist im Untergrund schwelenden Hass in unserer Gesellschaft abarbeitet. Das erinnert an Qualtinger und Bronner und eben auch an Nestroy. Ein bewegender Theaterabend. Foto: Tomy Hetzel/Burgtheater

Infos und Karten: burgtheater.at

Das Burgtheater spielt eine Bühnenfassung von Thomas Bernhards Roman „Auslöschung“

In seinem letzten und umfangreichsten Roman „Auslöschung. Ein Zerfall“ lässt Thomas Bernhard den Professor Franz-Josef Murau aus Anlass des Begräbnisses seiner Eltern und seines Bruders aus Rom in seinen Geburtsort Wolfsegg in Oberösterreich zurückkehren. Der Prosatext ist Muraus Abrechnung mit seiner Herkunft, die Eltern beherbergten auf ihrem schlossähnlichen Anwesen sogar noch nach dem Krieg Nazi-Verbrecher, die sich verstecken mussten. Ein nicht wahnsinnig originelles Setting.

In der Bühnenfassung der schwedischen Regisseurin Therese Willstedt und Jeroen Versteele spielen vier Damen (Lilith Häßle, Alexandra Henkel, Andrea Wenzl und Ines Marie Westernströer) und vier Herren (Aaron Blanck, Norman Hacker, Seán McDonagh und Jörg Ratjen) in braunschattiertem Outfit den Erzähler und stehen dabei auf einer bühnenfüllenden riesige roten Treppe (Bühnenbild: Mårten K. Axelsson). Die acht Stimmen geben dem Text Farbe, eine Art Dramatik entsteht dabei freilich nicht – auch wenn zeitweise eifrig mit Requisiten wie Geweihen, Kostümen und Musikinstrumenten agiert wird. Warum ein Roman eines Autors auf die Bühne muss, der nicht wenige Stücke hinterließ, kann dieser Abend nicht schlüssig erklären, wenngleich bei der Premiere die Leistungen des Ensembles zurecht heftig beklatscht wurden. Das gerade jetzt wieder in Oberösterreich auf einem Bauernhof obskure Schießübungen aufgeflogen sind, setzt dem Thema allerdings schon eine eigene Pointe. Foto: Tommy Hetzel/Burgtheater

Infos & Karten: burgtheater.at

Der Ohrenzeuge – Zum 120. Geburtstag des Nobelpreisträgers Elias Canetti

Der Justizpalastbrand 1927 soll Elias Canetti zu seinem philosophischen Hauptwerk „Masse und Macht“ angeregt haben. Der zu dieser Zeit noch völlig unbekannte Autor lebte damals in Wien. Geboren als Nachfahre spanischer Juden in Bulgarien studierte an der Wiener Universität Chemie, obwohl ihn das Fach nicht wirklich interessierte. Auch in seinem in Wien spielenden großen Roman „Die Blendung“ (unbedingte Leseempfehlung!) spielt das Feuer eine große Rolle. Der Sinologe Kien verbrennt inmitten seiner geliebten Bibliothek.

Canettis Werk kann von den zentralen Ereignissen und Personen des 20. Jahrhunderts eben nicht getrennt werden. Der Hanser Verlag bringt jetzt – zum 120. Geburtstag Canettis – die ersten zwei Bände einer neuen kritischen Werkausgabe, nämlich „Der Ohrenzeuge“ und „Die gerettete Zunge“ heraus. Canettis umfangreiche Autobiografie umfasst 4 Bände – in „Die gerettete Zunge“ erzählt er von den ersten Jahren seines Lebens in Rustschuk, Manchester, Zürich und Wien – im Anhang wurden Texte aufgenommen, die Canetti nicht in der Erstausgabe publizieren wollte. Der Autor erweist sich darin als ein großer Erzähler, wobei seine nicht unerhebliche Selbstverliebtheit manches maximal subjektiv erscheinen lässt. Canettis Autobiografie war zudem sein wahrscheinlich größter Bucherfolg und lässt sich auch heute noch mit viel Gewinn lesen. Die 50 Charaktere, die Canetti in „Der Ohrenzeuge“ beschreibt, zeigen den Autor als Satiriker in der Nachfolge von Karl Kraus, den er in seinen Wiener Jahren sehr bewunderte. In dem 1975 erstmals erschienenen Werk porträtiert er Typen von Zeitgenossen anhand ihrer prägenden Eigenschaft – „Namenlecker“ könnte man heute als „promigeil“ bezeichnen, Menschen, die gerne nationale Denkmäler anpinkeln, heißen bei ihm „Heroszupfer“. Auch das lässt sich mit einem Schmunzeln konsumieren.

Die Vorteile einer kritischen Ausgabe kommen vor allem bei „Die gerettete Zunge“ zum Tragen, denn die Anmerkungen sind umfangreich und wichtig, denn hier werden etwa auch Persönlichkeiten erklärt, die heute niemandem mehr geläufig sind.

Elias Canetti: Das Gesamtwerk, Zürcher Ausgabe  

Band 4: „Der Ohrenzeuge – Fünfzig Charaktere“, herausgegeben von Heide Helwig,

Hanser, 208 Seiten, € 37,95

Band 5: „Die gerettete Zunge – Geschichte einer Jugend“, herausgegeben von Sven Hanuschek und Kristian Wachinger, 540 Seiten, € 48,95

Der perfekte Täuscher – Jean-Noël Orengos Albert-Speer-Roman „Der Architekt und sein Führer“ 

Albert Speer war der einzige aus dem innersten Kreis von Adolf Hitler, der in Nürnberg der Todesstrafe entging. Dem Liebling des Führers und Rüstungsminister wurde tatsächlich geglaubt, dass er von der maschinell betriebenen Judenvernichtung nichts gewusst hatte. Historikerinnen und Historiker haben das längst widerlegt, doch Speer rettete sich durch seine Beredsamkeit und seinem höflichen Auftreten nicht nur vor der Schlinge – er wurde nach seiner Entlassung aus Spandau 20 Jahre danach sogar zum Liebling der Medien und wohlhabender Millionenautor.

In Frankreich wurde nun der jüngste Roman von Jean-Noël Orengo über Albert Speer „Der Architekt und sein Führer“ nicht nur für den Prix Goncourt nominiert, sondern auch zu einem Bestseller. Orengo faszinierte vor allem, dass Speer zeitlebens die Deutungshoheit über seine selbst zurechtgezimmerte Geschichte behielt. Und natürlich, dass das Monstrum Hitler noch immer Menschen zu faszinieren vermag. Während früher gescheiterte Herrscher aus den Annalen sorgsam getilgt wurden, gilt für die Moderne der Star-Bonus. Die Millionen Opfer sind vergessen, die Täter werden oft mit einem wohligen Schauer betrachtet.

„Der Architekt und sein Führer“ erzählt, wie Speer zu Hitlers Favoriten wurde. Beim ersten großen Nürnberger Parteitag schuf er die perfekte Bühne für sein Idol. Als Architekt fühlte er sich mit dem gescheiterten Künstler Hitler verwandt und auch der Führer war von Speers Ruinenästhetik begeistert – die neuen Gebäude für die Hauptstadt Germania – das frühere Berlin – sollte so gebaut werden, dass sie schöne Ruinen abgeben. Auch historisch bewanderte Leser können dabei Neues erfahren. Etwa dass das Dritte Reich erst sehr spät auf Kriegsproduktion umstellte und Goebbels Totaler Krieg tatsächlich etwas bedeutete. Als Herr über die Rüstungsindustrie und einem Heer von Zwangsarbeitern stand Speer mittendrin. Im Nachkriegsdeutschland wurde Speer dann wieder zum Star und schaffte es sogar, seine erste Biografin, eine Wienerin mit jüdischer Herkunft, die es geschafft hatte, vor Hitler nach England zu fliehen, fast bis zuletzt zu täuschen. Ein Buch auch über Medienmacht, das nachdenklich macht.

Jean-Noël Orengo: „Der Architekt und sein Führer“ Aus dem Französischen von Nicola Denis. Rowohlt, 272 Seiten, € 25,95

Herkunft & Zugehörigkeit

Der Schriftsteller Kurt Palm diskutiert am 13. November im Depot über sein Aufwachsen als Sohn von Flüchtlingen und sein aktuelles Leben in Neubau

In seinem vielbeachteten Roman „Trockenes Feld“ erzählt der Autor, Filmemacher und Regisseur Kurt Palm über seine Eltern, die 1943 auf einem Pferdewagen aus Suhopolje in Kroatien fliehen mussten. Als sogenannte Donauschwaben waren sie in ihrer Heimat nicht mehr des Lebens sicher. Im oberösterreichischen Hausruckviertel taten sie alles, um nicht mehr an ihre Herkunft erinnert zu werden – auch Kurt Palm erfuhr davon erst sehr spät. Der studierte Germanist war dann in Wien Theater- und Filmregisseur und schrieb neben erfolgreichen Krimis („Bad Fucking“) auch Sachbücher über Joyce und Stifter. Bekannt wurde er auch als Produzent von Hermes Phettbergs „Nette Leit Show“. Seit Jahrzehnten lebt er in Wien Neubau.

An dem Abend wird Kurt Palm mit Helmut Schneider (Wienlive) auf Einladung der Kulturgemeinde Neubau über seine Herkunft und Identität als geborener Oberösterreicher, Wiener und Bewohner des 7. Bezirks sprechen. (Foto: Stefan Diesner)

13. Oktober, 18.30 Uhr

Depot, Breite Gasse 3, 1070 Wien

„Herkunft und Zugehörigkeit“

Kurt Palm in Diskussion über seinen Roman „Trockenes Feld“

Bei der Kriminacht am 23. Oktober lesen mehr als 30 Thrillerautor*innen in ebenso vielen Kaffeehäusern

Das vormagazin präsentiert die Sieger*innen des Kurzkrimi-Wettbewerbs.

Nicht weniger als 44 Leser*innen schickten uns ihren Kurzkrimi, in dem auch der heurige Wiener Jahresregent Johann Strauss vorkommen sollte. Die Jury des vormagazins wurde bei der Auswahl der Texte, die in einem eigenen Buch veröffentlicht werden, von den beiden Krimistars Edith Kneifl sowie Andreas Pittler unterstützt. Bei der Kriminacht am 23. Oktober werden die Gewinner*innen ihre Texte -lesen und das vormagazin Kurzkrimi-Buch wird mit insgesamt zwölf Kurzkrimis präsentiert – ab 18.30 Uhr in der Prater Alm, Prater 71b.

Gäste auch aus England und Polen. Neben heimischen Krimistars reisen auch der britische Krimistar Martin Walker und der polnische Autor Tomasz Duszyński an. Mit dabei sind auch alle Nominierten des Leo-Perutz-Preises, der wieder im Rahmen der Kriminacht vergeben wird (Petra Hartlieb, Gudrun Lerchbaum, Annemarie Mitterhofer, Thomas Raab und Ursula Poznanski). Publikumslieblinge wie Patrick Budgen und Joesi Prokopetz sind heuer ebenfalls wieder dabei. Neu im Kriminacht-Team ist der Comedian, Influencer und Podcaster Michael Buchinger, der einen Krimi über einen gescheiterten YouTuber geschrieben hat.  Neu als Krimiautor ist zudem der Literat Daniel Wisser, der unter dem Pseudonym Simon Ammer in „Auf dem Gipfel ist Ruh’“ skurril-ironisch die Familie eines Boulevardzeitungsmoguls beschreibt, der ums Leben gekommen ist. Ebenfalls unter Pseudonym (Flores & Santana) veröffentlicht das bekannte Buchhändler*innen-Paar Rotraut Schöberl und Erwin Riedesser ihre Lanzarote-Krimis. Die Kriminacht dankt an dieser Stelle ihren Partnern Stadt Wien und Wirtschaftskammer Wien.

INFO: kriminacht.at

100 Jahre später und jetzt – Ian McEwans Dystopie „Was wir wissen können“

Ausgerechnet ein Literaturwissenschaftler erzählt im neuen Roman des englischen Bestsellerautors Ian McEwan („Amsterdam“, „Der Trost von Fremden“) „Was wir wissen können“ – und das auch eher beiläufig – 2119 aus dem Blick von 100 Jahren später von den Katastrophen des 21. Jahrhunderts. Diverse Kriege und Überschwemmungen machten die Welt nicht eben besser, aber immerhin gibt es Heilung für Krankheiten wie Alzheimer und Drogen für den Seelenfrieden. Der Schreibprofi wusste wohl, dass diese Dystopien längst auserzählt sind und schrieb daher ein Buch über ein absolutes Orchideenthema: Der Dichter Francis Blundy soll Anfang des 21. Jahrhunderts beim Geburtstagsessen für seine Frau Vivian einen Sonettenkranz vorgelesen haben, der danach als perfekte Dichtung ebenso mythisch wie unauffindbar geworden ist. Im ersten Teil des Romans forscht Thomas Metcalfe mehr und mehr besessen nach diesem Gedicht, wobei er sich immer mehr mit Bundys Ehefrau Vivien fast krankhaft identifiziert. Am Ende findet er tatsächlich eine Zeitkapsel mit einem Text von Vivian, die damit endgültig zu McEwans Hauptperson wird. Dieser Text – eine Art Tagebuch – bildet den zweiten und eigentlich interessanteren Teil. Im Zentrum steht Vivians Beziehung zu ihren Männern und Liebhabern – die Literaturwissenschaftlerin war nämlich in erster Ehe mit dem liebevollen Geigenbauer Percy verheiratet, der leider früh an Alzheimer erkrankte. Vivian findet in Blundy und seinem Schwager Harry nicht nur sexuelle Zerstreuung, sondern kann mit den beiden auch ihren intellektuellen Hunger stillen, denn Percy interessiert sich nicht für Literatur. Aus dem Liebesverhältnis von Vivien mit Blundy wird schließlich nach einem naheliegenden Verbrechen ein düsteres Bündnis.

„Was wir wissen können“ ist bestimmt nicht der beste Roman des Autors, man wir schnell müde, die x-te Dystopie zu lesen – das Genre scheint in letzter Zeit viel zu strapaziert worden zu sein. Am gelungensten ist die Schilderung des akademischen Freundeskreises um Blundy, den wir als etwas gockelhaften Intellektuellen mit einem kaum gezähmten Hang zur Überheblichkeit erleben. Witzig ist der Blick auf die Gegenwart aus der Perspektive der Zukunft allemal. Die Eheprobleme des Erzählers im ersten Teil scheinen freilich zu klischeehaft. Und Vivien? Nun, im ersten Teil erscheint sie als selbstlose Frau, die ihre wissenschaftliche Karriere für ein Genie opfert. Im zweiten Teil – in dem sie selbst spricht – wird ihr Bild differenzierter. McEwan zeichnet einen Menschen, der in seinen Leidenschaften und Vorstellungen gefangen ist – so wie wir alle eben. Und das ist dann wieder beste Literatur.

Ian McEwan: Was wir wissen können. Aus dem Englischen von Bernhard Robben, Diogenes, 470 Seiten, € 28,80

Ein Turm aus Träumen und Erinnerungen – Fergus Sweeneys Roman „Jimmy’s Brilliant Tower“

In Jimmy’s Brilliant Tower entwirft Fergus Sweeney ein poetisches Mosaik aus Erinnerung, Sehnsucht und magischer Wirklichkeit. Der Roman begleitet einen Suchenden auf einer emotional aufgeladenen Reise durch innere und äußere Landschaften – bewegend, mystisch und tief menschlich.

Wer einen Roman mit durchgängiger Handlung erwartet, wird enttäuscht werden. Wer sich aber darauf einlässt, mit den Figuren eine Reise mit unbestimmtem Ausgang zu wagen, wird es nicht bereuen.

Das literarische Debut des Journalisten und Musikers Fergus Sweeney Jimmy’s Brilliant Tower ist ein traumreicher Roman, der den Leser durch Zeit und Raum zieht, indem es Erinnerung, Staunen, Verlust und Sehnsucht miteinander verwebt. Die Erzählung folgt „Jimmy“ – einem Suchenden mit einem Verlangen nach etwas Transzendentalem, was er sich als seinen „brillanten Turm“ vorstellt – eine Metapher, die so real und greifbar wird wie die Menschen, Orte und magischen Momente, die sein Leben bevölkern. Sweeneys Prosa ist lyrisch, erinnert an Musik, manchmal spärlich, manchmal reichhaltig strukturiert, und beschwört sowohl die Weite der Wüste als auch die Einsamkeit des Ozeans herauf. Er wechselt mühelos zwischen der Unruhe der offenen Straße und dem Trost der tiefen Landschaft. Da gibt es „Haie mit Füßen“ und „Orte, wo Palatschinken wie eine Fußnote zu einer Lebensweise aussehen, die niemand versteht“. Was das Buch besonders fesselnd macht, ist sein Unterton des Mystischen und Magischen: Ereignisse, die fast halluzinatorisch erscheinen, schimmernd am Rand der Realität, aber verankert in menschlichen Emotionen – Hoffnung, Bedauern, Begehren. Die Struktur, nicht-linear, kann desorientieren, verstärkt jedoch das Thema des Buches: dass die Lebensreise keine gerade Linie ist, sondern ein Gewebe aus Träumen und Erinnerungen. Obwohl einige Handlungsstränge unvollendet bleiben, möglicherweise absichtlich, macht die emotionale Wahrhaftigkeit des Romans allfällige Mehrdeutigkeit wett. Insgesamt ist Jimmy’s Brilliant Tower eine eindringliche, wunderschöne Meditation über Bestrebungen, Zugehörigkeit und die Form unserer inneren Landschaften. Das Buch ist online (Link zu https://www.amazon.de/Jimmys-Brilliant-Tower-Fergus-Sweeney/dp/B0FM7RQK6N) und in der Buchhandlung phil (1060 Wien, Gumpendorfer Strasse 10-12) verfügbar. 

Von Ursula Scheidl

Wüstendramen – T. C. Boyles toxische Dreiecksgeschichte „No Way Home“

Die größten Tragödien spielen sich vielleicht doch unter stinknormalen Zeitgenossen ab. In seinem neuen Roman „No Way Home“ erzählt T. C. Boyle aus der Sicht eines Arztes in Ausbildung aus L.A. (Terence), einer unter prekären Verhältnissen lebenden Rezeptionistin eines Krankenhauses einer Kleinstadt bei Las Vegas (Bethany) und eines motorradfahrenden Schönlings, der sich zum Lehrer herablässt (Jesse). Mehr braucht es nicht, um eine toxische Mischung herzustellen, in der alle schuldig werden und anderen weh tun wollen.

Terence erbt das Haus seiner Mutter in Boulder City, einem Städtchen am Rande des Hoover-Staudamms. Als Städter hasst er die Wüste und will das Haus schnell loswerden, doch in einer Bar trifft er auf die sehr attraktive Bethany, die nach der Trennung von ihrem Freund Jesse gerade obdachlos ist und die kurzerhand in das Haus einzieht – gegen den ausdrücklichen Wunsch von Terence, der an seinen Arbeitsplatz in L.A. zurück muss. Als Leser weiß man sofort, dass die beiden nicht zusammenpassen und Dramen bevorstehen werden. Denn Terence ist ganz Arzt, pflichtbewusst und vielleicht etwas verklemmt. Er versucht sogar einer Obdachlosen zu helfen, die alles tut, um nicht in ärztlicher Behandlung zu geraten. Bethany liebt den Müßiggang und lange Barbesuche und deshalb passt sie auch besser zu dem impulsiven Möchtegern-Schriftsteller Jesse, der in seiner Motorradkluft überall die Blicke auf sich zieht. Drei Jahre sind sie zusammen, aber auch nach der Trennung können sie schwer voneinander lassen. Als Jesse dann Terence in den Bergen einen Schubs gibt, als er mit dem Bike vorbeibraust, zieht sich dieser eine schwere Verletzung zu, die ihn für Monate in seiner Mobilität behindert. Doch Terence ist auch kein Waisenknabe und so drängt er Jesse mit dem Auto von der Fahrbahn ab, sodass dieser zu Sturz kommt. Aug um Aug, Zahn um Zahn im 21. Jahrhundert. Sogar der Hund von Terence Mutter wird zur Waffe.

Geschickt erzählt Boyle so, dass wir die drei Figuren verstehen, aber natürlich nicht entschuldigen können. Am unsympathischsten ist Jesse, der Bethany nicht nur stalkt, sondern sie einmal sogar vergewaltigt. Am interessantesten vielleicht Bethany, die ihre Geburtsstadt liebt und von ihren Gewohnheiten nicht loskommt. Und Terence scheint eben manchmal mit seinem Schwanz zu denken. Beim Schluss muss man dann unwillkürlich an Sartres berühmten Satz „Die Hölle, das sind die anderen“ denken.

Witzig ist in diesem Roman auch, die Welt aus der Sicht eines Arztes zu sehen, der bei seinen Mitmenschen natürlich überall Krankheiten wahrnimmt – einer von Boyles Söhnen ist übrigens Arzt. Einen guten Tipp hat der Roman auch parat: Man sollte niemals jemanden so schubsen, dass er hinfällt, denn das kann böse enden.

T. C. Boyle: No Way Home. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Hanser, 382 Seiten, € 28,80

Zauberhaft & spannend – Stefan Slupetzkys Roman „Nichts wie weg“

Zauberhaft & spannend – Stefan Slupetzkys Roman „Nichts wie weg“

Sowas kann nur Stefan Slupetzky: Nämlich mühelos und elegant eine Wiener Zuckerbäckerin, die nach einer Tumorentfernung plötzlich ihren Geruchssinn und somit ihre Arbeitsbasis verliert, und einen begabten finnischen Drucker, der sein Talent zum Geldfälschen für seinen Chef einsetzt und ebenso groß wie schlecht riechend ist, zusammenzubringen. „Nichts wie weg“ ist eine Geschichte, die Leser an das Gute im Menschen und in der Welt glauben lässt. Im Nachwort wird das durch den Autor sogar begründet: „Je schlechter der Zustand der Welt, desto größer die Freude am Schreiben.“  Und diese Freude am Fabulieren merkt man Slupetzky auch in jeder Zeile dieses Romans, den man nicht mehr weglegen kann, ehe er zu Ende gelesen ist, auch an. Denn natürlich ist die Story nicht nur eine ungewöhnliche Liebesgeschichte, sondern irgendwie auch ein Krimi mit Knastszenen und albanischen Killern.

Vera Baum heißt die leidenschaftliche Kuchenbäckerin, die gleich zu Beginn sofort nach dem Verlust ihres Geschmackssinns auch ihren Mann in einer eindeutigen Situation mit ihrer besten Freundin erleben muss. Sie will nichts wie weg und verlangt bei der Scheidung bloß eine kleine Südseeinsel, die ihr Mann als Immobilienmakler der besonderen Art im Angebot hat. Blöd nur, dass die aufgrund der Klimaerwärmung bereits im Versinken ist. Doch just da begegnet sie Omni, der in Wien seine handwerklich schlecht gemachten Blüten wieder in Besitz nehmen will. Die Geschichte erlebt aber noch ganz viele Wendungen. Beste Unterhaltung, um Klassen besser als momentan im Streaming angeboten wird.

Stefan Slupetzky: Nichts wie weg. Picus, 254 Seiten, € 24,-